Читать книгу Freunde, Feinde, Parteifreunde - Christian Toepffer - Страница 7
3. Tu was
ОглавлениеNach solchen Interviews dauert es immer eine Zeit lang, bis Peter Wegners Spannung weicht. Solange ist er sich auch nicht sicher, wie er gewirkt haben könnte. Mike Richter kommt heran, sie verabschieden sich von Gabriele Wüllner. Beide sehr höflich, Richter lässt Wärme spüren. Wegner verwickelt die Kameraleute und den Bildmischer noch in ein kurzes technisches Gespräch, es sei doch wichtig, einmal hinter die Kulissen, d.h. hier die Aufnahme- und Übertragungstechnik zu schauen.
Im Wagen sagt Richter: „Nicht schlecht, Friede, Freude, Eierkuchen für die Medien, solange es allgemein blieb, aber als es ans Eingemachte ging, hast du sie kalt abblitzen lassen.“
„Danke, aber wir müssen natürlich abwarten, was die veröffentlichte Meinung dazu sagt. Aber wir werden mit Plech und der Elektra leben müssen, es hat keinen Sinn, die Stimmung schon im Vorfeld zu vergiften. Dabei mache ich mir Sorgen um das EWERK, aber ich fürchte, wir können nichts ändern. Mit den Ellenbogenmethoden am Rand des Legalen sägen die Plechs langfristig an dem Ast, auf dem sie sitzen. Das gilt übrigens auch bei kleinen Dingen.“
Während Richter versucht, über Handy und Notebook Näheres über die Aktion gegen den Brennpunkt zu erfahren, schimpft Wegner über Firmen, die Klingen anbieten, für die es gar keine Rasierer mehr gibt. Der Fahrer mischt sich ein: „Es könnte doch sein, Herr Ministerpräsident, dass die Firma ihre Kunden, die das alte Modell noch haben, weiter mit den dazu passenden Klingen beliefern will.“ Wegner knurrt: „Schon möglich.“ „Manchmal kann man Auslaufmodelle doch noch über das Internet finden. Wenn Sie Zeit haben, versuchen wir das vielleicht mal.“
Wegner findet keine Gelegenheit, auf diesen pragmatischen Vorschlag einzugehen. Seine Sekretärin meldet sich, sie hätte mit Frau Professor v. Dornberg wegen eines Termins gesprochen. Ob es sehr dringend sei? Die Zahnklinik habe einen Tag der offenen Tür für Kinder, der sie sehr in Anspruch nehme. Wegner hat seine Zahnschmerzen inzwischen vergessen. Ein Termin am späten Nachmittag oder Abend muss reichen; vielleicht hätten sie danach noch Zeit, zusammen zu essen. Dafür würde er auch gern das abendliche Rudern streichen. Einen Augenblick erwägt er, stattdessen während der Mittagspause rudern zu gehen. Aber Mittagspausen sind keine Freizeit für Politiker, bei angespannter politischer Lage darf man sich nicht bei privaten Vergnügungen erwischen lassen, und die politische Lage ist eigentlich immer ernst. Am besten würde er wohl mit Annette selber sprechen. Er ruft in der Zahnklinik an, es dauert eine Weile, bis sie ans Telefon kommt „Ich weiß schon, dass du erst später Zeit hast, so lange werde ich es aushalten. Hoffentlich geht es ohne Betäubung, ich habe mir vorgenommen, einiges auszuhalten, um danach ohne widerlichen Geschmack im Mund mit dir essen zu gehen, das heißt natürlich, wenn du Lust darauf hast.“ „Die habe ich bestimmt, die Kinder und daneben der übliche Betrieb, das strengt schon an. Aber du wirst ja auch einen Kampftag gehabt haben. Ich freue mich auf den Abend mit dir, ich kann eine Aufmunterung gebrauchen.“ Das klingt ganz verheißungsvoll.
An einer Parkbucht auf der anderen Straßenseite baut der türkische Blumenhändler, bei dem Wegner manchmal anhalten ließ, um Silke Blumen mitzubringen, seinen Stand auf. Heute Abend würde es dafür wohl zu spät werden, besonders, wenn er bei Annette weiterkäme. Er nimmt sich vor, die Blumen in den nächsten Tagen nachzuholen.
Das Handy klingelt wieder, es ist Silke, sehr aufgeregt. „Endlich kann ich dich erreichen.“ „Während des Interviews hatte ich mein Handy natürlich ausgeschaltet.“ „Gertrud braucht dich dringend, sie ist wegen einer fehlerhaften Behandlung angezeigt worden, die Patienten beklagen sich heute eben über alles. Und irgendwas bleibt immer hängen. Die Polizei ermittelt schon. Vater würde sich im Grab umdrehen, damals hätten die sich das gar nicht erst getraut. Du musst was tun.“ Silkes Vater war in den Achtzigern Ministerpräsident gewesen. Er hatte nicht umsonst den inoffiziellen Titel Pate getragen.
Gertrud ist ihre gemeinsame Tochter. Sie hatte sich, d.h. Silke hatte sie vor einigen Monaten in eine internistische Praxis eingekauft. „Ich versuche gleich, sie zu erreichen.“ Gertrud gibt sich am Telefon sehr gefasst, sie muss das von ihm haben, mit äußerem Druck wächst die Beherrschung. „Vor einigen Wochen kam eine Kenianerin zu mir in die Sprechstunde. Sie arbeitete als Au-Pair bei einer Familie und gab dazu noch Englisch-Unterricht in einem Kindergarten. Gegen Rheuma hatte sie vom Hausarzt der Familie Cortison verschrieben bekommen. Sie bekam dann Husten und Halsweh, was nicht überraschend ist, weil Cortison die Immunabwehr herabsetzt. Nachdem der Hausarzt in Urlaub ging, kam sie zu mir. Um sicher zu gehen, ließ ich sie röntgen und machte einen TBC-Test, beides war unauffällig. Ich verschrieb ihr ein Antibiotikum, das wirkte, aber nun bekam sie Bauchschmerzen, offensichtlich war sie gegen dieses und dann auch andere Mittel allergisch. Weil das hochgefährlich wurde, mussten die Antibiotika abgesetzt werden, woraufhin die alten Symptome wieder kamen. Und nun zeigten die Tests und die Röntgenbilder auch klar eine Tuberkulose. Die habe ich sofort dem Gesundheitsamt gemeldet und die haben dann alle Kontaktpersonen untersucht. Leider hatten sich inzwischen einige Kinder aus dem Kindergarten angesteckt. Die Eltern, es handelt sich um einen Elite-Kindergarten, International Preschool, haben Anzeige erstattet, das Gesundheitsamt untersucht und die Polizei ermittelt. Die waren heute in aller Frühe hier und haben die Krankenakten mitgenommen.“
In diesem Moment denkt Peter Wegner zurück an die Zeit, die manche die 'gute alte' nannten, in der Schwarze, damals noch Neger genannt, in Afrika blieben und kleine Kinder auf der Straße Ball spielen konnten und kein Englisch eingetrichtert bekamen. Aber das ist vorbei, sie leben hier und jetzt. „Was genau wird dir denn vorgeworfen?“ „Wenn der Hausarzt oder dann ich gleich die TBC diagnostiziert hätte, wären vielleicht einige Ansteckungen unterblieben. Die TBC ist nun einmal im Frühstadium unauffällig. Es tut mir leid, dass ich es nicht früher gemerkt habe, einen Vorwurf kann ich mir aber nicht machen. Ich habe auch den Eindruck, dass das Gesundheitsamt das ähnlich sieht. Bei Kindern reicht es auch meistens, die Krankheit einige Monate lang mit Antibiotika zu behandeln.“ „Das sich die Eltern sorgen, kann ich ja verstehen, aber was wollen die mit der Anzeige erreichen?“ „Genugtuung, wenn nicht Rache. Sie haben High-End bestellt und bekommen etwas Prolliges geliefert. Für tausend Euro im Monat Krankheiten aus afrikanischen Slums. Vermutlich gehören diese Leute zu deinen Wählern.“ Wegner atmet etwas scharf ein und beschließt, diesen Faden aufzunehmen: „Kennen wir da etwa jemanden?“ „Die Kenianerin war Au-Pair bei einer Familie Gall. Frau Gall kennst du vielleicht, sie ist Vorsitzende von Women's Solidarity, das ist so eine Organisation, die Frauen in Entwicklungsländern hilft. Auf dieser Schiene ist die junge Frau auch hierher gekommen. Sie hat mich neulich aus dem Sanatorium angerufen. Sie fühlt sich ausgegrenzt. Auch nach ihrer Entlassung, obwohl sie niemanden mehr anstecken kann, will sie keiner mehr haben, weder die International Preschool noch die Galls.“ „Von der Frau habe ich gehört, die wählt mich bestimmt nicht. - Deine Mutter meint, ich müsse eingreifen, sie hat da etwas archaische Vorstellungen. So etwas kann man heute nicht mehr diskret erledigen, es kommt alles heraus. Und es würde nur wie ein Schuldeingeständnis wirken. So wie du das schilderst, scheint es mir auch völlig unnötig. Wenn es doch noch brenzlig werden sollte, verschaffen wir dir einen guten Anwalt.“ „Ihr braucht euch nicht zu sorgen, ich fühle mich auch eher geärgert als bedroht.“ „Halt den Kopf hoch, wir lieben dich.“
Peter Wegner hat sich abgewöhnt, seine Wähler lieben zu müssen. Die der anderen Parteien schätzt er allerdings noch weniger. Manchmal schilt er sich einen Misanthropen. Väterlicherseits stammt er von Hafenarbeitern ab, sein Großvater hatte sich zu einem selbständigen Barkassenführer, sein Vater zu einem Unternehmer hinaufgearbeitet. Er ist der erste Akademiker in seiner Familie. Im Johanneum, dem angesehensten Gymnasium der Stadt, hatte er die Schulbank mit Kindern aus den führenden Kreisen geteilt. Es wurde hart gesiebt, nur die Hälfte der Anfänger erreichte das Abitur ohne sitzen zu bleiben. Wer es nicht schaffte, ging, wenn es sich die Eltern das leisten konnten, auf eine Privatschule. Auf die sah man herab: reiche Dumme, die einmal ihr Erbe verfrühstücken würden. Inzwischen haben die Bildungspolitiker, auch die aus seiner Partei, aber die Linken erst recht, die öffentlichen Schulen wieder und wieder reformiert. Jeder soll mitgenommen werden. Trotzdem pflanzt sich ‚unten’ das Prekariat durch vorzeitigen Schulabbruch weiter fort, und ‚oben’ schickt man seine Kinder auf Privatschulen. Einfach diese und nicht etwa irgendeine besondere Begabung sollen den Kindern einen Vorteil verschaffen; eine Klassen- wenn nicht gar Kastengesellschaft. Wegner genießt es, ‚oben’ angekommen zu sein, Einfluss, wenn nicht gar Macht zu haben mit allem zugehörigen Luxus. Aber er kann keine besondere Befriedigung darin finden, dass ihn das von der Menge trennt. Er hat seine Chancen genutzt, das soll jeder andere auch können.
Die Gall sitzt mit Silke in irgendeinem Beirat von irgendeiner Charity und nervt, weil sie grundsätzlich zu spät kommt, dann Kusshändchen in die Runde wirft, sich setzt, ihr Schminktäschchen herausholt, sich die Lippen nachzieht und dann verlangt, über das bis dahin Gesagte informiert zu werden. Dass sie von ihrem vormaligen Schützling nichts mehr wissen will, passt in das Bild, das er von ihr hat. Da gibt es zu viele, die Solidarität anderer anmahnen, sich aber zurückhalten, wenn sie selber gefordert werden. Überhaupt diese populären Wieselworte: Solidarität, soziale Gerechtigkeit, das sind doch nur Umschreibungen dafür, dass man bei der allfälligen Umverteilung etwas abkriegen will.
Er darf sich durch das Private nicht länger ablenken lassen und muss Silke beruhigen. „ Ich habe mit Gertrud gesprochen, so wie sie das schildert, erscheint mir die Sache nicht dramatisch.“ „Du hoffst das doch nur und lehnst dich zurück. Man muss aber die Abläufe beherrschen und unter Kontrolle behalten, das war das Prinzip meines Vaters und damit war er erfolgreich.“ „Auch nicht immer, sonst wäre er ja wohl nicht abgewählt worden. Die Zeiten haben sich geändert, nichts bleibt mehr unter der Decke, schon irgendwelche Anfragen von meiner Seite würden nur Schaden anrichten. - Mir kommt da eben eine Idee: Ich habe den Eindruck, dass die Kenianerin ein gutes Verhältnis zu Gertrud hat, aber nicht mehr zu denen, die sie fallen gelassen haben. Die Leute von der International Preschool und diese Gall sollten die Geschichte besser niedriger hängen, sonst werden wir dafür sorgen, dass sie ihnen auf die eigenen Füße fällt: Wo bleibt die Solidarität usw. Mike soll da mal vorsichtig tätig werden.“ „ Ja, immer vorsichtig, das ist so deine Art.“ „Übrigens, ich werde heute abend vermutlich spät kommen, du brauchst nicht auf mich zu warten.“ Das ist so gewöhnlich, dass Silke nicht einmal fragt, warum.
„Kann ich helfen?“ fragt Mike freundlich. „Danke, ich werde auf dich zukommen, wenn es nötig werden sollte. Finde mal was über die Familie Gall heraus, die Frau ist Vorsitzende von so einem Gutmenschenverein Women's Solidarity. Und, was genau bedeutet eigentlich prollig?“ „Proletenhaft, ordinär.“ „So etwas Ähnliches habe ich mir gedacht.“ „Ist natürlich stark abwertend, politisch völlig inkorrekt, musst du kennen, aber nie benutzen.“ „Habe ich mir auch gedacht.“
In der Staatskanzlei angekommen trennen sich Wegner und Richter. Auf Wegners Schreibtisch warten bereits zwei Aktenstapel.. Die Vorlagen zerfallen in mehrere Klassen: Was schon entschieden war und nur noch von ihm unterschrieben werden muss. Auch das überfliegt er zumindest, seine Mitarbeiter sind zwar loyal und würden ihm nichts unterschieben, aber Missverständnisse oder gar Schlampereien kann es schon mal geben. Dann gibt es Entwürfe, manche reif für eine Entscheidung, und andere, an denen noch gearbeitet werden muss. Und Urkunden, die er unterschreiben muss, wie z.B. vor zwei Jahren Annettes Ernennung zur Direktorin der Zahnklinik. Er war froh, da näher hingeschaut zu haben, denn es handelte sich um eine unerfüllt gebliebene Zuneigung aus seinen jungen Jahren.
Es fällt ihm schwer, sich auf die Arbeit zu konzentrieren. Noch beunruhigender als der Angriff auf den Brennpunkt ist es, dass er nichts über die Hintergründe weiß. Die Ermittler unterstehen letztlich dem Justizminister. Stefan Hessler ist ein jüngerer, sehr ehrgeiziger Mann. Wegner hält ihn für sehr begabt, könnte mal sein Nachfolger werden. Er würde für das Vorgehen seiner Justiz schon selber gerade stehen können. Andererseits kann Wegner sich als Ministerpräsident nicht lange heraushalten, ohne den Eindruck von Führungsschwäche zu erwecken. Auf Ahnungslosigkeit kann er keine Strategie bauen.
Endlich kommt Richter. „Ich habe an allen Drähten gezogen, Peter, aber es ist nichts herauszubekommen. Da wurde mit der Begründung laufender Ermittlungen eine absolute Nachrichtensperre verhängt, und die hält bisher. Du müsstest dich wohl selber an Hessler wenden.“ Wegner schwankt, damit würde er das Verfahren an sich ziehen, Er erinnert sich an eine unangenehme Übung aus seiner Dienstzeit: Man musste eine Handgranate scharf machen, und dann noch eine kleine Weile warten, bevor man sie aus der Deckung warf. Hier würde er keine Deckung haben.
Da kommt ein dringender Anruf von Bernhard Portatius, dem Finanzminister, er klingt sehr erregt. „Wer oder was steckt hinter der Aktion gegen den Brennpunkt? Niemand will mir was sagen, bitte erzähl mir alles, was du weißt. Ich weiß, dass der Brennpunkt nicht gerade zu deiner Lieblingslektüre gehört, zu meiner natürlich auch nicht, aber hier wird die Pressefreiheit berührt, merkt da keiner, dass das gefährlich ist?“ „Hast du mein Gespräch mit der Wüllner gesehen? Mehr kann ich dazu nicht sagen.“ „Genau das macht mir Sorgen, ganz offen, Peter, du kannst da nicht einfach so den Kopf in den Sand stecken. Du hast volle Transparenz versprochen und die musst du liefern.“ „Es geht nicht um die Pressefreiheit, sondern um strafbare Handlungen, immerhin haben die Ermittler einen Richter so weit überzeugt, dass er die Durchsuchungen genehmigt hat.“ „Und die haben offensichtlich nichts gebracht. Hätten die irgend etwas Belastbares gefunden, wäre das doch sicher gleich heraus trompetet worden, um sich vor der Öffentlichkeit zu rechtfertigen. Peter, als alter Freund gebe ich dir einen Rat: Tritt Hessler in den Hintern, er soll die Ermittler zurückpfeifen, du entschuldigst dich beim Brennpunkt im Namen der Regierung und du wirst sehen: Du stehst prächtig da, als ein Regierungschef, der keine Übergriffe duldet.“
Während Portatius Druck auf ihn ausübt, verschwinden die letzten Zweifel Wegners. Er wird, zumindest bis auf weiteres, nichts unternehmen. Bernhard Portatius mochte einmal sein Freund gewesen sein, inzwischen ist er aber nur noch Parteifreund. In den Augen Wegners ist er ein Intrigant. Meist ein erfolgloser, glücklicherweise, aber einmal hatte er Wegner getroffen und das ausgerechnet im Zusammenspiel mit dem Brennpunkt. Die Freundschaftsbekundungen verstärken eher Wegners Misstrauen, Portatius denkt nie an die Regierung oder die Partei oder gar an Andere und das Gemeinwohl, sondern nur an sich selbst. Er sorgt sich nicht um die Pressefreiheit und das Ansehen der Regierung. Er muss einen wichtigen Grund haben, die Ermittlungen gegen den Brennpunkt abzuwürgen, und zwar so, dass Wegner als Ministerpräsident eingreift, während er im Hintergrund bleibt.
Von Klex, dem Chef des Brennpunkts, wird glaubwürdig berichtet, er habe einmal in Sektlaune behauptet, er könne jeden Politiker aufbauen oder zu Fall bringen. Das sei so, als ob er im Fahrstuhl den Knopf nach oben oder den nach unten drücken würde. Für Portatius hatte er schon öfter aufwärts gedrückt, er war immerhin Finanzminister geworden. Für Wegner war einmal abwärts gedrückt worden, aber das hatte er überlebt. Zweifelsohne gibt es offene Rechnungen, die Portatius begleichen muss. Selber will er keine Spuren hinterlassen, also drängt er ihn, Wegner, einzugreifen. Ist das nicht eher ein Hinweis, dass der Brennpunkt wirklich etwas zu verbergen hat?
Wegner führt in seinem Kopf ein Buch mit noch offenen Posten. Da gibt es sowohl die ihm erwiesenen Wohltaten wie die von ihm erlittenen Gemeinheiten. Der Brennpunkt war vor langer Zeit gemein zu ihm gewesen und er ist sich sicher, dass Portatius der Helfer, wenn nicht gar der Anstifter gewesen war. Sie waren beide ehrgeizig gewesen und hatten um Ämter in ihrer Partei gekämpft. Da bieten sich friedliche Lösungen an, indem sich einer auf die Landespolitik wirft und der andere auf die Bundes- oder Kommunalpolitik. Aber so war es bei ihnen nicht gelaufen, sie standen einander auf Landesebene im Wege.
Wegner erinnert sich an ein Gespräch aus ihrer Zeit im Jugendverband der Partei. Es ging um die Verdrängung deutscher Gasthäuser durch Italiener und Griechen. Portatius, der aus national-konservativen Kreisen stammt, redete von stinkendem Knoblauch und dem Verfall der deutschen Wirtshauskultur. Wegner antwortete sachlich, Deutsche würden oft die langen Arbeitszeiten in der Gastronomie scheuen und überdies gebe es halt einen Markt für die Küche aus dem Süden, das sollte man gerade in ihrer Partei respektieren. Dann hatte er sich, unerfahren, wie er damals noch war, dazu verleiten lassen, einiges sehr Persönliches von sich zu geben. „Meine Mutter ist italienischer Abstammung.“ Seit seiner Pubertät wusste er, dass seine Mutter eine sehr schöne Frau ist, die für eine etwas ältere Schwester von Claudia Cardinale gehalten werden konnte, worauf er sehr stolz war. „Ihr Vater war als Bauarbeiter nach Deutschland gekommen. Nachdem er etwas gespart hatte, machte er mit seiner Frau in München ein italienisches Lokal auf, das großen Anklang fand. Meine Mutter arbeitete mit und lernte da kochen. Im Krieg endete das alles, meine Mutter wurde dienstverpflichtet. Sie hatte aber noch Glück, weil ein Stammgast, ein hohes Tier, ihr eine ruhige Stelle in der Kantine seines Stabes verschaffte. Da hat sie übrigens auch meinen Vater kennen gelernt, der war da Fahrer. Also, meine Leute mussten, wie die anderen auch, alles mit- und durchmachen. Sie zahlten Steuern und Abgaben und leisteten ihren Beitrag zu unserer Gesellschaft, ich glaube, bei den meisten jetzigen Gastarbeitern ist das nicht anders.“ „Du darfst das nicht so persönlich nehmen. Die Karriere deines Vaters, vom Chauffeur von Führern im Großdeutschen Reich zu einem führenden Kleintransportateur im Wirtschaftswunderland ist lobenswert.“ Portatius' Ironie war schon damals meistens vergiftet.
Einige Jahre später bewarben sich beide im gleichen Wahlkreis um die Kandidatur für ihre Partei. Als Nachwuchspolitiker mit Potenzial erregten sie ein ziemliches, auch überörtliches Interesse. Wegner wunderte sich also nicht, als er vom Brennpunkt um ein Interview gebeten wurde; er wertete das als Anerkennung seiner bisherigen politischen Arbeit. Nachdem sie über politische Themen gesprochen hatten, fragte der Interviewer, ob er noch einige persönliche Fragen stellen dürfe. Da ging es zunächst um seinen Werdegang: Frau, Kind und die wohl unvermeidliche Anspielung auf den Schwiegervater. Und dann: „Sagen Sie, ist es richtig, dass Sie, d.h. eigentlich Ihre Mutter einen Migrationshintergrund haben?“ „Ja, meine Großeltern sind aus Italien hierher gekommen, haben hart gearbeitet, gespart und schließlich in München ein italienisches Restaurant betrieben. Ob es das erste war, weiß ich nicht, es war jedenfalls sehr erfolgreich. Es muss schon vor dem Krieg eine deutsche Liebe zur mediterranen Küche gegeben haben.“ „Was aber leider keine Friedensliebe bewirkt hat. Hatte Ihre Mutter nach dem Sturz Mussolinis und dem Abfall Italiens keine Schwierigkeiten mit den Nazis?“ „Keine besonders schlimmen, ein häufiger Gast im Restaurant verschaffte ihr eine Stelle in der Kantine seines Stabes.“ „Da soll sie auch Ihren Vater kennen gelernt haben?“ „Stimmt, der war da Fahrer.“
In der Nacht, in der die nächste Ausgabe des Brennpunkts ausgeliefert wurde, merkte Peter Wegner, dass ihm der Interviewer mit seinen weiteren Fragen genau das in den Mund gelegt hatte, was er Portatius aus dem Leben seiner Eltern erzählt hatte. Zu seinem Entsetzen erzählte der Brennpunkt aber eine weitaus dramatischere, wenn nicht gar sensationelle Geschichte.