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2. Ein Ausflug
ОглавлениеEr hätte ein Netzwerk von Firmen gefördert, wenn nicht gar gegründet, über die unter dem Vorwand von Beratung Bestechungsgelder geschleust wurden. Begonnen hätte er dies Ende der achtziger Jahre in Südafrika, wo Umsatz und Gewinn trotz der widrigen Umstände während des politischen Umbruchs gestiegen seien. Eine solche Verschleierung illegaler Praktiken sei zum Vorbild für andere ElteX-Landesgesellschaften geworden. Nachdem 1999 auch Bestechung im Ausland in Deutschland strafbar wurde, hätte er mit beträchtlicher krimineller Energie weitere Verfeinerungen vorgeschlagen, um die Spuren des Flusses von Geldern zu verwischen. Dazu lägen auch von ihm verfasste Papiere vor. Seine Machenschaften seien so raffiniert angelegt gewesen, dass die ElteX-Spitze sie gar nicht hätte durchschauen können, daher der Vorwurf der Untreue. Jedenfalls hätten seine kriminellen Handlungen zu einer zügigen Beförderung geführt.
Er sei im Dezember 2002 in Südafrika gewesen, um mit dem südafrikanischen Forschungszentrum iThemba über Beschleuniger zur Behandlung von Krebs mit Protonen zu verhandeln. In Wirklichkeit hätte er aber mit seinem alten Freund Malandela Gumede, bis vor kurzem Direktor der südafrikanischen Forschungsgemeinschaft SARF, verabredet, wertlose Patente für ElteX zu erwerben. Das hätten die jüngsten Ermittlungen gegen Gumede, über deren Ergebnisse die Staatsanwaltschaft von der National Prosecution Agency NPA in Südafrika unterrichtet worden sei, zweifelsfrei bewiesen.
Ja, auf mein Drängen hatte sich ElteX entschieden, nach längerer Pause wieder Forschung und Entwicklung auf dem Gebiet Beschleuniger für die Medizin zu betreiben. Trotz aller Spannungen zwischen uns hatte der für den Bereich Medizintechnik zuständige Vorstand zugestimmt. „Vielleicht sieht unser Beobachter des wissenschaftlichen Fortschritts Mallwitz mal keine Fata Morgana“, soll er im engeren Vorstand gesagt haben. Da gab es noch aus der Zeit der Apartheid einen Protonenbeschleuniger am Kap, es konnte sich lohnen, sich deren Erfahrungen zunutze zu machen. Außerdem waren wir, Olga und ich, gern in Afrika, besonders in der Savanne, da stammt der homo sapiens letztlich her. Und wir konnten Bekannte wiedersehen, wie eben Gumede, der nach der Wende eine steile Karriere gemacht hatte. Ich verabredete ein Treffen und erwähnte dabei die Sonnenfinsternis vom 4. Dezember 2002. Gumede lud uns ein, die zusammen mit ihm von einem Lager der Grenzpolizei am Limpopo aus zu beobachten. Im Vorfeld beschlichen mich dann zunehmend Zweifel. Zwar war am Kap und anderswo der klinische Erfolg der Protonentherapie von Tumoren im Kopf unzweifelhaft gezeigt worden, aber die dafür benutzten konventionellen Beschleuniger waren viel zu teuer. Ein massenhafter Einsatz, und nur an einem solchen konnte ElteX Interesse haben, hätte die öffentlichen Gesundheitssysteme hoffnungslos überfordert. Es gab aber neue Ideen, Teilchen zu beschleunigen, indem man Materie mit intensiven Lasern bestrahlt. Die Physiker sprachen von „table top“-Apparaten, preiswert, wartungsfrei, das war aussichtsreich, würde aber noch etwas dauern. Jedenfalls länger als bis zum nächsten Quartalsbericht, was den Kollegen Kallsen zu sarkastischen Ausführungen über die Beschleunigung des Technologie-Transfers, über China, Indien einerseits und unsere Nischenforschung andererseits, veranlasste. Selbst ein Techniker müsse soviel von Betriebwirtschaft verstehen, dass er nicht dauernd nur Kosten verursachen könne, denen ungedeckte Schecks auf Gewinne in einer fernen Zukunft gegenüber ständen. Nun gut, uns saß der Vorsitzende und dem die Investoren im Nacken, man übte Shareholder-Value-Management. Unter solchen Umständen hätte eine Reise zu iThemba provoziert. Auf die Sonnenfinsternis und das damit verbundene Treffen mit Gumede wollte ich aber nicht verzichten.
Eine Dienstreise war es natürlich nicht mehr. Vor der Buchung überlegte Mallwitz noch kurz, ob er seine Vielfliegermeilen einsetzen sollte. Die waren ihm aber hauptsächlich für Dienstreisen gutgeschrieben worden. Aus solchen Anlässen hatten Politiker Schwierigkeiten bekommen. Es gab die winzige, aber doch nicht vernachlässigbare Gefahr, dass er, etwa auf Grund einer Denunziation, seinen Feinden bei ElteX ins Messer liefe. Das lohnte sich nicht, so bezahlte er die Flüge in der Touristenklasse selber und fühlte sich nicht nur umsichtig, sondern auch befriedigend rechtschaffen.
Wenigstens war das Flugzeug ein Airbus, da gab es einige Reihen mit nur zwei Plätze zwischen dem Fenster, bevorzugt von Olga, weil sie den Kopf zum Schlafen in die Nische legen konnte, und dem Gang. Da hatte er keinen fremden Nachbarn und konnte überdies leichter aufstehen. Beim Abflug abends in Deutschland schneite es, in Erwartung des Südsommers hatten sie schon unter den Mänteln leichtere Kleidung an. Zum Essen konnte man zwischen je zwei weißen und roten Weinen wählen. Olga nahm wie immer einen leichten weißen, Mallwitz nahm für sich einen 1997 Haut Laborie Pinot Noir, weil er sich erinnerte, dass sie den Winzer v. Bonin und seine Familie vor Jahren während eines Urlaubs an der Wild Coast in einem einsamen Hotel an der Coffee Bay getroffen hatten. Bonin hatte in Geisenheim Weinbau studiert und strahlte standesgemäßes Selbstvertrauen aus: „Wein wird nicht gemacht, er wächst.“ Umso enttäuschender, dass im Abgang eher Sägespäne als Tannin zu schmecken war. Also machte Bonin inzwischen auch in Barrique. Die Mallwitzens beließen es dann auch bei einem Fläschchen, dösten dem Morgengrauen entgegen vor sich hin.
Nach der Landung in Johannesburg durfte zuerst die erste, dann die Businessklasse und zuletzt die Touristenklasse aussteigen. Es waren gleichzeitig mehrere Flugzeuge angekommen, sodass sich schon lange Schlangen gebildet hatten, als sie zur Passkontrolle kamen. Der Flugplatz war offensichtlich überlastet, sein Ausbau hatte mit der Zunahme des internationalen Verkehrs nach dem Ende der Apartheid nicht Schritt gehalten. Gumede hatte versprochen, dass sie ein SARF-Wagen abholen würde, Mallwitz konnte nur auf die Geduld des Fahrers hoffen. Endlich kamen sie durch die Kontrolle, das Gepäck war schon auf dem Band, sie gingen durch den Zoll und eine undurchsichtige Tür in eine Ankunftshalle. In der Menge konnte Mallwitz zunächst niemanden erkennen, den er für einen SARF-Fahrer hätte halten können. Schließlich entdeckte er seitwärts vor einer gesonderten Tür eine Gruppe livrierter Schwarzer. Gerade öffnete sich die Tür für einen Mann in einer afrikanischen Tracht und seinen Aktentaschenträger, sie wurden von einem der Livrierten empfangen. Womöglich ist da der Ausgang einer Expressabfertigung für VIPs und wir werden dort erwartet. Die Mallwitzens steuerten mit ihren Gepäckwagen auf die Gruppe zu, fragten nach Gumede und SARF, und einer der Fahrer gab sich zu erkennen. Es tue ihm leid, aber Gumede habe ihm befohlen, auf den ElteX-Boss und seine Frau zu warten. Am VIP-Ausgang. Ein „selbstverständlich“ schenkte sich der Fahrer. Er will mich nicht noch mehr Gesicht verlieren lassen, überdies schämt er sich vielleicht vor seinen Kollegen, ein Paar aus der Touristenklasse fahren zu müssen.
Gumede hatte angeboten, dass sie sich bei ihm vom Flug ausruhen und übernachten könnten. Er hatte inzwischen ein Haus im vornehmen Houghton. Auf der Fahrt vom Flugplatz in die Stadt sah man eine lebhafte Bautätigkeit, Fabriken, Bürogebäude, trotz oder gerade wegen der politischen Wende gab es offensichtlich Vertrauen in die wirtschaftliche Zukunft. Näher an der Stadt kamen sie an dem alten Slum Alexandria vorbei, da wurden Wellblechhütten abgerissen. An der Straße verkauften kleine Jungen gesammelte Ziegelsteine, Rohrleitungen und Wellblech. Mallwitz sprach den Fahrer darauf an, der lachte: „Jeden Tag ziehen Tausende vom flachen Land an den Witwatersrand. Wenn ein Slum saniert wird, kommt nichts weg, was noch halbwegs zum Aufbau neuer Hütten irgendwo anders brauchbar erscheint.“ An den Ampeln versuchten Männer, Zeitungen bei wartenden Autos abzusetzen, an den Kreuzungen hingen, wie gewohnt, Eckensteher herum. Aber neu war: Da gab es auch kleine Gruppen abgerissener Weißer, sogar Frauen waren dabei. Für das weiße Lumpenproletariat ist das soziale Netz mit der Apartheid zerrissen. Aber ich möchte das nicht mit dem Fahrer diskutieren. Olga hatte da keine Hemmungen, bekam aber „Es lohnt nicht, sich um diesen weißen Abschaum zu kümmern“ als Antwort. Dem Fahrer fehlte die Empathie zu einem sozio-politologischen Gespräch.
In den besseren Vierteln waren die Mauern um die Grundstücke noch höher, als sie es in Erinnerung gehabt hatten. Und darauf waren noch Elektrozäune. In Houghton waren ganze Straßenblöcke abgesperrt, der Fahrer wies sie auf Mandelas Haus hin. Unweit davon bogen sie in eine Seitenstraße ein, ein uniformierter Angestellter eines privaten Sicherheitsdienstes kam aus einem Wachhäuschen, sprach mit dem Fahrer einige Worte über das schwüle Wetter, öffnete die Absperrung und winkte sie durch. „Auf die Ausländer müssen Sie aufpassen“, sagte der Fahrer, „besonders die Nigerianer in Hillbrow sind alle kriminell.“ „Wie erkenne ich einen Nigerianer unter den Südafrikanern?“ fragte Olga. Der Fahrer lachte, drückte eine Taste, ein Tor öffnete sich, sie fuhren durch einen prächtigen Garten zum überdachten Eingang einer Villa.
Es erschien eine etwa dreißigjährige Frau, schlank mit Po und Busen. Sie trug einen Hosenanzug in kräftigen Farben, die gut zu ihrer schwarzen Haut passten. Sie stellte sich als Cindy, die (neue) Frau Gumedes, vor und entschuldigte sich, weil sie an diesem Sonntag noch Dienst als Sprecherin im Fernsehen hatte. Malandela sei auf einer wichtigen Besprechung, sie würden sich alle beim Abendessen treffen, bis dahin könnten sich die Mallwitzens ausruhen. Eine Haushälterin führte sie durch das Haus über eine Terrasse an einem Schwimmbad vorbei in ein separates Gästehaus, der Fahrer brachte das Gepäck. Mallwitz war gerade beim Rasieren, als der Strom ausfiel. Unweit sprang ein Generator an, der Rasierer lief wieder. Die Mallwitzens duschten, legten sich ins Bett und schliefen sogar für einige Stunden.
Nachmittags schalteten sie den Fernseher an, Cindy sprach Nachrichten auf – Zulu? Xhosa? Oder einer anderen der neun offiziellen afrikanischen Sprachen des Landes? Gumede stammte allerdings aus einer Zulu-Häuptlingsfamilie, eine offizielle Ehefrau aus einem anderen Stamm wäre schon ein schwerer Bruch mit der Tradition gewesen. Die Mallwitzens wechselten auf einen englischen Kanal, aber da gab es nur Cricket. Die Engländer mussten schon sehr geschickt gewesen sein, ein so unendlich langweiliges Spiel in ihren Kolonien durchzusetzen.
Inzwischen waren, wie im Sommer üblich, draußen schwere Wolken aufgezogen und es begann ein schweres Gewitter. Es wurde schnell dunkel, der Donner krachte unmittelbar über dem Dach, und in den hellen, sekundenlangen Blitzen sah man den prasselnden Regen, das Wasser stand knöcheltief im Garten. Dann war alles plötzlich zu Ende, man sah noch einmal den Schein der untergehenden Sonne, hörte Vogelzwitschern, und es gab auch den eigentümlichen Geruch ionisierter Luft.
Kurz danach kam Gumede. Er war nun Mitte vierzig und seit der letzten Begegnung vor zehn Jahren etwas stattlicher geworden. Mallwitz und Gumede umarmten sich. Sie hatten sich zwar nie ihre letzten Geheimnisse anvertraut, aber es gab eine unausgesprochene Übereinstimmung. Aus verschiedenen Kulturen, aber ähnlich geprägt. Und sie verdankten einander ihren Aufstieg. Gumede führte sie durch das Haus, in dem die Farbe Gold vorherrschte. Er erzählte, dass SARF das Anwesen günstig von einem Bergbaumagnaten übernommen hatte, der nach England gezogen war. Im Garten stand eine Kopie des Standbildes der Prinzessinnen Luise und Friederike von Schadow. Die hatte sich Gumede privat angeschafft, aus Begeisterung, sagte er. Mallwitz war doch etwas verblüfft (Warum nicht, Europäer interessieren sich ja auch für afrikanische Kunst) und erzählte etwas über die tugendhafte Königin Luise von Preußen und die erotischen Qualitäten ihrer Schwester Friederike, die nach zwei Ehen, allerlei Affären und vielen Kindern noch Königin von Hannover geworden war. Inzwischen tauchte Cindy wieder auf, Gumede erzählte ihr weiter, was er gerade über Friederike gehört hatte. Cindy lachte. Man ging ins Haus, Gumede schenkte trockenen südafrikanischen Sherry ein. Sie besprachen den Plan für die nächsten drei Tage.
Morgen würden sie mit Gumedes Stellvertreter und dessen Frau mit einem SARF-Flugzeug in den Krügerpark fliegen. Dort lag mitten in der Totalitätszone am Limpopo, der Grenze zu Zimbabwe und Mosambik, ein Polizeiposten, in dessen Umgebung sie ungestört von der zu erwartenden Menge anderer Beobachter sein würden. „Und“, sagte Gumede, „wir werden uns Zeit nehmen, etwas Wichtiges zu besprechen.“ Klingt etwas imperial, alter Freund, bin neugierig. Das Abendessen war afrikanisch, geröstete Mopanewürmer, die sahen aus wie Engerlinge und schmeckten nach nichts, danach Maisbrei, Kürbisgemüse und Lammgulasch. Dazu einen 1998 Delberg Pinot Noir, gnädigerweise ohne Holzgeschmack.
Die Frauen gingen zu Bett, Gumede und Mallwitz tranken noch einen Brandy auf der Terrasse. „Wie geht es Sheila?“ „Sie ist nach Zululand zurückgekehrt, unterrichtet an einer Schule. Sie ist da verwurzelt, von der Familie und der Tradition geradezu gefesselt. Ihr Vater ist ein Lump, beruft sich auf unsere Vorfahren Shaka, Dingaan und überhaupt auf die gar nicht immer so ruhmreiche Vergangenheit, um weit draußen im Zululand vor Greisen, Weibern und Kindern den großen Häuptling zu spielen. Dabei katzbuckelte er vor dem Apartheid-Regime und versucht jetzt verzweifelt, seine Privilegien zu retten, oder was er dafür hält. Nach der Wende sind Berichte aufgetaucht. Die BOSS-Leute haben nicht alles verschwinden lassen – wahrscheinlich mit Absicht, um Zwietracht zu säen. Mein Schwiegervater meinte, sein Vetter hätte mich einfach schlecht erzogen, eine Zeit der Einkehr könnte mir nicht schaden, er sähe mich lieber im Gefängnis als im ANC. Das ging nach hinten los, die Haft im Fort von Johannesburg hätte ich nicht überstanden ohne die Solidarität der Genossen, die meisten davon Xhosa. Und heraus geholt hast du mich, Direktor einer ausländischen Firma, die hier Geschäfte macht. Seitdem denke ich breiter.“
Am nächsten Morgen fuhr man zu viert zum Midrand-Flugplatz, traf dort ein Ehepaar, das Gumede als Antjie und Jannie van Reenen vorstellte. Mallwitz hatte ein ausgezeichnetes Personen- und ein schlechtes Namensgedächtnis, aber in diesem Fall war es der Name „van Reenen“, der in ihm eine ganz unbestimmte Erinnerung weckte. Man bestieg eine kleine, offizielle SARF-Maschine. „Ich muss viel reisen“, meinte Gumede. Dienstliche Begründung für diesen Flug? Bei ElteX müsste ich da einige Phantasie aufbringen. Nun, es ist ja seine Gastfreundschaft. Er will wohl auch was von mir, aber was nur? Nur nicht fragen, soll er auf mich zukommen.
Sie flogen über das Highveld nach Nordosten. Nach einer guten Stunde machte Gumede sie auf die Überlandleitungen aufmerksam, die Strom vom Sambesi-Staudamm bei Cabora Bassa nach Südafrika brachten. „War es nicht hier, Jannie?“ fragte er van Reenen. Noch bevor dieser antworten konnte, wurden Mallwitz der Sinn der Frage und ihre Zusammenhänge bewusst. Im Jahr 1988 war van Reenen, damals Doktorand an der Universität von Pretoria, Hauptangeklagter in einem Prozess nach einem Sprengstoffanschlag auf einen Mast eben dieser Leitung gewesen. Es war niemand verletzt worden, und der Schaden war gering. Aber Fälle von Sabotage durch Buren erregten großes Aufsehen. Die Verteidigung stellte die Tat als eher spontane Protesthandlung einiger isolierter Idealisten dar. Van Reenen erhielt zehn Jahre Gefängnis. Für den ANC war dieser von Weißen burischer Abstammung verübte Anschlag ein weiterer Beweis für den Anfang vom Ende der Apartheid, und entsprechend wurde der Vorfall international verbreitet und bewertet.
Van Reenen bestätigte, dass er und seine Leute hier in dieser Gegend den Mast gesprengt hatten. Den Sprengstoff hatten sie im Chemischen Institut hergestellt. Da gab es einen abgelegenen Raum, in dem Witblits aus Pfirsichen destilliert wurde, natürlich schwarz. Die Professoren strengten sich an, dies zu übersehen, was andere ungesetzliche Vorhaben gut tarnte. Man hatte die Sprengladungen in den Winkeleisen an den Kanten des Masts befestigt, zog sich zurück und zündete. Der Donner der Explosion schien über das ganze Highveld zu laufen. Der Unterteil des Mastes brach weg, der Rest sackte auf den Boden und blieb dort, von der nicht gerissenen Leitung gehalten, stehen. Die Statik hatte über die Chemie gesiegt. Van Reenen und die Anderen waren so enttäuscht, dass sie auf der Flucht den Weg verloren und der vom Lärm aufgeschreckten Polizei genau in die Arme liefen. Und dann: „Heute bin ich natürlich froh, dass wir die Leitung haben. Sonst wären unsere Versorgungsprobleme noch größer. Und Mosambik hätte überhaupt keine Einnahmequelle.“ Was damals Terrorismus war, ist heute eine Heldentat, und die Leitung, damals Symbol für das Bündnis von Rassismus und Kolonialismus, steht heute für afrikanische Zusammenarbeit und wirtschaftlichen Fortschritt. Und der Renegat hat eine gute Stellung in der Regenbogengesellschaft.
Der Pilot kündigte den Wendekreis an. Gumede kündigte an, die Bar sei eröffnet und verteilte Hansa-Bier in Dosen. Am frühen Nachmittag landeten sie auf einer Sandpiste im Norden des Krügerparks, wo bereits zwei Geländewagen auf sie warteten, um sie zur Station zu bringen. Es war glühend heiß, das Gras stand hoch, es hatte wohl schon reichlich geregnet in diesem Sommer, die Tiere hatten sich verkrochen, nichts Bemerkenswertes war zu sehen. Georg war ruhig und zufrieden, wie fast immer in der afrikanischen Savanne. Ihm war, also ob ihn seine Gene fühlen ließen, von dorther zu stammen. Aus der Ebene ragte ein Hügel mit einigen Gebäuden. Sie fuhren eine Schotterpiste hinauf, und ein Tor wurde für sie geöffnet. Im Lager erwartete sie ein Offizier. Er bedankte sich überschwänglich bei Gumede für die Ehre des Besuchs. Er werde alles tun, um ihm und seinen berühmten Gästen den Aufenthalt angenehm zu gestalten. Gumede leutselig: „Bestellen Sie für übermorgen früh einen klaren Himmel.“ Der Offizier lächelte etwas gequält.
Etwas abseits lagen strohgedeckte Rondavels, jedes Paar bekam eines. Vor den Fenstern, Türen und Terrassen waren feine Drahtgitter gegen Moskitos angebracht, außerdem gab es noch Netze über den Betten, man war in einer Malariagegend. Vom Lager hatte man einen weiten Rundblick über die locker mit Bäumen bestandene Ebene, nur im Norden sah man ein dunkleres Band, den Galeriewald des Limpopo, einige Lücken gaben den Blick auf den Fluss frei, der weder great noch greasy war. Jenseits lag Zimbabwe, im Osten Mosambik. In Anbetracht des fortgeschrittenen Nachmittags und des bereits aufziehenden Gewitters entschied man sich in aller Ruhe auszupacken. Für den abendlichen Braai war bereits ein mächtiges Feuer in einem offenen Kamin angezündet worden, das brannte während des Gewitters herunter. Vor ihrem Untergang kam die Sonne noch einmal kurz heraus, die Feuerstelle trocknete schnell, und sie konnten anfangen, auf der Glut zu grillen. Von der Station hatten sie das saftigste Wild bekommen, das es gab: Warzenschwein. Die Dunkelheit kam schnell, es gab zwar Elektrizität von einem Generator, aber sie zündeten lieber Petroleumlaternen an. Einige Schritte weiter war es finster, ohne die Sterne wäre alles vollständig schwarz gewesen. Man sah unzählige Sterne, im Süden, knapp über dem Horizont stand das Kreuz, eigentlich eher ein Viereck.
Es wurde angenehm kühl, man hörte die merkwürdigsten Geräusche der nachtaktiven Tiere jenseits des Zaunes. Das Fleisch wurde fertig, es schmeckte vorzüglich, der Wein passte. Sie besprachen den nächsten Tag. Olga schlug eine Besichtigung von Mabyeni vor, einer alten afrikanischen Metropole, sie hatte dort Anfang der neunziger Jahre an Ausgrabungen teilgenommen und hierüber promoviert. Gumede stimmte lebhaft zu, es handelte sich ja auch um vorkoloniale afrikanische Kultur. Wenn sie vor Sonnenaufgang los führen, hätten sie eine gute Aussicht, auf dem Weg während der Morgendämmerung Tiere zu sehen. Also schlugen die Frauen vor, zeitig zu Bett zu gehen. Mallwitz fühlte, dass Gumede das ganz recht war, denn dann würde er ganz ungestört auf sein Anliegen zu sprechen kommen können. Die Frauen gingen also in ihre Hütten, die Männer blieben an dem Kamin sitzen, in dem es noch schwach glühte.
Gumede fing an: „Wir haben den Schwung verloren, die ANC-Kader haben den Staatsapparat eingenommen und den Kontakt zu den Massen verloren. Die Wirtschaft boomt, aber das verdanken wir der großen Nachfrage und den hohen Preisen für unsere Rohstoffe. Wir sind zu sehr abhängig von der Weltkonjunktur, auf die wir überhaupt keinen Einfluss haben. Das Black-Empowerment-Programm bringt zwar einzelne Schwarze in leitende Stellungen in Unternehmungen. Aber mit neuen Eigentümern, die außer sich selber nichts einbringen können, wird nur das Kapital verdünnt. Es bildet sich eine Kaste von fat cats, die Massen werden rebellisch, weil sie immer noch benachteiligt sind, und die politische Führung wird autoritär. Ich, das heißt natürlich auch van Reenen und viele andere – wir fürchten eine Entwicklung, die so chaotisch läuft wie in Zimbabwe. Wir dringen auf einen Richtungswechsel: Die Zivilgesellschaft muss gestärkt werden, und statt auf schnelle Gewinne muss auf eine nachhaltige Entwicklung gesetzt werden. Das wird auch die Beschäftigung fördern.“ Klingt ja soweit toll, alles richtig, so habe ich es auch schon von einem Bischof bei einer Podiumsdiskussion auf einem Forum 'Reformpartnerschaft mit Afrika' gehört. Aber zu was soll das die Einleitung sein? Gumede weiter: „Zum Beispiel sitzen wir in Südafrika auf Kohle, aber es mangelt an Energie, die Stromversorgung bricht zusammen. Selbst in Houghton gibt es häufig Unterbrechungen, jeder schafft sich einen Generator an.“ Nicht jeder, sondern eben die, die es sich leisten können, dort zu wohnen. „In Soweto bleiben die Leute im Dunklen sitzen, und, was fast noch schlimmer ist, die Industrie und die Bergwerke stehen zeitweise still. Wir brauchen mehr Kraftwerke, auch Kernkraft, und das Netz muss ausgebaut werden. Und dazu brauchen wir dich.“ Du meinst nicht mich, sondern meinen Einfluss bei ElteX. „Unser Energiemanagement taugt nichts, wir brauchen moderne Verfahren zur Aufnahme der Daten und zur Überwachung und Kontrolle der Stromflüsse. Und wir brauchen neben der Kohle ein weiteres Standbein. Das Kernkraftwerk Koeberg reicht nicht, Solarenergie ist selbst hier noch viel zu teuer, ich wundere mich, dass man in Deutschland so sehr darauf setzt, bei uns scheint wenigstens im Winter auf dem Highveld die Sonne.“
„Da ist viel Ideologie dabei“, sagte Mallwitz, „die Verbraucher müssen das subventionieren und die Hersteller zocken ab. Aber wir arbeiten an neuen Verfahren.“ „Genau das interessiert uns.“ „Bei der Photovoltaik mit Solarzellen aus massiven, kristallinen Schichten wird bei der Herstellung zu viel Silizium und Energie verbraucht. Das hat keine Zukunft.“ „Das sehen wir genau so.“ „Wir wollen nur noch dünne Schichten auf Glas abscheiden: absorbierende für das gesamte Spektrum der Sonne und leitende für den Stromtransport. Und zwar nicht chemisch aus einem Dampf bei hohen Temperaturen, sondern aus einem Plasma. Im Vergleich zur herkömmlichen Technik sind wir mindestens doppelt so gut– und in eurem Klima voll konkurrenzfähig mit Kohle und Kernkraft.“ „Seid ihr das oder wollt ihr das sein?“ Mallwitz zog es vor, sich sich bedeckt zu halten: „Die Forschung ist natürlich nicht billig – ultrareine Bedingungen und so weiter. Und dann müssen Fertigungsanlagen für die Module entwickelt werden, und das ganze muss aus dem Labor in die Massenfertigung gebracht werden.“ „Wir denken entlang ähnlicher Linien, bevorzugen es aber doch, chemisch aus dem Dampf abzuscheiden. Vielleicht sind bei uns die Chemiker besser als die Physiker.“ „Die Frage ist, ob deine Chemiker besser als meine Physiker sind.“ „Lass uns doch mal darüber nachdenken, welche Vorteile es bieten könnte, das komplementär zu sehen und beide Methoden parallel zu verfolgen.“ „Lass mich das überschlafen, wir müssen morgen früh aufstehen und können dann weiter darüber reden.“
Es war noch dunkel, als zum Wecken an die Tür geklopft wurde. Katzenwäsche, Ankleiden, Pullover wegen der morgendlichen Kühle, heißer Tee in hastigen, kurzen Schlucken und einige Stücke Zwieback. Als sie sich am Wagen trafen, dämmerte es im Osten, der Himmel war klar, man sah die Venus, ein gutes Zeichen für den neuen Tag. Das Tor der Station wurde geöffnet, sie fuhren langsam den Abhang herunter zu einem Hauptweg und weiter nach Mabyeni. Nach einigen Kilometern liefen vor ihnen zwei Dachse über den Weg. Kurz nach Sonnenaufgang bremste der Fahrer scharf. Hinter dem Wagen richtete sich eine Kobra auf, sie war gestört worden, als sie am Wegrand die Wärme der ersten Sonnenstrahlen suchte. Cindy erregte sich außerordentlich und bat den Fahrer, auszusteigen, um ein Gruppenvideo mit Kobra zu drehen, das wolle sie im Fernsehen verwerten. Der Fahrer zögerte und erhielt zu seiner offensichtlichen Erleichterung Unterstützung von Gumede. Der hatte einst als Junge in Zululand Vieh gehütet, und die Alten hatten ihm Respekt vor gefährlichen Tieren beigebracht. Cindy fragte, ob man wenigstens den Wagen zurücksetzen könne, um näher an die Kobra heran zu kommen. Der Fahrer lehnte auch dies ab: die Kobra könne einem Gegner über Meter hinweg ihr Gift in die Augen spucken. Schließlich einigte man sich auf eine Aufnahme mit Cindy und den Anderen auf der Rückbank als Vordergrund und der Schlange im Hintergrund.
Mallwitz war zufrieden: Er hatte in freier Umgebung zwei Tierarten gesehen, die er sonst nur aus dem Zoo kannte. Der Ausflug blieb auch weiterhin ein Erfolg. In Mabyeni aßen sie zunächst ihr mitgebrachtes Frühstück. Dann führte sie Olga, die sich gut vorbereitet hatte, durch die Reste der Stadt, in der zwischen 1550 und 1650 lebhafter Handel getrieben worden war. Gold und Elfenbein aus dem Inneren Afrikas wurde getauscht gegen Waren, die von den arabischen und portugiesischen Niederlassungen an der Küste herauf kamen. Es gab sogar chinesisches Porzellan, das Olga neben goldenem Schmuck im Grab einer Frau gefunden hatte. Das wies auf eine hierarchische Gesellschaft mit einer reichen Oberschicht hin, eine Vorstellung, die in Kreisen, die die afrikanische Vergangenheit egalitär verklärten, wenig Anklang fand. Gumede wollte das nicht weiter vertiefen, sprach stolz von dieser und von anderen Metropolen, die durchaus mit dem Rom der Europäer vergleichbar seien – etwa von Great Zimbabwe. Olga ließ nicht locker: „Aber man kann sich doch fragen, warum diese Städte jeweils nur hundert Jahre und nicht tausend Jahre bestanden. Ich glaube, diese Gesellschaften mit einem göttlichen Führer und einer kleinen Clique von Beratern an der Spitze waren einfach zu starr, um lange bestehen zu können.“ Man schwieg. Die Parallelen zur Gegenwart waren zu offensichtlich. Georg lenkte das Gespräch auf die Rekonstruktion der Gemäuer und lobte, dass sie behutsam erfolgt sei und gerade dadurch Vertrauen in die Bedeutung des Ortes erwecke.
Auf dem Rückweg nahm der Verkehr zu, gelegentlich verursachte der massenhafte Ansturm, der der Sonnenfinsternis geschuldet war, sogar einen Stau. Bei der Einfahrt in die Polizeistation sahen sie auf dem Hof einen Haufen abgerissener Menschen mit Bündeln und anderem schäbigen Gepäck, die gerade in eine umzäunte Baracke geführt wurden. „Flüchtlinge aus Zimbabwe, die wir in den letzten Stunden aufgelesen haben, nachdem sie über oder durch den Limpopo gekommen sind. Wir sammeln sie hier ein und schicken sie gruppenweise ins Innere.“
Später am Nachmittag tranken die Frauen Tee bei Frau van Reenen und erzählten einander aus ihrem Leben, ein Stück weiter nahmen die Männer einen frühen Sundowner im Schatten. Mallwitz führte das Gespräch des gestrigen Abends fort. „Was du gesagt hast, Malandela, liegt doch ganz auf Regierungslinie: Statt Ausverkauf von Rohstoffen die Entwicklung und Fertigung von technischen Spitzenprodukten, die auf dem Weltmarkt bestehen können. Und der lokale, also der südafrikanische Anteil bei Vorhaben mit Anderen muss aggressiv erhöht werden, wie sich eure charmante Vizepräsidentin kürzlich ausdrückte. Du hast gestern drei Bereiche angesprochen. Bei den Netzen ist nichts drin, da verkaufen wir fertige Paketlösungen, bei denen ihr nichts mitverdienen könnt. Bei der Kernkraft wird auf absehbare Zeit auch nichts laufen, wir verfolgen zu unterschiedliche Konzepte. In Deutschland sind wir froh, den Europäischen Druckwasserreaktor zu haben, als ein ausgereiftes Arbeitspferd, mit dem man dem hochgeputschten Misstrauen gegen die Kernenergie noch am ehesten begegnen kann. Ehrgeizige neue Entwicklungen wie den Kugelhaufenreaktor haben wir euch überlassen. Es würde mich nicht wundern, wenn wir die einmal von euch kaufen müssten. Aber wir müssen auf die zeitlichen Maßstäbe von Politikern achten, eine Wahlperiode, und auf die der Wirtschaft, ein Quartal, und da liegt das noch in ferner Zukunft. Bei der Photovoltaik mit dünnen Schichten ist das anders. Da kann ich mir gut vorstellen, dass ihr euch bestens einbringen könnt. Das kann und werde ich beim ElteX-Vorstand vertreten. Natürlich müssen beide Seiten mit offenen Karten spielen. Die Experten müssen sich treffen: Wer kann schon was, wie viel ist das wert, wer muss noch was machen und wie viel wird das kosten? Da werden die Wissenschaftler und Ingenieure gefordert sein, denn die Kaufleute werden Zahlen haben wollen, die man bestenfalls nur schätzen kann. Und unsere Lieblinge, die Controller und Juristen, werden sich nach allen Seiten so absichern wollen, dass sich gar nichts mehr bewegen lässt. Wir haben da diese Bedenkenträger, die einem immer sagen, was nicht geht. Ein guter Jurist sollte einen beraten, wie man sein Ziel auf legale Weise erreichen kann.“ „Du weißt doch“, sagte Gumede, „dass wir Afrikaner zäh verhandeln können, das haben wir seit Jahrhunderten in unseren Stammesversammlungen geübt. Das Vorhaben braucht sowohl unsere staatliche Rückendeckung als auch privaten Schwung. Euer Partner wird African Electric sein, van Reenen sitzt dort für uns im Aufsichtsrat.“ Meine Eltech-Ausgründung aus den achtziger Jahren hat uns über die politische Wende geholfen. Doch noch mal an alte Erfolge anknüpfen. Jetzt noch ein klarer Morgen für die Sonnenfinsternis, und die Reise wäre ein voller Erfolg.
Als sie am nächsten Morgen aufstanden, lag ein dünner, hoher Cirrusschleier vor der Venus. Die Sonne ging auf und stieg, es sammelten sich tiefer liegende Wolken und zogen über den ganzen Himmel. Aber gelegentlich schien die sich verfinsternde Sonne durch eine Lücke. Sie hatten Glück, in den letzten Sekunden vor der Totalität verschwand das Licht, als ob es mit einem Dimmer auf der ganzen Welt abgeschaltet worden wäre. Trotz der Cirruswolken sah man die Korona, die Venus und einige Sterne. Nach einer guten Minute ging das Licht wieder an, alle, auch die herumstehenden Grenzpolizisten und die Flüchtlinge auf dem Hof der Baracke klatschten. Mallwitz hatte gehört, dass alle Sonnenfinsternisse für alle Betrachter nur Sekunden dauern. So hatten sie es erlebt. Er war froh, das Amateurfernrohr seines Sohnes zu Hause gelassen zu haben, es hätte eher vom Gesamteindruck abgelenkt.
Einige Monate später hörte Mallwitz von Freunden aus Südafrika, dass der Kommandant eben jener Station wegen Übergriffen auf Flüchtlinge, Ausplünderung und Vergewaltigung vor Gericht stehe.