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Erste Schritte in der Neuen Welt

Erste Schritte in der Neuen Welt

`Kiez’ ist eigentlich ein Begriff, der glaube ich eher aus Österreich kommt. Ein Kiez ist eigentlich ein Viertel. Mehr nicht. Jedes Viertel ist ein Kiez. Aber der Kiez ist nicht in jedem Viertel. Nur in Hamburg. In St.-Pauli. Auf der Reeperbahn. Nur dort ist der Kiez wirklich Kiez.

Sechs für mein Leben wichtige, beeinflussende Jahre lang war ich dort. Jahre und Erfahrungen, die mich geprägt haben, meinen Begriff von Menschen verändert haben.

Nach Ellis Flucht aus unserer gemeinsamen Wohnung und meinem Entschluss, dem Hamburger Kiez auf den Grund zu gehen, habe ich zunächst mich verändert.

Ich habe neue Leute kennen gelernt, gleich haufenweise. Das war zuvor nie meine Stärke gewesen. Leute, von denen ich mir die für mich, nach meinen Kriterien, am besten geeignetsten aussuchen konnte, Menschen, die für mich Freunde oder gute Bekannte werden sollten, oder Menschen, die mir einfach egal sein sollten.

Ich mache große Unterschiede zwischen Freunden und Bekannten. Freunde hast Du eigentlich fürs Leben, so habe ich damals gedacht und empfunden, meine Hamburger Zeit hat mich später ein anderes gelehrt.

Ich war ein ganz normaler, großer Junge, einunddreißig schon, als ich bei meinen täglichen Langeweile - Streifzügen durch Hamburg - St. Pauli immer wieder an dem gleichen Laden vorbeikam, der früher einen Pizzeria war und nun gerade umgebaut wurde. Er nahm mit der Zeit Form und Gestalt an, und bald war zu erkennen, das es ein neuer Table-Dance wurde.

Seit meinen ersten Fernseh-Eindrücken von der Reeperbahn, damals in Mutters Wohnzimmer, war ich fasziniert von den bunten Lichtern, den leichten Mädchen und Schweren Jungs.

Damals schon wusste ich, hierher musst Du eines Tages, das ist Deine Welt.

Nun war ich hier, ohne Kohle und ohne Arbeit, das Schicksal fügte sich, hier Geld verdienen zu müssen, wo ich doch schon hier wohnte.

Als ich noch mit Elli zusammen war, war ich oft zu Besuch gewesen in einem Table-Dance, "Girlie’s" hiess er. Natürlich ohne Elli. Ich liebte die Atmosphäre, die nackten Mädchen auf der Bühne, eine Erfüllung für den heimlichen Voyeur. Und ich gab dort auch zügig meine letzten Groschen, die mir die intensive vierzehn-Stunden-pro-Tag-Arbeit zusammen mit Elli in unserer gemeinsamen kleinen Promotion-Agentur eingebracht hatte, für leichte Mädchen und Sekt -den Piccolo für fünfundfünzig Mark, die halbe Flasche für zwofünfundachtzig-, gerne aus.

Der Laden, an dem ich so oft vorbeiging, war kurz vor der Fertigstellung.

Es war ein warmer sonniger Tag im Mai Neunzehnfünfundneunzig, als im Fenster ein Schild hing:

‘Bald Eröffnung! Tänzerinnen und Kellner gesucht`.

Von wegen Hamburg und hohe Arbeitslosigkeit! Hier wurden noch Leute gesucht. Leute, die was leisteten. Auf dem Kiez.

Ich war sofort entschlossen, aber noch nicht gleich mutig. Ich strich ein paar Mal um den Laden herum, mit klopfendem Herzen. Ich war damals alles andere als selbstsicher. Endlich ging ich rein.

Halbdüsteres Licht, rechts in der Ecke eine gelbe Baustellenleuchte auf einem Stativ, die die Baustelle in gleissend helles Licht tauchte. Zwei Männer waren damit beschäftigt, etwas auszusägen, letzte Arbeiten an der Bühne. Etwas abseits von Ihnen saß ein Mann, gelangweilt. Ab und zu gab er Anweisungen an die Männer, die dort mit einer schweren Sperrholzplatte sichtlich Mühe hatten.

"Guten Tag...!" sagte ich unsicher.

"Zu wem wollen Sie!?" Unfreundlich! Der gelangweilte Mann drehte sich zu mir um. Er war gut angezogen, trug eine kleine runde Nickelbrille und hatte kurz geschnittene blonde Haare, den typischen Kiez-Haarschnitt.

Wenn man auf ein Gesicht von vorne draufsieht, dann ist der Kopf von unten her oval bis hin zur Frisur. Wenn diese Frisur dann eckig nach oben abschließt, nicht länger als drei Millimeter ist und bürstig vom Kopf absteht, dann ist das die Kiez-Frisur.

Ich stellte mich vor, „…der Job als Kellner, was im Fenster steht, ist der noch frei?“ Der Typ stand auf und schaute mich prüfend an.

"Schon mal gemacht?"

„Tja also...“, ich erzählte von meiner Arbeit in der damals größten Diskothek Deutschlands, damals in Kempen am Niederrhein, meiner alten Heimat, der mir gut gefiel und bei dem ich mit vollem Einsatz bei der Sache war. Ich war überzeugt davon, das man diese Bewerbung einfach nicht ausschlagen konnte.

Der Typ, der sich nicht einmal vorgestellt hatte, hörte nur kurz und eigentlich mehr desinteressiert zu.

"Ja, ja, geben Sie mal ihre Telefonnummer, ich ruf dann an, wenn’s soweit ist!" Er tippte die Nummer, die ich angab, in sein Handy.

"Wohnste hier in der Nähe?" Mit einem Mal war er beim "Du". Die Angabe, gleich hier auf dem Kiez zu wohnen, im Niebhr-Hochhaus, wo all die Huren und Luden zuch wohnten, schien meine Bewerbung irgendwie aufzuwerten. Jedenfalls hatte ich damals den Eindruck.

Es dauerte dann aber immer noch ein paar Tage, bis es endlich losging.

Gekellnert habe ich eigentlich nie!

Am ersten Tag meiner Arbeit flog gleich der eben erst eingestellte Discjockey wieder raus. Das geht ja schnell hier.

"Ok, Du machst jetzt den DJ, der andere war ein Arschloch!" teilte mir der Typ vom Einstellungsgespräch mit, als ich den Laden betrat, um meine Arbeit zu beginnen.

Er erklärte mir mit Liebe zum Detail die Musikanlage. Für mich alles böhmische Dörfer. Ich hatte soviel Interesse an Musik wie die Kuh am Sonntagsgebet.

Leider hatte der Typ vergessen, mir zu sagen, wie herum man eine CD in den auf Knopfdruck automatisch herausfahrenden Schacht legt. Die glänzenden Seite nach oben dachte ich, damit sie, wie die Schallplatte, auch von oben abgetastet werden konnte. Ich hatte noch nie eine CD in der Hand gehabt. Die waren damals glaube ich auch noch nicht so lange auf dem Markt. Die Anzeige "Error" im Kontrollfeld des CD-Spielers signalisiert mir, das irgendwas nicht stimmte. Wenigstens ein bisschen Englisch konnte ich.

Ich lernte haufenweise Leute kennen. Zumeist alles schöne, junge Mädchen, die hier tanzten, am Anfang nur ein paar, später wurden es immer mehr. Dass es eigentlich keine Tänzerinnen waren, sondern die "Frauen" der insgesamt vier Besitzer, denen der Laden gehörte, bekam ich bald heraus. Es waren Huren aus der Herbertstrasse und die vier “Jungs” waren ihre Zuhälter, Luden. Ich werde hier keine Namen nennen, nein, sicher nicht. Ich werde ihnen auch keinen anderen, erfundenen Namen geben. Vielleicht heißt einer aus der Branche genauso wie mein erfundener Name. Von Hamburg nach Amsterdam sind’s vierhundertfuffig Kilometer. Für nen Luden-Ferrari vier Stunden Autofahrt. Dann bin ich tot.

Ich bin doch nicht lebensmüde.

Ich arbeitete drei Monate lang in dem Table-Dance.

Es gefiel mir gut. Ich verdiente nicht schlecht und schloss jede Menge Bekanntschaften. Ich fragte unauffällig fiel, nicht aufdringlich aber wissbegierig, immer mit der Option an den oder die Befragte ‚..vielleicht kann ich Dir helfen..!’ und so vertraute sich bald das ein oder andere der leichten Mädchen mir an. Es hätten bestimmt auch gute Bekanntschaften oder gar Freundschaften hieraus entstehen können, aber da waren die “Jungs” davor.

Vom Trotzkopf zur Hure

Wir waren immer schon etwas vor Arbeitsbeginn im Laden, wir - das Personal.

Und eines Tages, kurz vor sieben abends, wir saßen auf der Stufe vorm Laden in der warmen Sommerluft, geschah es.

Die Stufen herauf kamen ein paar Beine, die oben in einem grauen Minirock endeten. Sie waren so schnell drin, dass ich den Rest nicht mehr genau sehen konnte. Ich drehte mich noch um und sah nur, dass sie sehr groß war. Sehr groß, sehr jung, sehr hübsch. Sie hatte einen Lockenkopf, dunkelblond, und Pausbacken, Hamsterbacken, wie sie später immer sagte.

Ich merkte komischerweise in diesem ersten Moment, das sie die war, nach der ich immer gesucht hatte.

Und irgendwie ist sie es heute noch.

"Das ist Jana, eine neue Tänzerin, die tanzt ab heute hier, frag sie, was sie für Musik hört, ob sie eigene CD’s hat und so weiter, weißt Bescheid!" Das war die kurze und knappe Introduktion eines der “Jungs”. Work as usual.

Jana war sehr schüchtern.

Wenn sie sprach - wenn sie denn mal sprach! - dann nur ganz kurz und hastig, nur das Wesentlichste. Sie schaute dabei immer irgendwo hin, nur nicht ihren Gesprächspartner an.

Sie war knapp einsachtzig groß, Figur und Gesicht wie eine Barbiepuppe. Vor ein paar Monaten achtzehn geworden. Sie war ein bisschen linkisch, tollpatschig, und wenn sie was verkehrt machte, lachte sie sofort einen verlegenen Pruster und sah sich schnell um, wer alles das bemerkt haben könnte, was ihr gerade passiert war.

Ich hatte mich ganz, ganz schnell in sie verknallt.

Langsam, ganz vorsichtig, schlossen wir einen labilen Kontakt. Irgendwann fuhr ich sie mal morgens nach der Arbeit nach Hause. Sie sagte keinen Ton, die ganze Strecke. Also sabbelte ich. Irgendwas. Es dauerte Wochen, bis sie auftaute.

Es war nicht ganz leicht, mit ihr zu reden. Wenn sie sprach, dann erschien es mir anfangs völlig unverständlich, zusammenhanglos, unsortiert, was sie sagte. Ich habe viel über sie nachgedacht, viel gefragt. Ich kam dahinter, das sie immer erst das sagte, worüber sie sprechen wollte, sozusagen erst das Hauptwort, ein Stichwort, dann ungeordnete Satzfragmente. Ich lernte, auf Stichworte zu reagieren und dann darauf hin gezielt Vermutungen anzustellen, nachzufragen.

"Meinst Du dies und dies?"

Ein gedehntes: "Joohh... - neeeee!"

Falsch.

Neuer Versuch.

Ich habe alles, was sie gesagt hat, jedes Wort, oben im Kopf abgespeichert und später, wenn ich allein war, darüber nachgedacht. Ich habe mir eine eigene Geschichte von ihr zusammengebastelt, anders ging es nicht, und diese Geschichte bei allen neuen Hauptwötern, die ihrem pausbackigen Schmollmund entwichen, neu korrigiert. So konnte ich sie langsam verstehen, begreifen.

Meine Fragen, und man musste sie alles fragen am Anfang, nahmen Gestalt an und immer öfter hörte ich ein "Joooh - Ja" auf meine Fragen. Die Richtung stimmte. Es war wirklich schwere Arbeit, nur Interesse für ihre Person zählte. Sie dankte es mir mit immer mehr Worten, Offenbarungen, vertrauten Gedanken, die sie nur mir sagte. Denn nur ich verstand sie. Ich war der einzige.

Ich kam dahinter, dass sie zwar eine liebe Mutter hatte, die mir gleich das "Du" anbot, als ich sie kennen lernte, aber leider war sie nicht in der Lage, eine große, schüchterne, trotzköpfige und tollpatschige Barbiepuppe auf den richtigen Lebensweg zu lenken.

Jana und ich freundeten uns an, sie hatte mein Herz erobert, und ich ein bisschen ihres. Von körperlichen Kontakten wollte sie nichts wissen, das merkte ich sofort. Aber da bin ich nicht so forsch, ich konnte warten.

Ich liebte Jana.

Sie fragte inzwischen viel, alles, was sie nicht verstand, sie wusste, sie konnte sich mir anvertrauen, ich machte sie nie lächerlich, nahm mir viel Zeit ihr alles zu erklären, was sie wissen wollte. Ich wusste auch nicht alles. Aber mir ist es eigen, komplexe Zusammenhänge schnell zu durchschauen und zumeist treffende Schlüsse zu ziehen aus den gesammelten Informationen.

Bald fragte sie mich auch über die “Jungs”, die Herbertstrasse.

Leider war ich nicht der einzige, der Interesse an ihr hatte. Die “Jungs” suchten ständig Nachwuchs-Fachkräfte für ihre horizontalen Lokalitäten auf der Meile und so war Jana schnell auserkoren. Durch ihre Neugier, Naivität und ihr Aussehen war sie gleich in das Auswahlverfahren der Luden gekommen. Ihre Bereitschaft, in jedes Fettnäpfchen mindestens einmal zu treten, kam dabei sehr gelegen.

Jana wollte alles kennen lernen, gerade alles Schlechte, so schien es mir, schien einen magischen Reiz auf sie auszuüben. Sie wirkte auf mich, solange wie ich sie kannte, immer wie jemand, der eine Art Gefahren-, ja sogar Todessehnsucht hat; Gefahr sucht, um darin umzukommen. Oder zumindest Nachteile zu erleiden. Mir schien es, als wolle sie sich immer irgendwie selbst bestrafen. Ich bin nie dahinter gekommen, für was.

Sie fragte mich, ausgerechnet mich, ob ich ihr nicht helfen könne, in der Herbert zu arbeiten. Nur mal kurz, sie wollte ‚...mal wissen, wie das ist...’

Das sollte ein Satz sein, den ich später noch öfters zu hören bekam. Immer kurz vor oder kurz nach einer Katastrophe, die sie angerichtet hatte.

Ich konnte wählen: entweder tue ich es oder sie tut es selber. Wenn Katastrophe, dann lieber eine, mit der ich zu tun habe und die ich dann vielleicht - wenn nicht verhindern - wenigstens kontrollieren kann.

Ich verschenke meine Jana

Also bahnte ich ein vertrauliches Gespräch an mit dem einen der “Jungs”, der mir am sympathischsten war.

Wir trafen uns Nachmittags in einem Bistro draußen an der Strasse - auf der Reeperbahn. Er war mit der Harley gekommen, war schon da, als ich erschien. Der Helm lag auf dem einzigen noch freien Stuhl am Tisch, er räumte ihn beiseite, als ich mich setzen wollte.

Mein Herz klopfte bis zum Halse. Irgendwie war es aufregend. Ich saß hier im Kiez-Cafe, um mit einem der großen Luden übers Geschäft zu reden. Und doch war es traurig.

Ich wollte –nein, ich sollte- meine Jana als Hure bewerben.

Ich wusste gar nicht so genau, was ich sagen sollte, bei der Absprache des Termins - und man muss immer einen Termin machen mit den “Jungs” - hatte ich nur gesagt ‘…es geht um Jana`.

Der Lude schaute mich an, als ich saß, prüfend, mit einem ganz bestimmten Blick, den ich nur von Hamburger Luden kennen. Aber von allen. Sie gucken alle gleich, finde ich. Ich würde einen Hamburger Luden in Sydney erkennen, allein am Blick.

Der Blick ist selbstsicher, prüfend, abwartend, sprungbereit, wach, aufmerksam.

Das sind die Vokabeln, die ich alle aufzählen muss. Das Kinn leicht nach unten geneigt, die Kopfhaltung etwas nach links oder rechts, immer vom Gesprächspartner weg, der Blick aber fest in den Augen des Opfers. Ja, so kam ich mir hier vor, eigentlich wie ein Opfer.

Zu meinem Erstaunen ergriff er so ungefähr wie folgt das Wort:

"Du weisst, dass das was wir beide jetzt hier besprechen, strafbar ist?!"

Huch! Was ist denn nun los? Ich will ihm eine willige Arbeiterin vorschlagen und er hält mir eine Moralpredigt?

Er sieht mich fest an, lächelt nicht, redet weiter:

"Auf sowas gibts Knast, und nicht wenig!"

Dann wird er vertraulicher.

"Aber ich finde es gut, das Du gekommen bist, erzähl mal, ihr versteht Euch ja ganz gut, die Jana und Du...!?"

Sein Ton, seine Gesprächsart wurde netter, freundlicher, erst später bin ich dahinter gekommen, dass das alles Masche ist. Masche, erst einschüchtern, dann Vertrauen erwecken, Menschen aushorchen, manipulieren. Tue, als seiest Du ein Freund um mit jemandem über seine Feinde zu reden. So erfährst Du, wie er über dich denkt.

Ich legte los, sie wolle im Puff arbeiten, ob sie das bei ihm mal ausprobieren könne, bat ihn, sie lieb zu behandeln, sie jederzeit wieder gehen zu lassen.

Ich kann nicht sagen, dass er mir das ausdrücklich zugesichert hatte, aber ich spürte irgendwie seine Anerkennung für das was ich tat und er schien zu merken, das es mir nicht leicht viel.

Die “Jungs” hatten alle gemerkt, dass ich es gut konnte mit Frauen.

Weil ich immer einen Vertrauensvorschuss gebe, nicht mit ihnen ins Bett will, sondern an ihnen interessiert bin. An ihren Geschichten, ihrem Leben. So jemand ist für Luden Gold wert.

Später, nach dem die Sache mit Jana begonnen hatte, haben sie mich sogar gefragt, natürlich indirekt, ob ich nicht für sie arbeiten will, um Mädchen zu beschaffen.

Und schon bald nach diesem Gespräch war meine Jana mit dem Mann zusammen, der mich eingestellt hatte.

So hatte ich mir das nicht vorgestellt!

"Jana kommt ab heute nicht mehr! Sie ist jetzt drüben!" Diese kurze knappe Information ließ keine weiteren Fragen zu. Wo "drüben" war, war mir klar.

Von den anderen Frauen hörte ich, das sie jetzt zusammen war mit ihm. Mit dem? Meine Jana? Sie hatte sich doch immer mir anvertraut, wir waren doch Freunde, wenn nicht gar mehr, und jetzt - Jana, eine Hure?

Für mich brach eine Welt zusammen.

Ab und zu tanzte sie noch im Laden, wenn eine andere krank war oder ausgefallen. Mir wurde jeglicher Kontakt über das arbeitsbezogene Sprechen hinaus - und auch wirklich nur dies! - verboten. Meine Jana, die ich doch so liebte. Ich durfte sie nicht mehr sehen, keinen Kontakt haben, nicht reden, nicht telefonieren, nichts.

Ich begann wieder, opportunistisch zu werden. Ich stellte mit Mal alles, was ich bis dahin spannend, abenteuerlich, aufregend gefunden hatte, in Frage. Spionierte hinter den “Jungs” her, hinter Jana, tauchte in der Herbertstrasse auf, der für mich verbotenen Zone, machte mich unbeliebt.

Das war gefährlich.

Janas Zeit als Liebesdienerin dauert nur kurz. Nach zwei Wochen rief sie an. Sie wolle weg, keine Lust mehr, ist doch nichts für sie. Das sagte sie nicht. Das hörte ich. Wenn sie mich anrief, oder später ich sie, dann hörte sich das wie folgt an:

Sie, gedehnt: "Halloo, naaa, wollte mal hören, wie’s Dir so geht...!"

Ich: "Mir gehts gut, Schnullerbacke…", so nannte ich sie immer, wegen Ihrer Hamsterbäckchen, die sie nicht leiden konnte, und die doch so niedlich aussahen und einfach zu ihr gehörten, "…wie geht’s Dir denn?"

Denn wenn Jana anrief und mich nach meinem Wohlbefinden fragte, dann tat sie dies nicht, weil sie das wirklich dringend wissen musste, sondern weil bei ihr was nicht stimmte mit dem Wohlbefinden.

"Joohh, so ganz gut eigentlich..."

Das "..aber!...", was nun eigentlich hätte folgen müssen, habe ich immer deutlich gehört, auch wenn sie es nicht aussprach.

Dann musste ich fragen. Wie früher, am Anfang. Unterstellen. Mutmassen. Annehmen.

Ich musste mir vorstellen, wie es ihr ergangen ist in der Zeit, wo wir nicht gesprochen hatten und musste wieder meine Schlüsse ziehen. Grundlage für diese Schlüsse waren nur mein Einfühlungsvermögen in die naive, labile Jana, die ganz viel Liebe und Wärme brauchte, Verständnis, und nicht die raue, harte Welt des Kiez’.

Sie wollte weg.

Es war nichts für sie. Raus, nur raus. Aber sie konnte das nicht sagen. Nicht zu den “Jungs”. Sie hatte Angst. Sie hatte es ausprobiert, es war nichts für sie. Nun war sie wieder mal drin in einem ihrer Fettnäpfchen, wollte wieder raus, aber schaffte es nicht allein.

Ich sprach mit meinem Lieblings-Luden, der wollte nichts davon hören. Das müsse sie selber sagen, meinte er. Sie ist ja erst kurz dabei, da kann sie das noch gar nicht so beurteilen, hieß es.

Mit anderen Worten: ‘...halt Du Dich da raus!`

Flucht vom Kiez

Nach Mallorca, von jetzt auf gleich. Wir verabredeten uns, sie ging einfach nicht hin zur Schicht in der Herbert, ich nicht mehr zu meinem DJ-Job, mittags waren wir am Flughafen, zwei Stunden später auf Mallorca.

Da fahre ich mit allen neuen Lieben hin, komischerweise, wie ich im Nachhinein feststelle. Erst Elli, dann Jana, dann später Susemarie.

Es war ein schöner Urlaub, Jana ganz für mich allein, allerdings mit ungewisser Zukunft.

Wir hatten beide Angst vor der Rückkehr auf den Kiez. Was würde uns erwarten.

Meinen Job war ich los, soviel stand fest.

Dafür hatte ich Jana.

Noch im Urlaub kamen wir zusammen, danach, zurück in Hamburg, zog sie bei mir ein, in meinen Turm auf der Reeperbahn.

Es wurde keine leichte Zeit mit dem Trotzkopf. Jana wollte immer ihren Willen haben, tat, was sie wollte, hielt sich nicht an Absprachen. Sie war, wie sie es selbst nannte, bockig, tat meist genau das Gegenteil von dem, was sie sollte. Ich versuchte, nachsichtig zu sein.

Ich liebte sie so doll! Es dauerte fast zwei Jahre mit Jana.

Trotzdem war es eine schöne Zeit mit ihr. Voller Sorge, wenn sie aus der Disco am nächsten Mittag erst gegen drei nach Hause kam. Voller Wärme, wenn wir zusammen kuschelten oder Ela bei uns schlief uns wir zusammen das erste Mal Pillen testeten und im anschließenden Sabbelflash uns unsere geheimsten Wünsche und Vorstellungen offenbarten.

Schnullerbäckchen ließ sich im Tunnel, dem Hardcore-Tekkno-Schuppen No. 1 auf dem Kiez, wo Du alles, wirklich alles kriegst, was unters Betäubungsmittelgesetz fällt, Aspirin andrehen statt XTC-Pillen, Aspirintabletten für zwanzig Mark das Stück. Aber leider hatte niemand Kopfschmerzen. Und so musste ich dann mal selbst mit dem Dealer, einem pickligen, verstrahlten Jüngelchen von achtzehn Jahren, der Jana danach monatelang den Hof machte, sprechen. Der hatte es danach kapiert und so gab es nie wieder Aspirin-Tabletten.

Das schlimmste damals war, dass Jana so bockig war. Manchmal kam ich damit echt nicht zurecht. Eines Tages, im Turm auf der Reeperbahn, hatten wir einen Streit. Das war nicht so besonders, das kam öfters mal vor. Immer dann, wenn Schnullerbacke den Bogen überspannte. Dieses mal überspannte sie noch mehr. Worum es damals ging, weiss ich nicht mehr. Sie konnte einfach nicht klein beigeben. Oder ich konnte es nicht. Ich versuchte sie von irgendwas zu überzeugen, aber sie redete immer wieder gegen mich an, hatte ständig das letzte Wort. Das machte ihr Spass. Immer noch einen draufsetzen und noch einen. Ich sah rot.

Sprang auf, rannte zur Couch, auf der sie sass -

und knallte ihr eine.

Und noch eine. Und noch eine. Mit der flachen Hand. Nicht wirklich doll, aber doch feste, rechts und links an den Kopf. Sie sprang auf, rannte Richtung Tür, wollte weg.

"Ich will Dich nie wieder sehen," rief sie unter Tränen, die wirklich echt waren, "es ist aus, dann geh’ ich eben wieder in die Herbert!"

Aber sie sollte doch nicht gehen! Nicht wieder in die Herbert! Ich wollte das alles doch nicht, ich bin nur durchgedreht, hatte keine Kraft mehr, gegen sie anzukämpfen, keine Argumente mehr, wusste keinen Rat mehr. Um sie am Gehen zu hindern, schlug ich in meiner Verzweiflung noch mal zu. In der Ecke neben der Wohnungstür sank sie zusammen, rutschte an der Wand entlang nach unten auf den Boden, wo sie kauern blieb. Sie weinte. Ich auch.

Ich sagte leise "...das wollte ich nicht, Schnullerbäckchen, wirklich nicht, das weißt Du doch!"

Ich stammelte es immer wieder. Wir heulten beide. Ich versuchte ihr alles zu erklären, dass ich keine Kraft mehr hatte, mich ständig mit ihren unverständlichen und teilweise auch gefährlichen Extratouren auseinanderzusetzen, immer auf sie aufpassen zu müssen, was sie eigentlich gar nicht wollte. Ich redete und redete, habe mich eigentlich mehr vor mir selbst entschuldigt.

Sie ist geblieben. Wir waren noch lange zusammen. Geändert hat sie sich nie. Aber ich hatte wochenlang mit dem, was ich getan hatte, zu kämpfen. Ich habe gleich danach Ela angerufen, habe geheult am Telefon, ihr erzählt, was ich schlimmes getan hatte. Sie hat mich getröstet, hat Verständnis für mich gehabt. Ela hatte immer Verständnis für mich gehabt. Es war das erste und einzige Mal im Leben, das ich ein Mädchen geschlagen habe. Das Mädchen, das ich bisher am meistens geliebt habe. Wahrscheinlich reagiert man so nur bei Menschen, die man besonders liebt. Ich bin nie darüber hinweggekommen. Auch heute, jetzt, noch nicht.

Puffbesuch

Später hat Jana noch mal in der Herbert geackert. Für einen anderen Typen, aber vom selben Verein. Diesmal hatte es länger gedauert. Zwei oder drei Monate lang. Ich habe schon nicht mehr daran geglaubt. Aber dann eines Tages wieder so ein Anruf von ihr:

"Naaa? Wollte mal hören, wie’s Dir so geeeht..."

Sie wollte weg. Mal wieder. Sie durfte sich aber mit niemandem treffen, wohnte auch im Puff, also unter ständiger Aufsicht, wir hatten keine Möglichkeit, uns zu sehen, etwas abzusprechen.

Es sei denn... Ich machte einen waghalsigen Plan.

Mitten in der Nacht, im Schutze der Dunkelheit, schlich ich in die Herbert, in die für mich mehr als verbotene Zone. Sie arbeitete gleich im ersten Haus links, wenn Du von der Davidstrasse aus rein gehst, durch das große rote Stahltor mit der Zigarettenwerbung darauf, das die Herbert von den Blicken von der Strasse her von beiden Seiten abschirmt. Die Herbert ist ungefähr hundertfuffzig Meter lang, rechts und links stehen alte kleine Häuschen, alle liebevoll aufgemacht und angestrichen, teils mit roten oder blauen Markisen vor den großen Fenstern, in denen die Mädchen sitzen, überall hängen rote Lampen oder gelbe und blaue. Es ist ein Flair, ein kaum zu beschreibendes Flair auf dieser Strasse, wie ich es noch in keiner anderen Puff-Strasse erlebt habe. Es ist ruhig eigentlich, Männer - und nur die dürfen hier herein - laufen langsam, meist in der Mitte der schmalen Strasse und sehen nach rechts oder links zu den Fenstern hin, hinter denen die Mädchen auffordernd winken.

Im Sommer sind all diese Fenster offen und die Mädchen "kobern" die Freier an: "He, Süsser, komm’doch mal her" oder "Na, so allein heute? Komm’doch mal rein!" Vor manchen geöffneten Fenstern sieht man Männer stehen, die mit dem Mädchen verhandeln über das, was vielleicht gleich stattfinden soll. Über Lieblingsstellungen und Preise.

All das nehme ich jetzt nicht wahr. Ich habe jetzt keine Zeit dazu. Nur Angst. Angst, das mich einer erkennt. Ich bin gerade durch das rote Metalltor gegangen, nur wenige Schritte bis zum ersten Haus. Ich habe eine Kappe auf, den Schirm tief in Gesicht gezogen. Darunter einen Kapuzenpulli, die Kapuze habe ich unter der Kappe auch noch aufgesetzt. Ich sehe unter dem Rand der Kappe, dass ein Mädchen im Fenster steht, eines, das ich kenne. Hoffentlich erkennt sie mich nicht. Jana steht an dem Fenster, dass in die Haustür eingebaut ist - Gott sei Dank! Sie macht schnell auf, wir hatten diese Aktion abgesprochen, ich laufe hinein. Drinnen sieht mich niemand. Rechts im Haus kommt erst der Raum, der zu den Fensterplätzen geht, dahinter eine kleine Küche mit Aufenthaltsraum. Alles ist mit Holz verkleidet, überall rote Lampen, die ein fahles Licht auf das Interieur werfen. Alles sieht sauber und ordentlich aus. Es riecht nach billigem Parfüm und Desinfektionsmittel, auch ein wenig nach dem Latex der Gummis. Über eine schmale und knarrende Treppe, die gegenüber der Tür am Ende des Flures liegt, gehen wir hinauf in den ersten Stock, gleich links ist Janas Zimmer. Weiter hinten auf dem kleinen Flur geht mit mal eine Tür auf - ich kann gerade noch in Janas Zimmer flutschen, schnell die Tür hinter mir zu! Die meisten Mädchen hier in der Herbert kenne ich mittlerweile alle. Gefährlich!

Ich muss bezahlen, mindestens ein Mädchen hat gesehen, das ein Freier zu Jana gegangen ist, also muss sie jetzt mit Geld runter in den Wirtschafterraum. Ich gab ihr, wenn ich mich recht erinnere, vierhundert oder vierhundertfuffzig Mark. Für die Stunde. Sie verschwindet mit dem Geld.

Ich sehe mich im Zimmer um.

Wenn Du zur Tür reinkommst, steht vor Dir ein französisches Bett an der Wand. Nicht so ein tolles, mit Metallschnörkeln oder so, nein, es hat nur die Masse eines französischen Bettes, ansonsten ist es ein stabiler Holzkasten mit Matratze darauf, ein so genanntes Puffbett, artig und sauber bezogen, aber mit einem Laken, das nur darüber gelegt ist. Nach jedem Freier wird es schnell gewechselt. Hoffentlich!, denke ich noch. Rechts an der Wand steht ein kleiner Tisch und zwei Sessel von Oma, die nicht zusammengehören, daneben ein Kleiderschrank. Rechts von der Tür, also an der schmalen Wand befindet sich ein Waschbecken. Auf dem Tisch stehen Gefäße und Schalen, mit Seife, mit Kondomen und eines mit irgendwelchem Kleinzeug, das ich nicht erkennen kann. Die Wände des Zimmers sind rosa gestrichen.

Jana wohnt hier auch. Das heißt, es ist auch ihre private Wohnung. Das verlangen die “Jungs”, das ist wohl überall so, gerade bei neuen Frauen, damit sie sie besser kontrollieren können. Ich sehe Janas Radiorecorder, ein paar ihrer Klamotten liegen auf einem der Sessel, Lackklamotten, dafür hat sie ein Faible. Ich auch.

Sie kommt wieder, wir lieben uns erst und besprechen danach, wie es weitergehen soll. Ich habe meine Schnullerbacke im Puff geliebt! Verrückt.

Jana wollte weg hier. Und wieder tanzen, im Girlie’s. Ich versprach, mit ihrem Typen zu sprechen.

Ich kannte den Luden ganz gut, er war ein so genannter Jung-Lude, gewissermaßen noch in der Lehre, und ich kannte ihn schon aus dem Table-Dance. Ich habe gesprochen und gesprochen, damit ich nicht eine hohe Abstecke zahlen musste, habe versprechen müssen, das sie nur noch tanzt und nicht für mich oder einen anderen ackert.

Dabei hat der mir auch erzählt, das das Mädchen, das mich zuvor vom Fenster des Puffs aus gesehen hatte, mich gleich erkannt und verpfiffen hatte. Aber er hat den „Grossen“ nichts erzählt. Danke!

So ist das auf dem Kiez.

Er hat sie gehen lassen. Und mich auch. Hätte ich Pech gehabt, wäre ich jetzt vielleicht wirklich Teil des neuen Pfeilers der Elbbrücke. Der ist aus Beton. Luftdicht eingeschlossen „überlebt“ dein toter Körper da sicher dreitausend Jahre. Und danach finden dich vielleicht mal die Marsmännchen.

Ela hat mir vor kurzem erzählt, sie habe mit Jana gesprochen, darüber, warum sie sich immer Luden aussucht.

Sie hatte geantwortet: "Ich brauche ein bisschen Strenge. Christian war immer zu lieb zu mir."

Jana ist heut nicht mehr auf dem Kiez. Sie ist verheiratet. Mit einem Millionär, einem Soliden, der rein gar nichts von ihrer Vergangenheit weiß. Sie hat ein Kind und ist glücklich in der gemeinsamen sechshundert Quadratmeter-Villa mit Haushälterin.

Ich sehe sie ab und zu noch – und denke jedes Mal mit Wehmut an all dies.

Mit Blaulicht durchs Rotlichtviertel

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