Читать книгу Brennpunkt Ukraine - Christian Wehrschütz - Страница 9

Оглавление

CHRISTIAN WEHRSCHÜTZ: Wenn man sich die Geschichte der Kommunistischen Partei in der Sowjetunion ansieht, ist es sehr interessant, dass in der Tat zwei führende Persönlichkeiten der KPdSU, Chruschtschow und Breschnew34, eine besondere Beziehung zur Ukraine hatten. Chruschtschows Familie übersiedelte 1908 ins Donezbecken, Breschnew stammte aus Dneprodserschinsk.

JACK F. MATLOCK: Ich denke, dass die östliche Ukraine allgemein ziemlich gut in Russland integriert war. Die Partei hatte jedoch besonders im Osten mit großen wirtschaftlichen Schwierigkeiten zu kämpfen, vor allem in den Bergbaugebieten und in der Schwerindustrie. Die Volksdeputierten, vor allem aus Donezk, standen vielen Wirtschaftsreformen, die von Moskau ausgingen, sehr kritisch gegenüber.

Ich denke also, dass es in der östlichen Ukraine Widerstand gegen die Perestroika gab, insbesondere gegen Gorbatschows35 Versuche, einen Großteil der Wirtschaft aus der Kontrolle der Partei zu befreien. Nach dem Scheitern und dem Putschversuch dort entschied man sich also dafür, die Unabhängigkeit zu unterstützen, um zu vermeiden, dass sie unter eine strengere Kontrolle von Moskau kommen. Sie haben also gemeinsame Sache mit den Nationalisten im Westen gemacht. Aber ich glaube, dass dies eine Zweckehe war, die nie richtig funktioniert hat – die Ergebnisse sehen wir noch heute.

Aber bedeutet das, dass dies eine Entscheidung für die Unabhängigkeit war, um die Reformen zu vermeiden? Ich meine, wenn die Partei ihre Macht verloren hätte und es weiter abwärts gegangen wäre, hätte sich eine Art Marktwirtschaft entwickelt, wenn man es so nennen darf. Und das hätte wohl auch für die Bergbaugebiete sehr, sehr schmerzhafte Reformen bedeutet?

Ja, in der Tat. Aber darum denke ich, dass die Haltung im Westen der Ukraine, vor allem in Galizien, wirklich kulturell anti-russisch war – und im Osten war sie nicht anti-russisch. Aber viele waren Russen oder russlandfreundliche Ukrainer. Immerhin etwa 44 % der Bevölkerung – ich habe die Umfragen gesehen – sprechen lieber Russisch, das gilt natürlich für fast alle ethnischen Russen. Ein beträchtlicher Anteil der ethnischen Ukrainer, vor allem im Osten, ist wirklich in der russischen Kulturwelt aufgewachsen und spricht lieber Russisch. Natürlich gibt es dabei auch eine Spaltung: Vor allem im Osten wird Ukrainisch eher in den ländlichen Gebieten gesprochen, während das Russische die Sprache in den Städten ist. Es existiert also auch noch eine Land-Stadt-Trennung.

Aber ich denke, ich habe in meinem Buch über Stalin beschrieben, wie er Galizien, die anderen westlichen Territorien, die baltischen Staaten und die Republik Moldau nach dem Hitler-Stalin-Pakt einnimmt und dann natürlich am Ende des Zweiten Weltkrieges zurückerobert – und wie das Integrieren in die Sowjetunion einen „Krebs“ in das System brachte. Ich bin noch immer nicht davon überzeugt, dass die Sowjetunion auseinandergebrochen wäre, wenn das Band von Territorien – das Baltikum – zumindest nominell unabhängig geblieben wäre und der Rest dort gelassen worden wäre, wo er war, in Polen und der Slowakei, der Tschechoslowakei dann. Aber das ist Spekulation, wir wissen das. Und ich habe in dem Buch beobachtet, dass die Balten in allen anderen Republiken tatsächlich eine Opposition zum sowjetischen Zentrum organisierten. So veröffentlichten die Esten zum Beispiel regimekritische Zeitungen in kasachischer Sprache. Sie teilten die Sowjetunion auf, jeder nahm drei oder vier Republiken und versuchte, eine unabhängige Bewegung in ihnen zu fördern. Ich bin mir nicht sicher, ob das entscheidend war, aber der wirkliche Impuls in der Ukraine kam natürlich vom Westen und war sehr nationalistisch. Und da war natürlich die Art und Weise, wie die vereinigte Kirche unterdrückt worden war. Eigentlich gab es mehr Gewalt dort im Westen, weil eine Art Guerillakrieg für mehrere Jahre am Ende des Krieges fortgeführt wurde, bis zu einem gewissen Grad unterstützt vom Westen, wenn auch heimlich.

Obwohl das Referendum im Dezember 1991 mit überwältigender Mehrheit für die Unabhängigkeit war, war das, glaube ich, eine Zweckehe zwischen den Nationalisten im Westen und der Partei im Osten. Und diese dauert in der unabhängigen Ukraine weiter an.

Aber auf der anderen Seite bedeutet russischsprachig doch nicht prorussisch?

Nein, das ist richtig, absolut. Nun, russischsprachig bedeutet nicht, dass die Menschen unbedingt in Russland leben und in die aktuelle Russische Föderation wollen. Ich denke, es bedeutet, dass sie im Wesentlichen in einer Welt leben wollen, die der russischen Kultur verpflichtet ist. Sie wollen sich sicher fühlen, dass die Verwendung von Russisch sie nicht zu Bürgern zweiter Klasse macht. Ich denke also in diesem Sinne, dass die erste Abstimmung nach der Maidan-Revolte vornehmlich darauf zielte, das Ukrainische zur einzigen Amtssprache zu machen. Ehrlich gesagt, das war einfach nur dumm, weil die Ukraine nicht weiter zusammenbleiben wird, wenn man es aufgrund von Sprachdifferenzen nicht schafft, eine gemeinsame Loyalität zur ukrainischen Nation zu entwickeln. Die Regelung zur Amtssprache muss auch Russisch beinhalten, wenn man die Russisch sprechenden Menschen, unabhängig davon, ob sie russischer oder ukrainischer Herkunft sind, als vollwertige ukrainische Bürger mit einer Loyalität gegenüber dem Staat mit einschließen will.

Im Osten ist das Sprachproblem auch ein Problem der Generationen. Dort gibt es ältere Menschen, die mit einer gewissen Nostalgie an die Sowjetunion zurückdenken. Für sie sah es damals stabiler aus und vielleicht hatten sie dort einen Platz. Am Beispiel der Babuschkas36, die sich in Donezk aufgelehnt haben, und der ebenfalls älteren Frauen, die Stalin-Bilder mit sich tragen, lässt sich das gut zeigen. Das ist aber ein Phänomen, das man nicht nur in Teilen der Ukraine findet. Es gibt eine Reihe dieser Splits und ich möchte damit nicht sagen, dass eine große Zahl der russischsprachigen Menschen im Osten der Ukraine tatsächlich Teil Russlands sein will. Die Dinge in Russland auf der anderen Seite der Grenze sind nicht so viel besser. Aber die Menschen wollen respektiert werden und ich denke, dass dies eine Grundsatzfrage ist – ein Problem, das die führenden Politiker im Westen noch nicht ganz verstanden haben.

Bevor wir auf die aktuelle Situation zu sprechen kommen, habe ich noch eine historische Frage: Warum wurde die Ukraine nach dem Ersten Weltkrieg in dieser Form gegründet, ohne die westlichen Teile? Und auch die Krim war kein Teil davon, Donezk und Lugansk waren wiederum russische Gebiete des zaristischen Russlands. Es gab keine Ukraine im zaristischen Russland – und das erinnert mich ein wenig an die Situation, wie sie im ehemaligen Jugoslawien war: Nach dem Ersten Weltkrieg war Slowenien in drei Teile aufgeteilt. Es gab ebenfalls Probleme, es gab kein Slowenien als Nationalstaat, sondern nur die Provinz Slowenien. Auf der anderen Seite hatte man unter Titos Zeiten eine autonome Republik, die autonomen Gebiete Kosovo und Vojvodina und dann war da immer die Kritik der serbischen Nationalen oder serbischen Intellektuellen, dass ein starkes Jugoslawien immer ein schwaches Serbien bedeuten würde. Was waren für die kommunistische Führung am Ende der Revolution und nach dem Bürgerkrieg die Gründe, die Ukraine zu bilden? Geschah dies, um Russland zu schwächen, oder was war der Grund? Was meinen Sie dazu?

Nun, wenn es um Nationalitäten geht, war Stalin wahrscheinlich die wichtigste Figur. Er hat wirklich versucht, Menschen zusammenzubringen, die nicht unbedingt zusammen sein wollten, also Abchasien mit Georgien und Südossetien mit Georgien anstatt mit Nordossetien usw. Ein Ziel seiner Nationalitätenpolitik war es, „gemischte“ Bereiche zu schaffen – was jeden Schritt in Richtung echte Unabhängigkeit behindert hat. Ich bin zumindest dieser Behauptung begegnet und natürlich hat man im Donbass daran erinnert, dass die Kosaken eine verächtliche Haltung gegenüber den Ukrainern, den Bauern, einnahmen. Sie wurden Khokhol genannt. Das bedeutet auf Russisch „Wasserspeier“, eine Art Schimpfwort für die Ukrainer. Und doch waren diese Länder die Kosaken-Länder, die sich im 17. Jahrhundert Russland angeschlossen hatten. Aber auch sie wurden geteilt, weil die Kosaken im Wesentlichen Russisch sprachen und sich selbst als Russen sahen. Sie waren entlaufene Leibeigene, die ihre Unabhängigkeit von ihren Herren bekamen, aber in die Grenzgebiete gingen und in der Tat eine Miliz bildeten. Die Kosaken wurden zum Puffer gegen die Nomadenvölker, die gelegentlich die Gegend überfielen.

Ich denke also, dass die Ukraine tatsächlich „Grenzland“ bedeutete, so wie dies für die „Ostmark“ im Osten des Frankenreichs galt. Da Stalin und die anderen bolschewistischen Führer wollten, dass man die nicht-russischen Nationalitäten respektierte, teilten sie diese Republiken auf und gaben ihnen Namen, die normalerweise vielleicht die Mehrheit der Bevölkerung vertraten, manchmal nicht einmal die Mehrheit. Aber sie behaupteten: Okay, wir haben keinen großen russischen Chauvinismus, wie die Zaren ihn hatten, und wir respektieren diese Nationalitäten. Natürlich wurde von allen Nationalitäten erwartet, loyal zu den Bolschewiki und zum Kommunismus als Ideologie zu sein. Natürlich entwickelten sie auch die Idee, dass der neue sowjetische Mensch fast frei von diesen nationalistischen Tendenzen sein und eine höhere Treue zum Gesamtstaat haben müsse.

Ich glaube, Gorbatschow hat die Kraft des lokalen Nationalismus nie wirklich verstanden. Er dachte tatsächlich, man hätte einen sowjetischen Menschen in diesem Sinne geschaffen. Und das ist – zusammen mit KGB-Desinformation – ein Grund dafür, dass ihm nicht bewusst war, wie stark einige dieser Tendenzen waren. Ich meine, ihm wurde zum Beispiel durch den KGB gesagt, dass nicht viele Litauer Landsbergis37 etc. wirklich unterstützten, was einfach nicht der Wahrheit entsprach.

Der Punkt ist, dass Stalin und die anderen bolschewistischen Führer die Fassade des Respekts für die nicht-russischen Völker aufrechterhalten wollten – ohne dass sie wirklich die Kontrolle über sie hatten. Einige der ersten Säuberungen in der Ukraine waren natürlich gegen Angehörige der ukrainischen Nationalität gerichtet. Galizien und die westlichen Gebiete waren in den 1920er- und 1930er-Jahren noch nicht einmal Teil der Ukraine. Aber auch damals gab es eine historische Trennung zwischen den Bereichen westlich von Kiew, die Teil des Königreichs Polen und Litauen gewesen waren, und denen, die weiter östlich lagen, die russisches Grenzland gewesen waren. Und wenn man diese Dinge alle zusammensetzt, schafft man jene Situation, die wir heute haben. Und natürlich ist die Krim noch einmal eine völlig andere Frage.

Glauben Sie, dass eine Art militärische Lösung mit vertretbarem Aufwand überhaupt möglich ist?

Ich habe keine Ahnung. Ich bin nicht nah genug dran. Man sieht so viele widersprüchliche Berichte, wer was tut, und offensichtlich war die russische Propaganda sehr stark. Aber ich denke, auch Kiew hat uns nicht immer ein vollständiges Bild von dem gegeben, was geschehen ist. Alle verzerren die Berichte in ihre eigene Richtung. Offenbar war die ukrainische Armee viel besser organisiert als in Slowjansk, offenbar sind auch viele militante Kräfte von dort einfach nach Donezk gegangen. Es wird viel schwieriger, in Donezk, einer viel größeren Stadt, zu agieren, mit all der Zivilbevölkerung. Ich denke, dass diese „Rebellen“ professionelle Kämpfer sind. Man könnte sie Söldner oder Veteranen nennen, sie sind ziemlich hart.

Es ist keine Frage, dass die Russen diese Rebellion gefördert haben. Auf der anderen Seite bin ich nicht sicher, dass Russland sie vollständig kontrolliert, obwohl sie zusätzlich zu den öffentlichen Appellen zweifellos ihre verdeckten Verbindungen haben, über die sie Nachrichten weitergeben. Aber auch wenn Putin wirklich wollte, dass sie ihre Waffen niederlegen, vermute ich, dass sie es nicht tun können. Aber es gibt so viel, ich würde sagen, Mangel an Glauben auf beiden Seiten, es gibt offensichtlich auf beiden Seiten kein Vertrauen, dass man zu einer zufriedenstellenden Vereinbarung kommt, die die andere Seite halten wird. Ich denke, es ist eine sehr schwierige Situation. Aber sicherlich kann ich nicht hier sitzen und sagen, wie es weitergeht.

Ich weiß nicht, wie viel Unterstützung die aktuelle Regierung in Kiew tatsächlich hat. Ich bin aber ziemlich sicher, dass die meisten Menschen in der Region Donezk nicht Teil der Russischen Föderation werden wollen. Auf der anderen Seite sind es wahrscheinlich nicht alle, die für Petro Poroschenko sind, in Anbetracht seines Hintergrunds.

Sie haben in einem Ihrer Blogs erwähnt, dass die Ansicht der meisten Medien über die Unruhen zu sein scheint, dass der eine oder der andere die Ukraine gewinnen oder verlieren wird. Und Sie haben gesagt, glaube ich, dass dies ein fundamentaler Fehler sei. Auf der anderen Seite war es Zbigniew Brzeziński38, der diesen berühmtesten Ausspruch über die Ukraine und Russland machte: Ohne die Ukraine wird Russland niemals wieder ein Imperium sein, und mit der Ukraine wird Russland fast sicher wieder ein Imperium …

Ich stimme dem nicht zu … dieser Art zu denken. Zbig ist ein Pole – und Polen, glaube ich, waren noch nie in der Lage, eine vernünftige Ansicht von Russland zu haben und dies intellektuell auszudrücken. Okay, man kann sagen, Russland ist ein Imperium, weil dort 20 % Muslime leben. Sind die USA ein Imperium? Ich meine, das ist nicht wirklich die Art, wie ich es betrachten würde. Brzeziński fand ebenfalls die These von Mackinder sehr attraktiv, dass derjenige, der das „Kernland“ kontrolliert, die Welt kontrolliert39 – was nie wahr gewesen ist. Wenn jemand überhaupt das Kernland kontrolliert hat, hat er das Kernland kontrolliert und sonst nichts. Das ist die Geschichte: Großbritannien war nicht das Kernland, aber das britische Empire kontrollierte, als es eine Seemacht war, mehr von der Welt als alle anderen Staaten zu der Zeit. Jetzt geht es auch um die Macht in der Luft, im Weltraum usw. und das Kernland, wie es dort definiert ist, neigt dazu, ein riesiges Gebiet zu sein. Ich meine also, einige dieser abstrakten Theorien, die Brzeziński angezogen haben, sind meines Erachtens nachweislich nur falsch.

Wenn alles russischer Imperialismus ist, sogar in einem Gebiet mit mehrheitlich Russen, die in Russland sein wollen, was wahrscheinlich auf die Krim zutrifft, wenn das Imperialismus ist, was ist dann mit der Selbstbestimmung? Sind es nur Russen, die kein Recht auf Selbstbestimmung haben? Ich meine, das ist so, wie es den Russen scheint, und das ist nicht so sehr übertrieben. Denn obwohl es eine Abstimmung auf der Krim gab, ob man in der Sowjetunion bleibt (und die Abstimmung für die Unabhängigkeit war etwas über 50 %, wenn ich mich erinnere, die im Dezember 1991), gibt es keine Frage, dass die Mehrheit der Russen dort zumindest kulturell nie das Gefühl hatten, ukrainisch zu sein. Und sie wurden nie gefragt: Würden Sie es vorziehen, in Russland oder der Ukraine zu sein? Nie wurde das gefragt. Dieses neueste Referendum, das nicht frei war, beantwortete angeblich diese Frage. Aber ich vermute, im Einklang mit den Meinungsumfragen, dass weit über 50 %, vielleicht nicht viel mehr als sechzig, nicht überwältigend, schon gar nicht 90 % wirklich lieber in Russland sein würden. Und sicherlich hat Russland die Krim als Teil des russischen Territoriums angesehen, seit Katharina die Große die Halbinsel von den Tataren übernahm. Damit wird dies zu einer sehr emotionalen Angelegenheit. Ich denke, es hat wirklich nichts damit zu tun, ob Russland wieder ein Reich sein wird oder nicht. Es scheint mir, dass das eine sehr engstirnige polnische Ansicht ist.

Die Ukraine ist ein Nachbarland Russlands, sie unterhält enge Beziehungen zu Russland. Für die Vereinigten Staaten ist sie nur ein Teil, eine Bevölkerung, ein Staat im geopolitischen Streit und geopolitischer Gewinn. Auf der anderen Seite ist die Ukraine für Russland wirklich von lebenswichtiger Bedeutung. Wie sehen Sie das, wenn Sie vergleichen, was die Ukraine für die Vereinigten Staaten und was die Ukraine für Russland bedeutet?

Ich glaube nicht, dass die USA tief in diese Fragen einbezogen werden sollten. Ich verstehe, dass es ein Prinzip der Souveränität und der Störungen gibt, die territoriale Integrität, all das, das sind wichtige Fragen. Dies sind wichtige Prinzipien, aber es gibt auch andere, Selbstbestimmung ist eines von ihnen. Wir haben die Richtlinien der Schlussakte von Helsinki. Aber meiner Ansicht nach war der Angriff auf Serbien im Kosovo ohne UN-Mandat, sondern nur durch die NATO – und dann die Anerkennung der Unabhängigkeit des Kosovo durch die USA und eine Reihe von NATO-Verbündeten – eine direkte Verletzung der Verpflichtungen von Helsinki. Diese besagen ja, dass, wenn es Änderungen der Grenzen gibt, dies in gegenseitigem Einvernehmen geschehen muss. Jetzt hat natürlich nicht die NATO oder eines ihrer Mitglieder das Gebiet des Kosovo eingenommen, aber die USA und einige andere haben den Kosovo zumindest als unabhängig angesehen – mit dem Effekt, dass Krieg gegen Serbien geführt wurde, obwohl kein Angriff gegen ein NATO-Mitglied vorlag. Wie Sie gut wissen, erkenne ich das schreckliche humanitäre Problem an, das wir damals hatten, aber: Wenn wir auf absolute Rechtmäßigkeit in unseren internationalen Maßnahmen bestehen, waren es die NATO und die USA, die diese dann verletzten – so ja auch der Vorwurf Putins. Er geht allerdings noch einen Schritt weiter und annektiert tatsächlich die Krim, anstatt sie einfach als unabhängig anzuerkennen. Und natürlich verletzte auch die amerikanische Invasion im Irak die völkerrechtlichen Standards. Damals dachten wir, dass wir einen guten Grund dafür hätten. Ich persönlich habe dies nicht geglaubt, aber die Sache ist, denke ich, die: Putin kann nun diese Präzedenzfälle, nicht streng nach den völkerrechtlichen Normen zu handeln, nehmen, um zu sagen: Dies gibt mir das Recht, auch die Normen zu brechen, wenn ich sehe, die Situation rechtfertigt dies. Ich glaube nicht, dass diese Logik richtig ist, aber besonders wir Amerikaner und auch andere NATO-Mitglieder sollten bedenken, dass wir selbst in der Vergangenheit bei der Einhaltung all dieser abstrakten Prinzipien nicht so streng waren.

Abgesehen von einem abstrakten Interesse am Recht des ukrainischen Volkes auf seine Unabhängigkeit, haben wir kein wesentliches Interesse an der Ukraine. Und es scheint mir, dass der Versuch, die Haltung von jenen Kreisen im Westen zu stärken, die eindeutig anti-russisch in ihrer Sicht sind, keine kluge Politik war. Denn entsprechend ihrer Lage wird die Ukraine immer wichtiger für Russland sein als für die weiter entfernten USA. Genauso wie auch Nordkorea viel wichtiger für China ist als für die USA.

Aber ich hatte die ganze Zeit das Gefühl, dass die USA und die EU vollständig transparent mit den Russen arbeiten, um die Ukrainer zu ermutigen, ihre eigenen Bereiche zu entwickeln und das Land nicht zu teilen. Der wirtschaftliche Druck, den Russland auf die Ukraine ausübte, vor allem im letzten Jahr, und der Versuch, sie vom Abkommen mit der EU abzuhalten, denke ich, war absolut unangebracht. Ich glaube nicht, dass das tatsächlich im Interesse Russlands ist. Aber es scheint mir, was all das treibt, sind die Aussicht, dass, wenn jene im Westen die Kontrolle über die Ukraine weiterhin halten, die Ukraine ein NATO-Mitglied werden dürfte, und die Tatsache, dass wir noch nie bereit waren, diese Linie wirklich zu ziehen – ich meine mit „wir“ die NATO als Ganzes. Ich kann mir nicht vorstellen, wie die europäischen Verbündeten der NATO jemals erlauben werden, die Ukraine einzubinden. Dennoch denke ich, dass die Russen dies befürchten. Putins Aussagen über die Marinebasis in Sewastopol machten ziemlich klar, dass er bei den Verhandlungen mit der EU einfach die Art von Vorteil sah, die Ukraine in die NATO einzubinden – und das Nächste, was passieren würde: Sewastopol würde zu einer US-Marinebasis. Das war sein Albtraum und er machte Aussagen in diese Richtung. Ich glaube nicht, dass das je realistisch sein könnte, aber einige unserer Maßnahmen und Strategien haben diese Wahrnehmung wohl unterstützt. Ich verstehe nicht, warum Kiew nicht verstehen konnte, wer immer in Kiew war, dass das eine Sache ist, die sie nicht tun können: um die Mitgliedschaft in der NATO zu buhlen. Keine russische Regierung kann das akzeptieren.

Aber auf der anderen Seite ist Georgien zwar nicht NATO-Mitglied, aber es gibt eine sehr enge militärische Zusammenarbeit zwischen den USA und Georgien. Auch wenn die Ukraine nicht Mitglied der NATO wird, kann diese eine sehr enge militärische Zusammenarbeit mit den Vereinigten Staaten anpeilen. Das wäre wohl ein weiterer Albtraum für die Russen?

Sie würden sich darüber Sorgen machen, ja. Ich denke, dass wir in Georgien zu weit mit unserer militärischen Zusammenarbeit gegangen sind. Zuerst haben wir Putins Genehmigung erhalten, als wir einige Ausbilder schickten, denn das war, um eine gewisse Kontrolle über die Grenzen wiederzuerlangen. Die ganze Situation ist sehr komplex, aber es scheint mir, dass vor allem während der Bush-Regierung, als Georgien Truppen in den Irak schickte, die Georgier zu einem bestimmten Zeitpunkt das drittgrößte Kontingent dort waren. Wir haben viel in militärische Hilfe gesteckt. Ich glaube, wir haben Saakaschwili40 nicht geraten, Südossetien anzugreifen, aber Tatsache ist, dass die georgischen Aktionen in der Wahlkampagne von McCain41 2008 Unterstützung fanden. Die Sache war, so denke ich, ein Fehler. Wir hätten den Georgiern klarmachen sollen, dass sie nicht in der Lage sein werden, das Problem in Abchasien oder Südossetien mit Gewalt zu lösen. Sie hätten ihre Wirtschaft aufbauen und ihre Seite der Grenze attraktiver als die andere machen müssen. Schewardnadse42 hat das wohl verstanden, aber Saakaschwili offenbar nicht. Ich denke, wir haben auch zu viel Militärhilfe gegeben. Ich glaube aber nicht, dass der Zweck der war, dort amerikanische Stützpunkte zu errichten. Zumindest unser Militär ist den Russen aus dem Weg gegangen, um sicherzustellen, dass die Russen verstanden, dass wir die Dinge nicht heimlich hinter ihrem Rücken taten.

Wie sehen Sie jetzt die Entwicklung, nachdem die Ukraine das Assoziierungsabkommen unterzeichnet hat? Denken Sie, dass dieser Zeitraum von zehn Jahren, in dem die Ukraine ihre Wirtschaft an die europäischen Standards anzupassen hat, eine Art von Entscheidung für die weitere Orientierung der Ukraine bringen wird? Gibt es etwas, das getan werden kann, dass Russland endlich damit leben kann? Denn die Russen argumentieren damit, dass die US-Wirtschaftsinteressen durch diese Vereinbarung versteckt werden. Wie denken Sie darüber?

Das ist schwer vorherzusagen. Es ist offensichtlich: Solange die Ukraine nicht zusammenwächst und ein Land ist, wird es sehr schwer sein, diese Reformen durchzuführen. Auch unter den besten Umständen. Ein Problem ist, denke ich, das wirtschaftliche Defizit des ganzen Landes und das Ausmaß der Unterstützung, das es von außen bekommen wird. Ein weiteres Problem ist, dass vor allem die östliche Ukraine sehr abhängig von russischem Gas und russischer Energie ist, die für einen Großteil dieser Zeit unterhalb der Marktpreise geliefert wurde. Viel davon wurde einfach verschwendet, es gab keine Entwicklung der Wirtschaft. Viele dieser wirtschaftlichen Gründe bedeuten, dass die Art von Reformen, welche die EU und der IWF fordern werden, äußerst schwierig durchzuführen sein werden, selbst wenn man Russland nicht miteinbezieht. Nun, wenn man versucht, die Reformen in einer Weise durchzuführen, dass Russland der Auffassung ist, sie seien gegen seine Interessen, dann hat es offensichtlich die Mittel, sie undurchführbar zu machen. Lassen Sie uns realistisch sein, auch hier weiß ich nicht, wie man es vorhersagen kann.

Aber es scheint mir, wenn die EU und die USA von Anfang an (ich meine, mindestens ein Jahrzehnt zurück) abgestimmt hätten, welche Vorschläge wir als Unterstützung für die Modernisierung der Wirtschaft in der Ukraine zu machen hätten, hätten wir Russland die gleichen Vorschläge gemacht. Denn Russland braucht die gleichen Reformen. Wenn Russland die Ukraine in so etwas wie die Wirtschaftsunion sperrt, die Putin vorschlägt, wird das das ganze Gebiet zurückhalten. Ich meine, es wird in einem viel kleineren Bereich, etwa der Sowjetunion, sein und es wird scheitern. Das ist schade, weil man vor Ort einfach die Kontrolle der Oligarchen stützt und man sieht ein korruptes System, das sich von beiden Ländern ernährt. Sie leiden beide unter einer unzureichenden Reform des Sowjetsystems. Seien wir ehrlich, in vielerlei Hinsicht ist die Ukraine nicht so weit wie Russland in den Reformen gegangen. Daher ist dies eine sehr schwierige Frage. Ich denke, es ist bedauerlich, dass offenbar nicht erkannt wurde, dass es praktisch gesehen keine Alternative dazu gibt, diese Dinge in Zusammenarbeit mit Russland zu tun. Denn wenn sie sie als unvereinbar mit ihren Interessen ansehen, haben sie viele Mittel, sie zu untergraben und nicht zu unterstützen. Zudem war die Elite in beiden Ländern bis vor fünfundzwanzig Jahren die gleiche, die gleiche Einrichtung, die gleichen Sicherheitsleute usw.

Es erscheint mir daher sehr bedauerlich, dass sich dies aufgrund der Aktionen vor allem von Russland, aber auch der EU und den USA, zu einem Tauziehen entwickelt hat, wer die Kontrolle über die Ukraine bekommt. Und Russland wird dem Westen, und insbesondere den USA, nicht erlauben, vorherrschenden Einfluss über eine vereinte Ukraine zu gewinnen. Sie haben die Mittel, um zu vermeiden, dass das geschieht. Ich meine, in realistischer Anerkennung dessen hätte man in erster Linie bei der letzten Stufe der NATO-Erweiterung sagen sollen: „Okay, das ist es, es geht nicht mehr weiter, es sei denn, Russland wird dabei miteinbezogen.“ Mit anderen Worten: Die NATO hätte nicht engere Beziehungen mit der Ukraine oder, ich würde sagen, Georgien als Russland haben sollen. Ich denke, das ist einfach nur realistisch, denn solange es bezüglich der damit verbundenen Sicherheitsaspekte keine Entspannung gibt, werden sie die wirtschaftliche Integration nicht akzeptieren. Nun, denke ich, sie haben mit Finnland und mit Schweden gezeigt, wenn es keine Frage der NA-TO-Erweiterung gibt, dann ist es okay. Finnland und Schweden können Mitglied der EU werden, ohne großen Widerstand von Russland usw. Aber leider haben wir das nicht vom Tisch genommen.

Ich denke, aus russischer Sicht fürchtet man, dass zum Beispiel, sobald die Beschränkungen für die Einfuhr von Waren aus dem Westen in die Ukraine abgesenkt werden, die russischen Exporte in die Ukraine immer weniger wettbewerbsfähig werden. Jetzt auf lange Sicht, wenn es helfen würde, wettbewerbsfähig zu sein, könnte es einen Boom in Russland geben, aber die Art und Weise, wie sie es betrachten, ist es nicht. Ich denke, sobald die Regierung sich auf eine bestimmte Politik versteift hat, wird man sehr emotional damit verbunden und es wird eher schwer, dies zu ändern. Realistisch betrachtet finde ich es bedauerlich, dass alle Außenstehenden nicht der Ukraine zugeredet haben, dass sie vor allem ihr eigenes Haus in Ordnung bringen und ein Gefühl einer Nation, ein Gefühl der Loyalität gegenüber dem Land sowohl im Osten als auch im Westen entwickeln müssen. Und dann müssen sie in ihren Beziehungen mit Russland erkennen, dass sie Russlands Nachbar sind, dass sie in einem gewissen Sinn nie in der Lage sein werden, zu florieren, es sei denn, sie entwickeln zumindest ein erträgliches Verhältnis zu Russland. Daher versucht man, Dinge mit anderen auszuarbeiten, die Russland akzeptiert. Wir haben das bisher noch nicht getan und ich weiß nicht, es wird schwer sein, über diesen Berg zu kommen. Auf der anderen Seite ist keine der Alternativen besonders attraktiv, selbst für Russland nicht.

Es scheint mir also, dass wir vielleicht andere Verhandlungsführer brauchen. Ich habe dies mehrmals geschrieben: Anstatt einen Polen für die Verhandlung zu haben, warum lässt man nicht die Finnen die EU repräsentieren? Sie haben ein besseres historisches Bild und fruchtbarere Beziehungen mit Russland als die Polen. Das ist nicht unbedingt die Schuld eines Einzelnen, aber Tatsache ist, dass dies, ob es nun Imperialismus ist oder nicht, sehr tiefe emotionale Probleme sind – und insbesondere für die Vereinigten Staaten zu weit entfernt, um zu beginnen, direkt engagiert zu sein. Ich glaube wirklich, dass wir uns hier zurückziehen sollten. Ob wir dies politisch können, ist eine andere Frage, weil eigentlich nicht viele Amerikaner wirklich viel über die Ukraine wissen oder sich viel um sie kümmern. Aber die Republikaner wollen irgendwelche Fehler in Verbindung mit Obamas Präsidentschaft finden. Und er hat in seinem Team Menschen, die sehr stark von den Ukrainern aus dem Westen beeinflusst sind und die dies als eine Art der amerikanischen Unterstützung für Freiheit, Unabhängigkeit und Entwicklung sehen. Und die russischen Bemühungen sind völlig negativ. Jeder hat eine gewisse Basis, aber Tatsache ist, würde ich sagen, dass die amerikanischen direkten Sicherheitsinteressen in der Ukraine minimal sind, wohingegen wir großes Interesse an vielen Fragen im produktiven Umgang mit Russland haben.

Ich denke, dass unsere Politiker, und das gilt auch für einige der führenden Personen in der EU, vergessen, dass wir den Kalten Krieg zu einem Ende gebracht haben. Unser Ziel – und es ist ein echtes Ziel – war ein geeintes und freies Europa – und dass Russland auch dazugehört. Also, wenn man die Taktik verfolgt, es weiter zu isolieren, schadet Russland mehr als jeder andere, das steht außer Frage.

Die Ukraine ist jetzt seit mehr als 22 Jahren ein unabhängiges Land. Ich war hier ein erstes Mal im Februar 1992 und dann wieder im Sommer 1992 in Donezk. Wenn man sich die Entwicklung des Landes ansieht, so hat es die Ukraine nicht geschafft, eine sich selbst tragende Wirtschaft aufzubauen. Sie war nicht in der Lage, den Staat auf Basis der Unternehmen vornehmlich im Osten zu reformieren. Die Infrastruktur dort, neben der Sicherung von Dienstleistungen aus Charkiw und Donezk, war in einem sehr schlechten Zustand. Was sind aus Ihrer Sicht die Gründe für diesen großen Misserfolg?

Es ist eine Tragödie, dass die Ukraine dies nicht geschafft hat. Aber Sie legen Ihren Finger auf etwas, was das Land hätte tun müssen. Ich habe schon mehrmals darüber geschrieben, etwa in der Mitte der 90er-Jahre einen Artikel über die Ukraine. Ich betitelte ihn ursprünglich – die Redaktion hat den Titel dann geändert, was ich nicht gebilligt habe – mit „Auf dem Weg zu einem besseren Leben stecken geblieben“ – wegen dieser Trennung. Und ich bin nach Kiew gegangen, ich war früher viele Male dort, aber Mitte der Neunziger bin ich mit einem Team von ehemaligen Beamten des internationalen Sicherheitsrats gekommen, um die Ukrainer darüber zu informieren, wie wir die nationale Sicherheit im Amt des Präsidenten organisieren. Wir hielten Briefings ab und als wir mit hohen Beamten sprachen, sagte der Ukrainer, der den Vorsitz hatte: „Wenn ihr Amerikaner über die nationale Sicherheit sprecht, sprecht ihr über Außenpolitik. Lassen Sie mich Ihnen zeigen, was unser Problem ist.“ Und dann zeigte er uns die Karte mit der Abstimmung in der letzten Sache und die Teilung zwischen West und Ost. Er sagte: „Unser Sicherheitsproblem ist intern, nicht extern.“ So war es immer sehr klar, auch dann, dass, obwohl die Ukrainer das erkannten, sie noch nicht ein Gefühl der Einheit, eine Nation und all das geschaffen hatten.

Ich schrieb zu der Zeit, sie sollten sehen, wie beispielsweise die Finnen 20 % der Bevölkerung, der schwedischen Bevölkerung, die vollkommen gleichen Rechte gegeben hatten. Sie hatten ihre Zeitungen, sie hatten ihre Theater (wenn sie so viele haben, ich denke, es sind 20 % der Bevölkerung), sie konnten ihre Kinder zum Beispiel an eine schwedische Schule schicken. Jetzt wurde Finnisch in all diesen Schulen unterrichtet, die Erziehung kann aber beides sein, ja, die Hochschulbildung kann entweder in Finnisch oder Schwedisch sein. Oder die Iren! Haben die Iren gesagt: Du musst Keltisch sprechen? Sie können kein Englisch sprechen und sind ein echter Ire? Oder schauen Sie auf Belgien – okay, es gibt noch Spannungen zwischen der Französisch und der Flämisch sprechenden Bevölkerung. Aber sie haben gleiche Sprachenrechte erhalten und ein Gefühl der Nationalität geschaffen, die nicht ausschließlich auf Sprache beruht.

Wir hatten vor Kurzem einen Vortrag von einem Ukrainer, der jetzt in Deutschland lehrt, aber, glaube ich, er stammt aus Charkiw, ein Russisch sprechender Ukrainer. Er sagte, dass man von der Gegend um Kiew und den Zentralbereich der Ukraine wisse, dass die meisten Menschen zu Hause Russisch sprechen, es aber sehr schlecht schreiben, weil in den Schulen nur Ukrainisch unterrichtet wird. Wissen Sie, ich kenne andere Aussagen von Menschen aus Odessa, die sagen: „Ich bin ein treuer Ukrainer, ich möchte nicht Teil der Russischen Föderation sein, aber meine geistige Welt ist Russland, ich möchte in der russischen Kultur leben.“ Irgendwie haben sie kein Nationalgefühl geschaffen, dass man sich in Russisch wohl fühlt und doch ein Ukrainer sein kann. Aber ich denke, dass viele Ukrainer der globalen Tradition folgen und der Ukraine in einem bestimmten Sinne treu bleiben wollen, aber auch einem Teil der russischen Kulturwelt folgen wollen. Seien wir mal ehrlich: Ich hasse es, diese Sache zu bewerten, aber die russische Literatur bzw. Kultur ist reicher als die ukrainische, es ist in vielerlei Hinsicht eine größere Welt. Und ich kann verstehen, dass eine Russisch sprechende Person ihren geistigen Horizont nicht auf die ukrainische Kultur beschränken möchte, so reich sie auch sein mag.

Glauben Sie, dass, wenn Sie nun die Ukraine und Russland zumindest formal vergleichen, Russland einen starken Führer mit Putin hat, oder mit Putin und Medwedew? Es gab den Kolomojskij-Fall, bei dem mindestens ein großer Oligarch diszipliniert wurde. Glauben Sie auf der anderen Seite, dass es eine große Fragmentierung mit den Oligarchen in der Ukraine gibt, ohne jetzt über Kolomojskij zu reden und Michail Prochorow, der wirklich sein eigenes Spiel spielt, von Russland gehasst wird und Russland wirklich hasst in einem sehr, sehr weiten Sinn? Also denken Sie, dass eine hohe Kunst der Politik zu einem gewissen Grad in Russland unter Putin wiederhergestellt ist, während man in der Ukraine immer noch diese Fragmentierung hat, dass Oligarchen einen von ihnen wählen oder einer der bequemen Führer Präsident wird?

Ich denke, das ist richtig, ja. Es ist absolut richtig und sehr schwer, die Zukunft vorauszusagen, weil ich denke, dass sie alle aus der gleichen Art von sowjetischem Erbe kommen, und das bedeutet, dass man manchmal plötzliche Umkehrungen haben kann. Oft sind die Verhandlungen, die hinter den Kulissen laufen, die, die entscheidend sein werden. Und der Eindruck an der Oberfläche ist nicht immer die ganze Wirklichkeit. Ich bin nicht so gut informiert über das Zusammenspiel dieser verschiedenen Oligarchen. Putin hat nun, ich würde sagen, nicht nur praktisch die Kontrolle über vieles in Russland übernommen. Indem er die Krim annektiert hat, hat er seine allgemeine Popularität zumindest vorübergehend sehr stark erhöht. Ich denke, sie war im Abnehmen, als er zurück zur Präsidentschaft kam, und jetzt ist sie sehr hoch. Ob das lange andauern wird, ist eine andere Frage, weil die Krim für die Russen sehr teuer werden wird, wenn sie versprechen, die Pensionen zu verdoppeln und ähnliche Dinge. Sie werden damit durchkommen müssen, andernfalls werden sie in einem oder zwei Jahren eine sehr enttäuschte Bevölkerung haben. Es ist schwer abzusehen, wie sie alle diese Erwartungen erfüllen werden. Auch wer immer die Kontrolle über den Donbass erhält, wird das tun, was diese Leute erwarten, und das wird eine Menge Geld kosten.

Ich sehe eine Menge Ärger voraus und denke, dass Putins Sorgen intern viel ernster sein werden als alle Sanktionen, die der Westen ihm auferlegen kann. Obwohl ich verstehe, dass der Westen, wenn er entscheiden sollte, dies zu tun, das russische Finanzsystem schwächen kann. Das ist etwas, wo sie echte Hebelwirkung haben. Ich glaube nicht, dass es klug wäre, dies zu tun. Ich bin mir sicher, dass die meisten Mitglieder der EU es nicht zu weit treiben wollen – natürlich wie wir alle. Die EU hat ein viel stärkeres wirtschaftliches Engagement in Russland als die USA und würde einen viel höheren Preis zahlen, wenn es zentrale Sanktionen geben würde, die wirklich der russischen Wirtschaft schaden würden. Die bisherigen Sanktionen zielen hauptsächlich auf Personen und sind nicht so wichtig. Ich denke, sie sind vor allem für inländische Wahlkreise – damit man etwas tut. Aber ich hoffe, dass der Westen auf zentrale Sanktionen verzichtet, weil ich denke, dass man am Ende dem ganzen Land schadet, es weiter isoliert und einen wirklich „kranken Mann“ im Osten schafft.

Aber auf der anderen Seite scheint mir das sehr deutlich, und Sie haben erwähnt, dass Russland ein enormes finanzielles Problem haben wird, die Krim, Donezk und Lugansk aus wirtschaftlicher Sicht wiederherzustellen. Ich sehe daher keinen realistischen Grund, warum Russland daran interessiert sein sollte, den Donbass zu übernehmen. Auf der anderen Seite, wie kann man eine Lösung finden, bei der Putin sein Gesicht nicht verliert?

Nun, ich würde zunächst sagen, die Einheit der Ukraine muss in der ersten Instanz von Ukrainern selbst geschaffen werden. Solange sie dies nicht tun, gibt es nicht viel, was irgendjemand von außen, ob es nun die Russen sind oder die EU oder die USA, für sie tun kann. Das, denke ich, müssen wir bedenken. Wenn ich die amerikanische Politik machen würde, hätte ich die ganze Zeit die Ukrainer dahingehend beraten, dass sie, wenn sie unsere Unterstützung wollen, sich zur Neutralität verpflichten müssen. Ich meine, wir haben die Russen aus Wien weggeholt, indem Österreich nach dem Schweizer Vorbild zu dieser Zeit neutral wurde. So gibt es jede Menge Präzedenzfälle – und warum wir nicht drängen, das weiß ich nicht. Aber bisher, Sie wissen es, ist die Antwort, dass jedes Land das Recht haben sollte, die Mitgliedschaft zu beantragen. Das mag so sein, aber das bedeutet nicht, dass man sie nehmen muss. Und sicherlich würde ich vor dem amerikanischen Kongress argumentieren, dass wir nie ein Land wie die Ukraine in die NATO nehmen und seine Sicherheit garantieren sollten, weil es nicht eine völlig einheitliches Land ist. Es hat interne Probleme. Warum sollten wir unseren eigenen guten Glauben auf das Spiel setzen, wenn sie nicht ihre eigenen Probleme gelöst haben? Es geht wirklich darum: Können es die Ukrainer?

Was die Russen erbeten haben, war zumindest an der Oberfläche nicht unvernünftig. Es scheint mir, dass wir, die EU und die USA, die Ukrainer dahingehend hätten drängen sollen, das zu akzeptieren. Das war erstens, dass Russisch den gleichen Status wie Ukrainisch als Amtssprache haben sollte, vor allem in jenen Bereichen, in denen diese Sprache weit verbreitet gesprochen wird. Zweitens, dass das Land entweder ein föderales System übernimmt oder ein System mit sehr erheblicher lokaler Kontrolle über die lokale Politik. Es scheint mir, es gibt keinen Grund dafür, dass die Provinzen der Ukraine nicht mindestens so viele Rechte haben sollten, wie sie die US-Bundesstaaten haben. Warum das für die Ukrainer im Westen des Landes so nicht nachvollziehbar ist, verstehe ich nicht. Denn das ist der einzige Weg, auf dem sie ein Gefühl der Einheit im Land schaffen können: die Vielfalt in vielen Bereichen zu erlauben, aber dabei immer noch die Treue zum Gesamtstaat zu bewahren. Dann war die dritte Bedingung, dass es dort eine Zusage – eine rechtlich bindende Zusage – der Neutralität geben sollte, dass die Ukraine nicht Teil eines anderen Militärbündnisses werden darf. Ich sehe da nichts, was an diesen Prinzipien falsch sein sollte. Die Ukrainer meinen, Russland erstelle ein föderales System, um zu versuchen, die östlichen Provinzen von ihnen wegzuziehen – ich weiß nicht, wie man das beantworten soll.

Abgesehen davon: Angesichts der Unterschiede, welches andere System würde fair sein? Welches andere System wird die Einheit schaffen? Aber ich habe keinen der führenden EU- oder US-Unterhändler gesehen, der in der Tat diese Prinzipien befürwortet, und ich verstehe nicht, warum. Jetzt kann es sein, dass Dinge leise geschehen, über die ich nichts weiß. Ich will also kein Urteil fällen, aber wenn man sagt, wie es umgesetzt werden könnte, scheint es mir, dass diese Grundprinzipien, die die Russen vorgebracht haben, wenn sie wirklich durchgeführt würden, einen Rahmen bieten könnten, den Russland akzeptieren würde. Und wenn das stimmt, dann sollten Außenstehende wirklich Druck auf die Ukrainer ausüben, einen Weg zu finden, dies zu erreichen.

Selbst wenn dieser Konflikt nächste Woche stoppen würde, haben wir enorme Probleme vor uns – die Abrüstung von verschiedenen militärischen Gruppen, Wiederaufbau und Sozialwirtschaft, die Rückkehr der Flüchtlinge. Wer könnte dies organisieren und in welcher Weise? Könnte die OECD eine solche Rolle spielen, weil jemand eine Art neutraler Beobachter sein muss?

Sie haben recht. Nun, ich weiß nicht – es gibt einen UN-Ausschuss für Flüchtlinge, aber dieser wird natürlich vollständig von Syrien, Irak, Palästina in Anspruch genommen. Es gibt schon so große Probleme in der Welt, vor allem im Nahen Osten … Aber ich würde eine aktivere Rolle der OECD begrüßen, weil Russland ein Teil davon ist. Und ich denke im Allgemeinen, dass es sinnvoll wäre, wenn alle Seiten eine Vermittlung annehmen würden. Vielleicht ist es besser, wenn diese Organisation, und nicht die EU, einen Großteil der Verhandlungen führt. Wenn Außenstehende nur die eine Seite oder die andere unterstützen, spaltet man weiterhin die Ukraine. Die Ukrainer müssen irgendwie einen Weg finden, sich auf eine Weise wieder zusammenzutun, die akzeptabel ist.

Wenn man die Situation vor acht oder neun Monaten betrachtete, hatte ich den Eindruck, dass Janukowitsch die Vereinbarung mit der Europäischen Union unterzeichnen wollte. In dieser Zeit gab es eine hohe Ignoranz auf Seiten der Ukraine, der Vereinigten Staaten und des IWF. War die Ukrainekrise nicht auch ein Zeichen für eine große Katastrophe der EU-Außenpolitik? Für ihre Politiker und für die USA, aber vor allem für die EU? Hätte man diese Krise nicht verhindern können, wenn die EU der ukrainischen Regierung angeboten hätte, was sie nun anbietet?

Mir sind nicht alle diplomatischen Details, insbesondere das, was Moskau nicht gesagt wurde, bekannt genug, um dies zu beurteilen. Alle Seiten haben Fehler gemacht, indem sie zuließen, dass die Krise zu einem Ost-West-Konflikt geworden ist und dies zur Teilung der Ukraine geführt hat. Auf dieser Basis gibt es, realistisch gesehen, keine gemeinsame Lösung.

Vielleicht wurden ja große Anstrengungen unternommen, um die Russen zufriedenzustellen, und die Russen waren dennoch nicht zufrieden, ich weiß es nicht. Die Ukraine muss erst einmal intern eine Einigung bei diesen Fragen finden, die die meisten Ukrainer in Ost und West unterstützen können. Und dann müssen sie zumindest Duldung von Russland bekommen. Es scheint mir, dass es diplomatische Wege gibt, durch die dies in der Vergangenheit hätte erarbeitet werden können. Immer dann, wenn die Dinge total zusammenbrechen, wird es viel schwieriger.

Die Mechanismen sind immer noch da. Lawrow und Kerry treffen sich offenbar noch, der Mechanismus für die Beratung ist da, zweifellos treffen sich die westlichen Führer noch – auch mit Putin und auch mit den Ukrainern. Wir haben die Kommunikation nicht völlig abgeschnitten. Ich denke schon, dass die echte Verhandlung ruhig verlaufen muss und nicht auf einer öffentlichen Plattform stattfinden soll, weil die Reaktionen auf die Innenpolitik in der Öffentlichkeit häufig nicht zu einer Einigung verholfen haben. Gefragt ist nun die stille Diplomatie. Sie muss die Russen mit einschließen, aber das Entscheidende ist, was die Ukrainer bereit sind, unter sich zu entscheiden. Das, was Russland fordert, sollte etwas sein, was die Ukrainer auch einhalten können. Und wenn der Westen, die USA und die EU, als Bedingung für ihre Hilfe diese interne Klärung von der Ukraine als Voraussetzung fordern, könnte das ebenfalls hilfreich sein. Aber nach dem, was ich an öffentlichen Äußerungen sehe, ist die Krise immer noch zu sehr als ein Kampf darüber einzuordnen, welche Seite die Ukraine für sich gewinnen wird. Keine der beiden Seiten wird jedoch gewinnen. Die Ukraine wird verlieren, wenn das weiterhin so sein sollte.

Brennpunkt Ukraine

Подняться наверх