Читать книгу Zum ersten Mal tot - Christian Y. Schmidt - Страница 4

Vorwort

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Dieses Buch sollte eigentlich »So schön war’s bei der RAF« heißen. Ich dachte, das sei ein ausgezeichneter Titel. Dann fand ich in mühsamer Recherche heraus, dass es bei der Roten Armee Fraktion gar nicht so toll war, wie man gemeinhin denkt. Also heisst das Buch jetzt »Zum ersten Mal tot«. Auch ein guter Titel; Untote flüsterten ihn mir ein. Anders als er suggeriert, geht es im Buch aber nur vordergründig um Premieren. In erster Linie geht es um mich. Im Zuge meiner RAF-Recherchen habe ich nämlich auch festgestellt, dass es unglaublich viele Bücher über andere Leute gibt, über manche sogar mehrere. Über mich aber gibt es keines. Das ist um so bedauerlicher, als ich der Mensch bin, der mich am meisten interessiert. Zudem bin ich schon um einiges älter als dieses Jahrhundert, und habe Dinge erlebt, von denen junge Menschen heutzutage nur träumen können. Trotzdem hat bisher niemand über mich ein Buch geschrieben. Also muss ich auch das wohl selber tun. Das mag mancher für übertrieben egozentrisch halten. Aber besser, ich schreibe über mich, als über Vampire, Helium-3, Kinderkriegen, entlaufene Pferde oder anderes Zeug, von dem ich keine Ahnung habe. Ahnungslose Schriftsteller gibt es schon genug.

In zweiter Linie handelt das Buch wirklich von Premieren. Das heißt, es geht darum, wann ich etwas zum ersten Mal im Leben tat oder dachte. Das zu erkunden, so sagt die Erste-Mal-Forschung, ist interessant, weil es uns viel über eine Person verrät. Wer schon mit drei Jahren erstmals den Film »Hostel« sieht, der kriegt sicher später ein tolles Trauma. Wer aber erst mit dreißig seine erste Zigarette raucht, der wird kein guter Kettenraucher. Und sprechen wir erst auf dem Sterbebett unseren ersten chinesischen Satz, wird aus uns wahrscheinlich kein Chinesisch-Deutsch-Simultandolmetscher mehr.

So sind denn auch die hier von mir vorgelegten Forschungsergebnisse für den Leser äußerst lehrreich. Ich jedenfalls habe einiges gelernt, als ich dieses Buch nach dem Schreiben zum ersten Mal las. Es gab auch Überraschungen. Ich war zum Beispiel höchst erstaunt, dass bei rund der Hälfte meiner Ersten-Mal-Erfahrungen Alkohol und Drogen eine Rolle spielen. Das ist eine Seite, die ich an mir noch nicht kannte. Ich hatte eher das Bild eines strikten Abstinenzlers von mir, der sich hin und wieder ein Glas erlaubt. So kann man sich irren.

Dieses Buch ist allerdings keine Autobiographie. Schließlich gibt es nicht mein ganzes Leben wieder. Es fehlen die langen Phasen des Rumsitzens, Rumlaufens, Schlafens, Essens und Überhauptnichtstuns, die den größten Teil meines Lebens ausmachen. Es fehlen sogar sehr wichtige Erste-Male: Meine erste Begegnung mit dem Hähnchenkönig Friedrich Jahn zum Beispiel, oder wie ich Karl Eduard von Schnitzler (»Der schwarze Kanal«) Anfang 1990 die erste Kolumne im Satiremagazin Titanic verschaffte. Selbst meine Erstdurchquerung der Taklamakanwüste, die erste Reise zu den Polisario-Rebellen in die Westsahara und der Erstaufenthalt in Nordkorea ohne Visum sind kein Thema. Diese Premieren werden vielleicht einmal nachgeliefert, in »Zum ersten Mal tot – Band 2«; es sei denn, ich gebe vorher wirklich mein Besteck an der großen Besteckabgabestelle ab.

Extrem aufmerksame Leser werden wahrscheinlich feststellen, dass sich in manchen der achtzehn Kapitel die eine oder andere Begebenheit wiederholt. Warum das so ist, ist einfach zu erklären: Die hier versammelten kurzen Geschichten sind über einen Zeitraum von zehn Jahren entstanden, und die meisten waren ursprünglich nicht für eine Veröffentlichung in einem Band gedacht. Bei der Bearbeitung wurden viele Dopplungen gestrichen. Die eine oder andere ließ sich trotzdem nicht vermeiden, wollte ich die jeweilige Geschichte nicht zerstören.

Auch die Chronologie des Buches scheint etwas durcheinander. Das nun liegt daran, dass die Reihenfolge der Geschichten von einem vierjährigen Kind festgelegt wurde, das dafür ein Eis bekam. Zudem wechseln Tempo, Farbe, Beleuchtung und Lautstärke öfter. Die Absicht war, auf diese Weise das Pendant zu einem Pop-Musik-Album zu schaffen. Vorbild war dabei die erste Platte der ultrafrühen Pink Floyd »The Piper At The Gates Of Dawn«, die zugleich die beste Platte aller Zeiten ist; da kann der Rolling Stone sie noch so oft auf einen schäbigen Platz 347 setzen. Ich bitte die Kritik herauszufinden, ob mir a) das Gegenstück gelungen ist und b) welche Geschichte »Interstellar Overdrive« sein könnte? Auf »The Piper At The Gates Of Dawn« sind allerdings nur elf Stücke. Dieses Buch verfügt dagegen über achtzehn prächtige Kapitel. Hier orientierte ich mich an den achtzehn Stufen der chinesischen Hölle, die die Hauptfigur des Buches durchwandern muss, bis sie schließlich ihr Ziel erreicht. Außerdem hat auch »Ulysses« von James Joyce achtzehn Kapitel. Aber das brauche ich Ihnen ja nicht zu erzählen.

Dem extrem aufmerksamen Leser wird wahrscheinlich auch die eine oder andere Geschichte bekannt vorkommen. Das liegt dann daran, dass er sie schon mal so ähnlich gelesen hat. Ältere Versionen einiger Geschichten sind zum Beispiel in den schönen Städtebüchern des Verbrecher Verlags erschienen. Manche standen in anderer Form im Feuilleton der Berliner Zeitung oder aber im Schlaumeierforum Wir höflichen Paparazzi. Sämtliche Texte wurden für dieses Buch komplett überarbeitet, erweitert, gekürzt, verschönert, aufgemotzt und angemalt. Etwa ein Drittel sind Erstveröffentlichungen.

Inspiriert wurde das Buch auch von einem Vorschlag Max Goldts, der lautet: »Um dem weitverbreiteten Mangel an Bereitschaft entgegenzutreten, das eigene Leben als einzigartiges Erlebnis aufzufassen, gibt es kostengünstige Alternativen zu Flucht in Rafting und Felsenkletterei: Man kann sich z.B. allabendlich hinsetzen und sich überlegen: Was habe ich heute zum ersten Mal gemacht?« Bereits vor zehn Jahren veranlasste dieses Zitat Heiko Arntz und Tex Rubinowitz zur Herausgabe einer Ausgabe des leider längst verblichenen Literaturmagazins Der Rabe. Dieser »Erste Mal Rabe« gilt heute als eines der grundlegenden Werke der Premierenforschung. In dem Kompendium bin auch ich mit einer Geschichte vertreten. Die aber ist nicht gelungen, weshalb sie auch in diesem Buch nicht vorkommt. Der Text »Der Kippenberger« des hoffnungsvollen Nachwuchsschriftstellers Joachim Lottmann im selben Band ist um Lichtjahre besser. Schon wegen ihm lohnt sich die Anschaffung des kleinen, antiquarischen Buchs auch heute noch.

Martin Kippenberger habe ich zwar auch irgendwann das erste Mal getroffen – und zwar 1991 oder 1992 in einer Toilette in Kassel –, doch tritt er in diesem Buch nicht auf. Statt dessen kommen vor: Joseph Beuys, Novalis, Verona F., Theodor Heuss, Marburg, Martin Walser, Gina W. und ein gewisser DJ Bim Bam. Ansonsten geht es um tödliche Krankheiten, die Bundeswehr, Star Trek, Epileptiker, prügelnde Polizisten, Neandertaler, LSD, Religion, die Stasi und den Maoismus. Auch der Teufel, die Stadt Bielefeld und die Hölle werden überraschend häufig erwähnt. Und es tauchen immer wieder Liliputaner auf. Es ist also die Frage, ob sich dieses Buch wirklich nur um mich dreht. Vielleicht handelt es ja auch von Ihnen?

Zum ersten Mal tot

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