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Epileptikeradel und schwarze Schwestern Zum ersten Mal draußen (33 Jahre)
ОглавлениеIch bin zwischen den grünen Bergen von Garizim und Morija aufgewachsen. Seitdem ich denken konnte, blickte ich aus dem Fenster unserer Küche auf Bethanien, dem »Haus der Armen«, einem Flecken bei Jerusalem. Wir spielten in den Gärten Magdalas am See Genezareth, und auf dem Weg zur Schule überwand ich täglich den Berg Nebo, auf dem Moses starb, nachdem ihm Gott das Land der Verheißung gezeigt hatte. Passend zu dieser Geschichte stand hier oben eine Kapelle, aus der es immer süßlich roch, weil in ihrem kühlen Keller die Leichen aufgebahrt wurden, die auf ihre Bestattung warteten. An manchen Sommerwochenenden zogen wir mit unserer Mutter Richtung Enon und pflückten schwarze Brombeeren. In dieser Gegend taufte einst Johannes, denn es gab viel Wasser hier. Bei Enon stand auch das Haus Arafnas. Auf dessen Tenne hatte König David vor Zeiten einen Altar errichtet, aus dem dann später der große Tempel wurde. Ganz hinten im Wald, hinter den drei grünen Gaskugeln, erhob sich hoch auf einem Berg Salem. Das war das Ende unserer Welt.
Diese Welt trägt den Namen Bethel, was auf Hebräisch so viel wie das »Haus Gottes« heißt. Dieses Bethel aber liegt nicht, wie man meinen könnte, in Israel, sondern ist heute ein Teil von Bielefeld. Damals gehörte es noch nicht zur Stadt, sondern war eine fast selbstständige Anstalt, die etwa 8.000 Epileptiker und ein paar Tausend Geisteskranke beherbergte. Die Bezeichnung »Anstalt« führt allerdings in die Irre, da man sich darunter ja gemeinhin ein klar begrenztes, ja ummauertes Gelände vorstellt. Doch diese Grenzen fehlten.
Bethel war eine protestantische Einrichtung, was die biblischen Namen aller hier errichteten Häuser und Landschaftselemente erklärt. Auch alle Menschen, die in den beiden Betheltälern lebten, waren stark vom Protestantismus geprägt. Wahrscheinlich gab es hier keine fünf Katholiken. Bethel war so etwas wie der protestantische Vatikan. An der Spitze der gesellschaftlichen Ordnung stand eine ganze Schar von Pfarrern, denen ein kleines Bataillon von Diakonen zuarbeitete. Zu denen zählte mein Vater. Die Pfarrer und Diakone waren Angehörige einer Bruderschaft. Uns Kindern erschlossen sich die Hierarchien erst langsam. Wir fragten immer, ob jemand, der uns besuchte oder den wir auf der Straße trafen, auch ein »Bruder« war oder aber bloß ein »Herr«. »Ist ein Bruder was Besseres?«, fragte ich irgendwann meine Mutter. Die verneinte. Doch das stimmte nicht. Die Herren waren so etwas wie die zivilen Angestellten Bethels und hatten fast immer Vorgesetzte, die sich untereinander mit Bruder ansprachen.
Auch die Frauen in Bethel gehörten unterschiedlichen Klassen an. Es gab welche wie meine Mutter, die mit Männern verheiratet waren. Und es gab Frauen, die das nicht durften. Das waren die Diakonissen. Sie trugen eine pechschwarze Tracht und weiße gestärkte Hauben, unter denen sich eine einheitliche Mittelscheitelfrisur verbarg. Diese Frauen, die niemals Mütter werden würden, gehörten absurderweise einem Mutterhaus an. Sie wurden mit Schwester angeredet und arbeiteten in den Pflegehäusern Bethels. Vor den Schwestern hatte ich Angst. Sie hatten etwas Steifes, Soldatisches an sich, ja manche schienen mir von Grund auf böse. Ob sie über oder unter den verheirateten Frauen standen, war schwer zu sagen. Eher bildeten sie eine Parallelgesellschaft in der Anstalt. Letztlich aber waren auch sie den Pfarrern Untertan. Einer stand an der Spitze des Mutterhauses und wurde von den Schwestern Vater genannt.
Am unteren Ende der gesellschaftlichen Skala befanden sich die Epileptiker und Geisteskranken. Sie hießen einfach: die Patienten oder Kranke. Sie mussten sogar in der Kirche auf getrennten Bänken sitzen, so wie die Schwarzen zur Zeit der so genannten Rassentrennung in den USA. Die Kränksten bekam man gar nicht zu sehen. Sie lagen auf Torfbetten in dunklen, vor über hundert Jahren gebauten Pflegehäusern, in denen es nach Scheiße, Pisse und Großküchenessen roch und aus denen manchmal fürchterliche Schreie drangen. Nur einmal betrat ich das Innerste eines solchen Hauses. Es war bei einem Martinssingen. Die Schwestern hatten uns Kinder hineingelassen und dann das Licht gelöscht, damit unsere Laternen besser zur Geltung kamen. Ich stand am Ende eines Bettes und sah im flackernden Licht ein stöhnendes Wesen mit aufgerissenem Mund und offenem Rücken vor mir liegen. Das Wesen hatte das Gesicht zu einem breiten Grinsen verzogen und ich sang tapfer: »Ein feste Burg ist unser Gott, ein gute Wehr und Waffen.«
Lustiger war der Patientenadel, den wir täglich auf der Straße trafen. Ernst von Tabor, der schöne Siegfried von Arafna oder Dieter von der Brockensammlung. Das jeweilige Pflegehaus, in dem sie wohnten, war Teil ihres Namens geworden; ihren echten Nachnamen kannte keiner. Dafür war jeder von ihnen etwas Besonderes. Ernst von Tabor trug immer einen Haufen Papiere mit sich herum und einen Dirigentenstab. Erklang irgendwo Musik, stellte er sich vor die Quelle und begann zu dirigieren, auch wenn es nur ein Radio war. Gegen Ernst war Karajan ein Amateur. Dieter von der Brockensammlung schob einen Handkarren durch die Anstaltsstraßen, mit dem er Pappkartons und anderes Verpackungsmaterial einsammelte. Am liebsten aber er hing er an einem Schulhof herum, um dort mit seiner immer zu lauten, kehligen Stimme blutjunge Mädchen anzusprechen. Und dann war da noch ein alter Mann mit wenigen grauen Haaren, den wir nur als »den Kater« kannten. Er begrüßte jeden auf der Straße mit einem lauten, lang gezogenen »Miau«. Er war bei den Erwachsenen sehr beliebt, weil er das absolute Gehör hatte. Für ein paar Mark stimmte er die Klaviere in der Anstalt, auch bei uns kam er dazu einmal im Jahr vorbei. Uns Kindern war der Graue suspekt. Er tätschelte uns die Wangen etwas zu lange und fasste uns auch anderen Stellen manchmal seltsam an.
Es gab auch echte Adelige unter den Patienten. Einer war Herr von Bismarck, aus der Familie des ehemaligen Reichskanzlers. Er wohnte im »Libanon«, hatte aber trotzdem seinen Nachnamen behalten. Er war hochgewachsen, ging in grünem Loden und schritt mehrmals in der Woche gravitätisch an unserem Haus vorbei. Mein Großvater war noch zu Lebzeiten des Kanzlers Bismarck geboren, und auch er war ein Diakon. Doch arbeitete mein Großvater im Garten, und stolzierte Bismarck vorbei, wurde er von meinem Großvater immer voller Hochachtung gegrüßt. Es gab noch einen anderen grüngekleideten Patienten, der in Bethel berühmt war. Das war der Polizist. Er trug eine knallgrüne, Orden geschmückte Uniform mit dazu passenden Reitstiefeln. Ab und zu machte er auch außerhalb der Anstalt kleine Ausflüge. Dann konnte man ihn irgendwo in Bielefeld auf einer Kreuzung sehen, wo er den Verkehr regelte.
Die epileptischen Patienten unterschieden sich von den Geisteskranken dadurch, dass sie von einem Moment auf den anderen mit einem großen Anfall zusammenbrechen konnten. Da es in meiner Kindheit noch keine besonders ausgeklügelten Antiepileptika gab, passierte das laufend. Mehrmals am Tag sahen wir Kinder Erwachsene, die zappelnd und zuckend auf der Straße lagen, mit Schaum vor dem Mund und verdrehten Augen. Besonders häufig schlug der epileptische Blitz ein, wenn sich ein Patient irgendwie erregte. So bekam bei einer schmissigen Predigt in den Anstaltskirchen fast jedes mal ein Patient einen Anfall. Pfleger und Mitpatienten schafften den Zuckenden dann möglichst schnell aus dem Kirchenschiff und trugen ihn auf eine Liege in einen Raum, der extra für die Anfälle gebaut war. Das war so normal, dass niemand weiter davon Notiz nahm. Nur für uns Kinder war so ein Anfall immer eine willkommene Abwechslung in den öden Gottesdiensten.
Viele Epileptiker trugen damals einen ledernen Sturzhelm, der sie vor Verletzungen bei einem Anfall bewahren sollte. Ein nicht besonders vorteilhaft wirkendes Kleidungsstück. Natürlich machten wir Kinder uns darüber lustig. Auch sonst amüsierten wir uns über die Patienten, obwohl uns das die Eltern streng verboten hatten: »Die Kranken sind Menschen wie wir. Man darf nicht über sie lachen.« Aber weil sich die Patienten eben so komisch benahmen und wir Kinder waren, hörten wir nicht auf sie. Wir äfften den Gang, die Anfälle und ihre seltsame Art zu sprechen nach, oder wir versteckten uns in Bethels kleinen Wäldern hinter Bäumen und sprangen dann hervor, um sie zu erschrecken. Besonders gerne ärgerten wir den liebestollen Dieter von Brockensammlung. Einmal regte er sich darüber so sehr auf, dass er neben seinem Karren zu Boden ging und krampfte. Da kriegten wir es doch mit der Angst zu tun und liefen schnell nach Hause. Ich machte mir den ganzen restlichen Tag große Sorgen. Doch am nächsten Tag stand Dieter wie gewohnt an der Schule und röhrte die kleinen Schulmädchen an. Er hatte offenbar vergessen, was passiert war.
Wir Kinder lebten gerne in Bethel. Da Kinder Geschenke Gottes waren, hatten die Brüder alle große Familien. Sechs oder sieben Kinder waren keine Seltenheit. Wir waren vier Geschwister, und das Haus, in dem wir wohnten, stand allen anderen Kindern immer offen. Wir tobten auch durch die Häuser und Gärten der anderen Familien. Uns gefiel auch, dass Bethel damals noch sehr ländlich war. Es gab mehrere Bauernhöfe, auf denen auch Patienten arbeiteten, die dazu in der Lage waren. Der schöne Siegfried und sein hässlicher Kumpel fuhren täglich mit einem Pferdefuhrwerk die Anstaltsstraßen ab, um in großen stinkenden Tonnen Essensreste einzusammeln, die an die Schweine Arafnas verfüttert wurden. Auch Enon war ein Bauernhof und den Schweinen von Arimathia warfen wir im Herbst Eicheln und Kastanien in ihre Koben, die direkt an unserem Schulweg lagen.
Patienten arbeiteten auch in der anstaltseigenen Bäckerei oder in der Ziegelei, von der eine kleine Schmalspurbahn zur anstaltseigenen Tongrube zuckelte. Das Ziel der Anstaltsgründer war es gewesen, Bethel so autark wie möglich zu machen. Deshalb hatte man nach und nach auch noch eine Schusterei gebaut, eine große Gärtnerei, ein Milchgeschäft, in der man lose Milch und Butter kaufen konnte, eine Schlosserei und eine Schmiede, die den Namen Gilgal trug. In der Bibel war das der Ort, an dem König Saul gesalbt wurde, später wurde er ein Hort der Abgötterei. Hier lungerte ich manchmal herum und beobachtete Hengste mit erigiertem Penis, die beschlagen wurden. Ich wunderte mich über den Schlauch, der aus ihnen herausragte, und ich dachte, diese Pferde seien irgendwie kaputt. Es schien aber weder sie selbst noch irgendeinen anderen zu stören, und als ich meiner Mutter das Problem erklären wollte, verstand sie es nicht.
In der Mitte der Anstalt stand das große Bethelkaufhaus. Es hieß Ophir nach dem sagenhaften Goldland, aus dem König Salomo Gold, Sandelholz und Elfenbein holen ließ, um seine Prachtbauten in Jerusalem zu errichten. Hier wie in den anderen Geschäften konnte man mit Bethelgeld bezahlen, einer Parallelwährung, die bis heute in ganz Deutschland einzigartig ist. Das Geld wurde nur an Patienten und in Bethel Beschäftigte ausgegeben, die es in der örtlichen Filiale der Sparkasse tauschen konnten. Es war ein guter Tausch, denn für 100 Mark Bundesgeld gab es 105 Mark Bethelgeld. Die Anstaltsleitung hatte diese eigene Währung eingeführt, damit der Lohn der Angestellten und das Taschengeld der Patienten in Bethel blieb; außerdem sollte wohl verhindert werden, dass sich Patienten und die auf dem Lindenhof verwahrten »Tippelbrüder« außerhalb der Anstalt mit Stoff versorgen konnten. Natürlich kamen sie trotzdem an ihren Schnaps, denn einige Geschäfte direkt an der Grenze Bethels nahmen auch die betheleigene Währung an. Offenbar gab es dunkle Kanäle, die benutzt wurden, um die Scheine zurückzutauschen.
Ich liebte unser Bethelgeld, und bekamen wir Besuch von draußen, gab ich damit an. Besonders gut gefiel mir, dass es neben Eine-Mark- und Zwei-Markscheinen sogar Fünfzig-Pfennigscheine gab, denn so hatte ich als kleiner Taschengeldempfänger immer auch Papiergeld im Portemonnaie. Ich hätte gerne noch mehr gehabt, und eigentlich wäre das auch nicht schwer gewesen. Unser Vater hatte nämlich die Verbrennung alter Bethelgeldscheine zu überwachen. »Ach Papa«, bettelten wir, »bring uns doch einfach ein paar mit. Das merkt doch keiner.« Doch der Vater sagte nur: »Ihr wisst doch, dass Gott alles sieht«, und ließ sich nicht erweichen.
Außer den besonderen Bewohnern und dem Bethelgeld gab es noch ein paar Dinge, die in Bethel anders waren als im Rest der Welt. Es existierte eine eigene Post, die sogenannte Botenmeisterei, wo das Verschicken von Briefen innerhalb Bethels nichts kostete. So sparte man vor allem beim Versenden von Todesanzeigen. Auch das Telefonieren war umsonst, was wir Kinder weidlich ausnutzten. Waren die Eltern aus dem Haus, riefen wir Leute mit komischen Namen an und terrorisierten sie. »Ist da Frau Küth?« »Ja.« »Tüt, tüt, tüt«, und das ungefähr zwanzig Mal am Tag. Da die Telefongespräche auf keiner Rechnung auftauchten, kam uns nie ein Erwachsener auf die Spur. Es gab auch einen kostenlosen Bethelbus, doch der fuhr nicht an unserem Haus vorbei, so dass wir ihn kaum nutzten. Was fehlte, war lange Zeit ein eigener Rundfunksender, doch als man das bemerkte, gab es den dann plötzlich auch. Der Betheler Krankenhausfunk übertrug per Kabel die Gottesdienste aus den Betheler Kirchen in die Pflegehäuser, und ab Mitte der Siebziger gab es zwischendurch religiöse Popmusik, bevorzugt von der anstaltseigenen Fürsorgezöglingsband »Wir« aus Freistatt, Bethels Teilanstalt im Moor.
Bethel hätte eigentlich nur noch eigene Briefmarken drucken müssen, dann wäre es glatt als ein Zwergstaat wie Monaco, San Marino oder eben der Vatikan durchgegangen. Tatsächlich hörte ich immer mal wieder das Gerücht, es hätte nach Ende des Zweiten Weltkriegs Pläne gegeben, Bethel aus Westdeutschland heraus zu trennen und in die Unabhängigkeit zu entlassen. Das aber ist wahrscheinlich Blödsinn. Diese Anstalt war ja nicht von dieser Welt. Ich wusste lange nicht, womit ich diesen Ort vergleichen sollte, bis ich irgendwann die Fernsehserie »The Prisoner« mit Patric McGoohan sah. Hier wird ein Haufen seltsamer Gestalten in einem nur »The Village« genannten höchst autarken Dorf festgehalten, in dem seltsame Regeln gelten und aus dem es praktisch kein Entrinnen gibt. Allerdings glaubte ich, dass ich, wenn ich nur wollte, »der Anstalt« jederzeit entkommen konnte. Wie sich später herausstellen sollte, war das ein Irrtum.
Ich irrte auch, als ich dachte, dass in Bethel alles so bleiben würde, wie ich es als Kind vorgefunden hatte. Ab Mitte der sechziger Jahre setzten die ersten Veränderungen ein. Es begann damit, dass meine Eltern Wegwerfbettwäsche aus Papier testen mussten. Die sollten in allen Betheler Pflegehäusern eingeführt werden, um so die Kosten für das Waschen einzusparen. Die Bettwäsche kratzte furchtbar und riss andauernd, so dass man am Ende doch von einer Umstellung von Stoff auf Papier Abstand nahm. Dafür stellte man vor Ophir einen Eisautomaten auf. Klaus Möller fand sofort heraus, dass der Automat nicht richtig funktionierte. Das Bundesgeldstück, das man einwarf, kam wieder raus; ein Eis aber bekam man trotzdem. Wir Kinder räumten den Automaten täglich leer und konnten eine Zeit lang Eis wie Brot essen. Nach ein paar Wochen endete unser Glück abrupt. Weil der Apparat sich offenbar nicht reparieren ließ, war er eines Tages wieder verschwunden.
Trotz dieser kleinen Rückschläge ließ sich der Fortschritt auch in Bethel nicht aufhalten. Gegen Ende der Sechziger begann man viele der alten, wie mittelalterliche Burgen oder Schlösser wirkenden Pflege- und Verwaltungshäuser abzureissen, und an ihrer Stelle Waschbetonburgen zu errichten. Diese Übergangszeit war auch die beste. Wir Kinder spielten in den leer stehenden Abbruchhäusern, schmissen alle Scheiben ein und fanden auf den Dachböden verborgene Schätze. Wir zerrten zurückgelassene hölzerne Rollstühle aus den Schuppen und fuhren mit ihnen auf abschüssigen Straßen Rennen. Uns standen jetzt auch die riesigen Gärten der Pflegehäuser offen. Hier ernteten wir die verlassenen Erdbeerfelder ab, pflückten eimerweise Johannisbeeren, legten Stauseen an, in denen wir Frösche züchteten, und bauten Häuser in den Bäumen. Im Frühjahr legten wir im trockenen Gras kleine Steppenbrände oder errichteten riesige Scheiterhaufen, in denen wir am liebsten gefundene Autoreifen, Altöl und Plastikteile verbrannten. Oft standen große schwarze Rauchsäulen über unserem Betheltal und manchmal kam die Polizei vorbei, um einzuschreiten. Doch dann waren wir längst weg.
Als man dann damit begann, die neuen Häuser zu errichten, ging diese Epoche zu Ende. Etwa zur gleichen Zeit wechselte ich aufs Gymnasium. Mein Schulweg war nicht weit; ich brauchte dafür kaum zwanzig Minuten. Doch die Schule befand sich auf der anderen Seite des Berges. Dort lag das, was unter den Bethelanern nur »die Stadt« hieß, eine Welt, in dem alles ganz anders war und wo andere Gesetze galten. In der Stadt zerfiel die Gesellschaft nicht in Brüder, Herren und Patienten, und Bethelgeld war wertlos. Hier konnte es passieren, dass man dafür aufgezogen wurde, weil man aus Bethel kam. Immer wieder gab es Klassenkameraden, die sich vor mir aufbauten und sagten: »Ey, Schmidt, du schuldest mir noch fünf Mark.« Anfangs fiel ich noch darauf rein und fragte verdutzt: »Wofür denn das?« »Ich hab’ dir doch in Bethel über die Mauer geholfen. Dafür!« Es nutzte nichts, dass man beteuerte, es gäbe um Bethel herum gar keine Mauer. Wer hierher kam, war in den Augen der anderen eben auch ein Irrer oder bestenfalls eine Witzfigur.
Aber natürlich waren wir, die wir aus Bethel kamen, anders. Und manchmal glaubte sogar ich, dass wir alle eine Macke hätten. Das hatte auch Vater Möller immer wieder behauptet, ein Nachbar, der in Bethel als Aushilfsgärtner arbeitete: »Wer als Normaler länger als fünf Jahre in Bethel gewohnt hat, wird selbst bekloppt.« Auf Vater Schulz traf das zu. Er war ein Alkoholiker, der in der Nachbarschaft die Stelle des Asozialen besetzte, auch weil er seine Kinder über das normale Bethelmaß hinaus schlug. Sein Sohn Klaus trug den Spitznamen »Hauwie«, weil er schon im Sandkasten des Vaters Prügelattitüde übernommen und andere Kinder angeschrien hatte: »Ich haue dich, aber wie.« So kaputt wie Hauwie war ich nicht, aber ich spürte immer wieder, dass auch ich eigentlich nicht in die normale Welt passte.
In dieser Welt bekamen die Leute Angst, wenn jemand einen Anfall hatte und sich in Krämpfen auf dem Boden wälzte. Man lief davon, wenn Spastiker einen unverständlich anlallten, und ekelte sich vor Spucke, die in langen Fäden von wulstigen Lippen troff. Außerdem war diese Welt schlecht und ungerecht, und mit so etwas wie Barmherzigkeit konnte man nicht rechnen. Ich fand mich hier nur sehr mühsam zurecht. Ich hätte natürlich mein Leben lang in Bethel bleiben können, wo ich wusste, wie der Hase hoppelte. Aber das neue Bethel gefiel mir nicht. Die Waschbetonburgen sahen aus wie überall, und weil sich die Bauernhöfe nicht mehr rentierten, wurden einer nach dem anderen dichtgemacht. Der schöne Siegfried fuhr jetzt nicht mehr mit dem Pferdewagen durch die Anstaltsstraßen. Auch der restliche Patientenadel verschwand. Irgendwann tat der Kater seinen letzten Maunzer, und Ernst von Tabor fiel der Taktstock für immer aus der Hand. Selbst für die Bezeichnung »Anstalt« begann man sich zu schämen.
Für mich war klar: Ich musste mir ein neues Bethel suchen, neue Brüder, Schwestern und Patienten. Ich brauchte eine Weile, bis ich sie fand. Mitte der Achtziger stieß ich in Frankfurt auf eine Gruppe, die den Betreibern und Insassen Bethels ähnlich war: Die Redaktion des Magazins Titanic und ihr Umfeld. Ich will nicht ausbreiten, wer hier welche Rolle einnahm; bis dieses Kapitel geschrieben wird, müssen wohl noch einige Jahre ins Land gehen. Ich kann nur versichern, dass ich mich als ehemaliger Bethelinsasse in dieser Versammlung von Neurotikern, Paranoikern, Hypochondern und bipolar Gestörten einige Jahre sehr wohlgefühlt habe. Auch die Leserschaft dieses Blattes besteht ja zu einem großen Teil aus Menschen, die im Oberstübchen nicht ganz richtig sind. Ich hatte damit selbstverständlich keine Probleme. Und so übernahm ich, als ich Titanic-Redakteur wurde, automatisch die Betreuung der härtesten Fälle.
Ich beantwortete die Briefe von Leuten, die mit in den Zähnen implantierten Radios gefoltert wurden, der Hohlwelttheorie anhingen oder Selbsttrepanation mit Bohrmaschinen als den einzigen Weg zur Erleuchtung propagierten. Natürlich versuchte ich, sie möglichst sanft abzuwimmeln. Hatte es aber trotzdem jemand geschafft, bis in die Redaktionsräume vorzudringen, war ich es, der sich um ihn kümmerte. Einmal war ein Schizophrener auf das Dach der Redaktion geklettert, nachdem ihm die Sekretärin in letzter Sekunde die Stahltür vor der Nase zugeknallt hatte. Dieser Mann, der sich Konsul St. nannte, hatte schon vor seinem Besuch ein Paket an die Redaktion geschickt, in dem sich unter anderem sein Abiturzeugnis, sein Wehrpass und ein Einlieferungsbeschluss in die geschlossene Psychiatrie befanden. Ich war also auf den Mann bestens vorbereitet, denn selbstverständlich hatte ich sein Paket und die beiliegenden Papiere genau studiert. Konsul St. hatte während eines Schubs Passanten auf der Straße als »CSU-Faschisten« und »Franz-Josef-Strauß-Anbeter« beschimpft und sie von seiner Wohnung im vierten Stock mit Topfpflanzen bombardiert. Es war ein kleines Wunder, dass bei diesem Angriff kein Mensch zu Schaden gekommen war. Das meinte jedenfalls der einweisende Richter.
In einem weiteren Schreiben bewarb sich Konsul St. um einen Redakteursposten bei der Titanic, wobei er sich ausdrücklich auf den Einweisungsbeschluss als »aussagekräftiges Zeugnis« berief. Ich dachte, jetzt sei er wohl gekommen, um seine Stelle anzutreten. Ich hatte falsch gedacht. Nach seinem Ausschluss aus den Redaktionsräumen hatte sich der Konsul aufs Flachdach der Redaktion geschlichen. Hier hockte er jetzt vor einer der Plexiglashauben, die als Oberlichter dienten, und schrie nach unten: »Die Sache hat sich erledigt. Ich will mein Paket zurück. Ich habe es versehentlich im Dunkeln gepackt.« Als er aus der Redaktion nur ein höhnisches Lachen hörte, begann er, die Muttern der Hauben zu lösen. Dabei schrie er mit einer Stimme, die direkt aus der Hölle zu kommen schien: »Einen Moment. Ich bin gleich da!«
Er kam mit den Schrauben erstaunlich schnell voran, und so war es nur eine Frage der Zeit, bis sich die Kuppel öffnen und der irre Konsul in die Redaktion herablassen würde. Da bekamen es die Redakteure, die sich eben noch in Sicherheit gewähnt hatten, doch langsam mit der Angst zu tun. Auch mir war die Situation nicht geheuer, hatte ich doch in Bethel mehr als einmal erlebt, was für Kräfte Menschen auf einem psychotischen Schub entwickeln können. Andererseits hatte ich die Erfahrung gemacht, dass Schizophrene meistens vernünftig reagieren, wenn man sich nur etwas auf ihre Wahnvorstellungen einlässt. Also schrie ich dem Konsul von unten zu: »Kein Problem, das mit dem Paket. Aber wie wäre es, wenn ich es Ihnen aufs Dach bringe?« Man konnte Konsul St. auf dem Dach zwar nicht direkt beim Überlegen zuhören. Er hörte aber damit auf, die Muttern abzuschrauben. Dann schrie er durch das Plexiglas zurück. »Gut, abgemacht. Aber keine Tricks.«
Ich nahm das Paket, öffnete ein Dachgaubenfenster und kletterte zu Konsul St. hoch aufs Dach. Der kam mir federnden Schrittes entgegen. Ich hatte ein bisschen Angst, dass er sich die Übergabe doch noch anders überlegen könnte. Was wäre, wenn ich mich in seinen Augen plötzlich auch in einen »CSU-Faschisten« verwandeln würde? Immerhin war dieses Haus fünf Stockwerke hoch, und nur ein kleiner Stoß würde genügen, um mich als Fett- und Blutfleck auf dem Asphalt enden zu lassen. Aber Konsul St. blieb friedlich. Er lächelte sogar ein bisschen, als er das Paket an sich nahm, und flippte auch nicht aus, als er merkte, dass ein Redakteur die Übergabe fotografierte. Dann fragte er etwas verlegen: »Du hast nicht vielleicht noch ein bisschen Geld für mich?«
Ich kramte in meinen Taschen und fand nur einen zerknüllten Bethelgeld-Schein. Den hatte ich wohl beim letzten Besuch bei meinen Eltern eingesteckt. Ich überreichte ihm den Lappen. »Bethelgeld«, schrie der Konsul begeistert. »Echtes Bethelgeld. Jetzt weiß ich endlich, wohin ich gehe.« Er bedankte sich, stieg rasch vom Dach und packte sein Paket in einen Einkaufswagen, den er auf dem Flur vor der Redaktion geparkt hatte. Dann fuhr er mit dem Fahrstuhl nach unten. Als er auf der Straße auftauchte, war ich gerade vom Dach gestiegen und sah aus einem Fenster. Mit seinem Einkaufswagen zuckelte der Konsul langsam davon, und nach ein paar Minuten verschwand er um die Ecke. In diesem Moment merkte ich, wie ich ein bisschen neidisch wurde.