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Ein interessanter Irrer Zum ersten Mal dagegen (13 Jahre)

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Wann es anfing, weiß ich noch ziemlich genau. Ich war dreizehn und ich fuhr mit meiner Klasse ins Landschulheim nach Langeoog. Dort lernte ich in den Dünen filterlose Zigaretten rauchen und Bier trinken. Beides schmeckte mir auf Anhieb. Als ich wieder nach Hause kam, weigerte ich mich, mir die Haare schneiden zu lassen. Ich, der ich bis dahin sehr ordentlich gewesen war, räumte auch mein Zimmer nicht mehr auf. Und ich setzte noch einen drauf. Einmal, als ein Schulkamerad bei mir zu Besuch war, behauptete ich allen Ernstes, ich würde auch meine Topfpflanzen nicht mehr gießen. Das war zwar gelogen, denn ich habe in meinem Leben noch nie Blumen vertrocknen lassen können, doch in dieser Lüge offenbart sich meine damalige neue Auffassung vom Leben recht deutlich. Kurze Haare, aufgeräumtes Zimmer, Blumen gießen, das alles war in meinen Augen plötzlich Ausdruck einer angepassten Geisteshaltung. Ich aber hatte begonnen, mich diesem stumpfen Leben zu verweigern.

Warum fängt so was an? Angeblich liegt es an den Hormonen. Beginnt die Pubertät, dann produziert der Körper Unmengen von Verweigerungshormonen. Ob das stimmt? Wahrscheinlich wird man mit ca. zwölf bis vierzehn Jahren einfach nur klüger. Man weiß zwar noch nicht viel, aber wenigstens schon mal, dass es so, wie es ist, nicht sein soll.

Ich jedenfalls hörte von nun an nicht mehr auf, mich bestimmten Anforderungen, die das Leben, die Gesellschaft, der Staat oder wer auch immer an mich stellte, zu verweigern. Dabei legte ich Wert darauf, dass meine Form der Verweigerung nicht der von anderen glich. Aber vielleicht ist diese Behauptung zu hochgegriffen. Denn wahrscheinlich war doch alles eher ein Zufall.

Tatsache ist, dass ich anders als alle meine Freunde nicht den Wehrdienst verweigerte, sondern zur Bundeswehr ging. Ich verschwieg sogar bei der Musterung eine Krankheit, damit ich nicht untauglich geschrieben wurde. Und das nicht, weil ich mich für die Armee begeisterte oder den Wehrdienst als ein notwendiges Übel begriff. Im Gegenteil. Ich war keineswegs mit dieser Armee einverstanden.

Dass ich zum Bund ging, hatte, wie man noch sehen wird, schon etwas mit meinem Verweigerungsdrang zu tun, war aber zunächst einmal von Chinesen in Peking beschlossen worden. Das stimmt, so wie alles in diesem Bericht die lauterste Wahrheit ist. Damit man diese Geschichte aber verstehen kann, muß ich etwas ausholen.

Die Chinesen wurden in meiner Heimatstadt Bielefeld unter anderem von der KPD vertreten. Nicht von der alten Liebknecht/Luxemburg-KPD, die ist ja bis heute in Deutschland verboten. Sondern von einem kleinen Haufen, der von ehemaligen SDS-Studenten Anfang der siebziger Jahre gegründet worden war. Diese KPD zählte wie die KPD/ML (Marxisten/Leninisten) oder der KBW (Kommunistischer Bund Westdeutschland) zu den sogenannten K-Gruppen. Auch die letztgenannten Gruppen orientierten sich an den Ideen Mao Tse Tungs und der kommunistischen Partei Chinas. Aber in Bielefeld gab es nicht viele KBWler, und die KPD/ML war nur im Stadtteil Brackwede stark. Deshalb landete ich, der ich bei irgendeiner Gruppe dabei sein wollte, die entschieden was gegen diesen Staat unternahm, eben bei der KPD.

Das heißt, ich wurde mit Fünfzehn Mitglied der »Liga gegen den Imperialismus«, denn die KPD war eine sogenannte Kaderpartei, in die man erst nach harten Tests und Prüfungen eintreten konnte. Die »Liga« dagegen war eine von der eigentlichen Partei unabhängige sogenannte »Massenorganisation«, bei der jeder mitmachen durfte. Tatsächlich war der Verein aber ganz und gar abhängig von der KPD, und eine Massenorganisation war er mangels Masse natürlich auch nicht.

Nun ja, mit Verweigerung, so wie ich sie bisher praktiziert hatte, war es in der Liga nicht weit her. Im Büro der Ortsgruppe herrschte Gerda, eine graue, etwas fülligere Frau um die dreißig. Zu politischen Fragen äußerte sie sich kaum. Trotzdem meldete sie sich auf der wöchentlichen Ortsgruppensitzung jedesmal zu Wort. Dann meckerte Gerda über die Unordnung im Büro oder die schlecht geputzte Schaufensterscheibe. Wenn sich mal ein Arbeiter in unseren Schuppen verirre, falle der doch vor Schreck über den Schmutz gleich wieder aus der Tür. So schlimm sah es wirklich nicht aus, aber nach Gerdas Ansprache schauten die Genossen jedes mal schuldbewusst zu Boden und versprachen sich zu bessern. Am Ende war es aber doch Gerda, die aufräumte, den Boden schrubbte, das Fenster putzte oder Topfpflanzen hineinstellte. Ob das einem Arbeiter gefallen hätte, weiß allerdings bis heute niemand. So lange ich Liga-Mitglied war, hat sich keiner im Büro blicken lassen.

Angeführt wurde die lokale KPD nebst ihren vielen Zweigorganisationen von Sarah und Lars, einem Ehepaar. Die beiden Kader waren vom Dortmunder Zentralkomitee nach Bielefeld geschickt worden, um den ganzen Verein hier auf Vordermann zu bringen. Sarah und Lars hießen allerdings gar nicht so, diese Namen waren ihre konspirativen Partei- oder auch Kampfnamen. Wie Lars wirklicher Name lautete, habe ich vergessen, Sarah hieß jedenfalls im bürgerlichen Leben Edith. Geheiratet hatten beide, so hieß es, auf Befehl der Partei, die die Ansicht vertrat, verheiratete Kommunisten kämen bei der Arbeiterklasse besser an.

Wohl aus demselben Grund trug Lars gerne einen Trenchcoat, fassongeschnittene Haare und einen Schnäuzer. Wenn man ihn sah, glaubte man einen Versicherungsvertreter vor sich zu haben. Sarah war überaus hager und hatte ein energisch geschnittenes Gesicht. Weil sie bei öffentlichen Auftritten der Partei fast alle Reden hielt, ist mir ihre meist vor Aufregung zitternde Keifstimme besonders in Erinnerung geblieben. Auf einer Busfahrt zu einer der vielen KPD-Aufmärsche schnappte sich Sarah einmal das Busmikrofon und begann zu singen. Ein Arbeiterlied, in dem die Zeile »Rot bin ich geboren« vorkommt. Ich habe mich für die entsetzliche Stimme dieser Frau so geschämt, dass ich am liebsten unter meinen Sitz gekrochen wäre.

Als entschlossener Verweigerer machte ich natürlich auch bei der Liga nicht alles mit. Die Partei hätte es schon gerne gesehen, wenn ich mir einen massenfreundlicheren Haarschnitt zugelegt hätte. Lange Haare – und ich hatte wirklich verdammt lange Haare – waren Ausdruck kleinbürgerlicher Dekadenz. Ich aber weigerte mich beharrlich, mir eine larsähnliche Frisur verpassen zu lassen. Auf den vielen Busfahrten war es Gerda, die jedesmal ein striktes Rauchverbot verlangte. Mit einem Verweis auf Maos enormen Zigarettenkonsum brachte ich sie eben so oft zum Schweigen. Anschließend quarzte ich meine Selbstgedrehten besonders genüßlich. Auch die ersten beiden Zeilen der zweiten Strophe der »Internationale« sang ich nie mit. Die lauten: »Es rettet uns kein höh’res Wesen, kein Gott, kein Kaiser noch Tribun«. Das wollte ich nicht singen, weil ich es mir mit Gott nicht verderben wollte. Ich war nämlich nicht nur Kommunist, sondern obendrein noch Christ. Ich hatte es schon immer gerne etwas komplizierter.

Ohne weiteres ließ ich mich allerdings von Gerda, Lars und Sarah zum Bund schicken, denn dahinter steckten schließlich die Chinesen. Weshalb man damals in Peking wollte, dass deutsche Maoisten zur Bundeswehr gingen, ist heute nur noch schwer zu verstehen. In erster Linie lag es an den Russen. Nach Meinung der chinesischen Führung hatten die nicht nur den Sozialismus verraten, sondern nach Ende des Vietnamkriegs auch die Amis als die weltweit gefährlichsten Imperialisten abgelöst. Die Sowjetunion, so lautete die Botschaft aus China, wolle nunmehr Westeuropa erobern, zur Not auch mit Gewalt. Ein unmittelbar drohender Krieg könne nur verhindert werden, wenn sich die westeuropäischen Staaten mit China und den Staaten der Dritten Welt verbündeten. Zu diesem Zweck traf sich der altersschwache Mao in Peking sogar mit Franz Josef Strauß. Ich aber hatte zur Bundeswehr nach Boostedt bei Neumünster zu gehen, um dort, wie es hieß, »die weltweite Front gegen die imperialistischen Supermächte, ganz besonders aber gegen den Hauptfeind der Völker, die sozialimperialistische Sowjetunion, zu stärken«.

Meine Mission war aber nicht nur eine welthistorische, sondern auch eine äußerst vertrackte. Denn während die Chinesen und meine Partei einerseits von mir verlangten, die Verteidigungsbereitschaft der Bundeswehr gegen den Aggressor aus dem Osten zu erhöhen, sollte ich andererseits dieselbe Bundeswehr als zwar als nicht ganz so gefährliche, aber dennoch immer noch üble imperialistische Armee entlarven. Im Bürgerkriegsfalle zum Beispiel hätte ich die Offiziere erschießen müssen, um mich sodann selbst an die Spitze meiner Bundeswehreinheit zu setzen. Eine Vorstellung, die mir in der Theorie ganz gut gefiel. Aber in der Praxis hätte ich das wohl kaum fertiggebracht. Dafür bin ich zu friedfertig.

Das Ambivalente meines Parteiauftrags kam meinem Bedürfnis nach raffinierteren Verweigerungsstrategien entgegen. Während ein simpler ZDLer nur ein einziges Mal den Dienst an der Waffe verweigerte, um dann Zivildienst zu leisten, musste ich von Fall zu Fall entscheiden, ob es erforderlich sei, die Kampfkraft der Bundeswehr zu stärken oder doch eher Zersetzungsarbeit zu leisten. Wenn auch die Wirklichkeit ein wenig anders aussah, so war ich doch von nun an fünfzehn Monate lang jeden Tag gefordert.

Von Anfang an war mir klar, dass ich das sogenannte feierliche Gelöbnis nicht ablegen würde. Normalerweise müssen das die neuen Rekruten am Ende der Grundausbildung während einer Zeremonie gemeinsam murmeln. Sie verpflichten sich damit, diesem Staat immer treu zu dienen und ihn tapfer zu verteidigen. Die Verweigerung des Gelöbnisses war KPD-Linie. Dies sei, so ließ das Zentralkomitee verlauten, ein ausgezeichnetes Mittel, um innerhalb der Bundeswehr für die Partei Propaganda zu machen. Die Kameraden sollten einen interessiert fragen, weshalb man das Gelöbnis ablehne. Das taten sie denn auch. Nachdem ich ihnen meine Gründe offenbart hatte, hielten sie mich für einen interessanten Irren.

Die Verweigerung des Gelöbnisses selbst ist kein großer Akt. Kein Bundeswehrsoldat ist verpflichtet, bei dem Zeremoniell mitzumachen. Trotzdem gibt es praktisch niemanden, der sich ihm entzieht. Die Ausnahme bilden die Soldaten, die sich erst bei der Bundeswehr entschließen, den Wehrdienst zu verweigern. Nach einem abgelegten Gelöbnis wäre ihr Verweigerungsantrag schwer zu begründen.

Als ich ein paar Tage vor der Gelöbniszeremonie zum Chef meiner Einheit ging, um ihn von meiner Absicht zu unterrichten, glaubte der deshalb, ich sei ein ganz normaler Kriegsdienstverweigerer. Ich erklärte ihm, dass das nicht so sei. Weshalb ich denn dann...? Ich grummelte, dass ich schon meine Gründe hätte. Den dummen Zugchef, der uns Soldaten gerne schikanierte, ratlos zurückzulassen, gab mir ein angenehmes Gefühl. Mulmig war mir trotzdem.

Später kapierten irgendwelche Leute beim Militärischen Abschirmdienst, dass ich ein Chinatreuer war. Ich wurde zu einem Verhör befohlen. Dabei versuchte es der Sicherheitsoffizier erst einmal mit Anbiederei. Im Großen und Ganzen seien sich doch die Bundeswehr und die Maoisten einig. Unser Feind sei doch der gleiche usw. usf. Dabei zeigte er auf seinen Schreibtisch, auf dem ein ganzer Batzen maoistischer Zeitungen lag. Es waren allerdings diverse Ausgaben des Roten Morgen, dem Zentralorgan unserer Konkurrenz von der KPD/ML. Hihi, falsch getippt, triumphierte ich innerlich.

Als der Offizier sah, dass er nichts ausrichten konnte, änderte er seine Taktik. Mit seinem Gesicht kam er meinem so nah, dass beide sich fast berührten. Dann schrie er mich mit aller Kraft an. Ich erschrak nicht schlecht. Gleichzeitig fand ich die Situation sehr komisch. Ich dachte, dass er das aus einem Spionagethriller hat und dass es tatsächlich nicht so übel wäre, diesen Mann zu erschießen.

In den siebziger Jahren haftete dem Militärischen noch etwas Asoziales an. Kein wehrpflichtiger Soldat wäre beispielsweise auf die Idee gekommen, in Uniform Zug zu fahren. Das ist heute anders. Auch die mit einigem militärischen Pomp verbundenen Gelöbnisfeiern veranstaltet man heute gerne in der Öffentlichkeit. Damals fanden sie nur in den Kasernen statt und fielen deutlich schlichter aus.

Genaueres kann ich dazu nicht sagen, denn ich bekam von der ganzen Zeremonie nichts mit. Am Tag des Gelöbnisses wurde ich zusammen mit einem Kameraden, der nachträglich verweigert hatte, in den Keller der Brigade abkommandiert. Dort mußten wir einen halben Tag lang Latten rot und weiß streichen. Die Latten wurden für die Hindernisse auf einem Springreitturnier der Offiziere gebraucht, das am nächsten Wochenende stattfinden sollte. Später erzählten mir meine Kameraden, dass bei den Gelöbnisfeierlichkeiten einige angetretene Rekruten einfach umgefallen waren. Das war nichts Ungewöhnliches, vor allem, wenn es sehr heiß war und sich beim stundenlangen Herumstehen die Hitze unter den Stahlhelmen der Soldaten staute. Wird einer während des Aufsagens der Gelöbnisformel ohnmächtig, gilt dies als gutes Omen. Wofür? Vielleicht für den Ausgang des nächsten Kriegs oder so was ähnliches.

Die Verweigerung des Gelöbnisses hatte aber auch einen schwerwiegenden Nachteil. So ist der Gelöbnisabstinente von der Beförderung ausgeschlossen. Ich blieb also fünfzehn Monate einfacher Soldat, während alle meine Kameraden nach einem halben Jahr automatisch zu Gefreiten und später sogar zu Ober- oder Hauptgefreiten ernannt wurden. Sie bekamen damit nicht nur ein bis drei Streifen mehr auf ihre Schulterklappen, sondern auch entschieden mehr Sold als ich. Das war der Hauptgrund, weshalb man mich für nicht ganz dicht hielt. Ich aber war stolz auf meinen Verzicht.

Es hieß auch, dass ein Gelöbnisverweigerer nach Abschluss der Grundausbildung nur schlimme Hilfsarbeiten aufgehalst bekäme. Mein Zugführer prophezeite mir regelmäßig, dass ich mich darauf freuen könne, ein Jahr lang nur Benzinkanister zu schleppen. Er sollte Unrecht haben. Ich war zum Materialnachweissoldaten ausgebildet worden und so bekam ich einen Posten, auf dem ich für die Ersatzteilbeschaffung und Materialversorgung eines ganzen Panzerspähzuges zuständig war. Ich hatte sogar mit geheimen Unterlagen zu tun, obwohl ich das als Gelöbnisverweigerer eigentlich nicht durfte. Weshalb, das kann ich mir bis heute nicht erklären. Ich vermute, dass man mich beim MAD einfach vergessen hatte. Vielleicht hatte man ja auch meine Akte vertauscht? Bei meinem häufig vorkommenden Nachnamen passiert so etwas öfter.

Über die Arbeit in meinem eigenen kleinen Büro konnte ich mich nicht beklagen. In das ging ich jeden Morgen, stellte den Kalender um und schlief dann mit dem Kopf auf dem Schreibtisch den Rausch vom Vorabend aus. Ärger gab’s deswegen nie, weil ich ein sehr guter Materialnachweissoldat war. Ich ließ sogar das Fahrrad wieder in Ordnung bringen, das zur Standardausrüstung unseres Spähzuges gehörte, aber bis dato im Kasernenkeller vor sich hin gegammelt hatte. Das war wohl mein wichtigster Beitrag zur Stärkung der Kampfkraft der Bundeswehr. Und die fahrradbegeisterten Chinesen, so dachte ich, würden sich über die Reparatur sicherlich doppelt freuen. Tatsächlich träumte ich eines Nachts davon, wie mir Mao Tse Tung persönlich auf die Schulter klopfte. Doch das bilde ich mir heute wahrscheinlich nur ein. Wahr ist aber, dass ich für meine Arbeit vom Chef unserer Zuges eine sogenannte förmliche Anerkennung erhielt, verbunden mit zwei Tagen Sonderurlaub. Es gibt vermutlich nicht viele Gelöbnisverweigerer, denen so etwas bei der Bundeswehr widerfahren ist.

Nur an dem für jeden Soldaten obligatorischem Unterricht in »Innerer Führung und Recht« durfte ich nicht teilnehmen, weil ich dort ein paar Mal Reklame für die chinesische Volksbefreiungsarmee gemacht hatte. Von den wahren Verhältnissen in der chinesischen Armee hatte ich allerdings keinen Schimmer. Deshalb dachte ich mir einfach eine Armee aus, wie sie mir gefallen hätte. Ich behauptete zum Beispiel dreist, in der Volksbefreiungsarmee sei es üblich, über den Sinn und Zweck von Befehlen mit den Vorgesetzten zu diskutieren. Selbstverständlich war das Unfug. Zu meinem Pech hatte unser Zugführer wesentlich mehr Ahnung vom rotchinesischen Militärwesen, denn er war, bevor er zur Bundeswehr kam, Apo-Aktivist gewesen. So fiel es ihm nicht schwer, meine Behauptungen zu widerlegen. Trotzdem durfte ich beim Unterricht nicht mitmachen. Wahrscheinlich konnte ich meinen Unsinn sehr gut vertreten.

Mao starb in dem Jahr als ich bei der Bundeswehr war. Zu diesem Zeitpunkt war ich aber schon längst kein richtiger Maoist mehr. Nach der Grundausbildung hatte man mich nach Hamburg versetzt, wo ich dem Einfluß von Gerda, Lars und Sarah entzogen war. Das hatte zur Folge, dass ich eines Tages glaubte, Anarchist zu sein. Ich begann, mit einem schwarzen Edding das Anarchisten-A auf die Kacheln der Kasernenklos zu malen.

Schon anarchistisch angehaucht, konnte mich Maos Tod nicht mehr sonderlich erschüttern. Er war ja sowieso die letzten Jahre schwer hinfällig gewesen. Trotzdem trug ich zum Zeichen der Trauer ein paar Tage lang eine schwarze Binde mit einem roten Stern am rechten Arm. Natürlich nicht beim Bund, sondern nur an den Wochenenden über meinen zivilen Parka. Über die Schulter hinab schaute ich mir beim Gehen gerne diese Armbinde an und kam mir sehr revolutionär vor.

Dann kam der große Wettbewerb. Geplant war, auf dem Truppenübungsplatz Bergen-Hohne verschiedene Panzerspähzüge aus ganz Norddeutschland um die Wette spähen zu lassen. Der beste Zug sollte einen Pokal gewinnen. Auf den war unser Zugführer besonders scharf, weil er sich von dem Gewinn die Beförderung zum Hauptmann versprach. Vor uns Soldaten stritt er das allerdings heftig ab.

Wochenlang musste unser Zug von morgens bis abends für den Wettbewerb trainieren. Unter den Soldaten wuchs die Unzufriedenheit. Das wollten die paar Querulanten in der Einheit ausnutzen. Eine kleine oppositionelle Zelle wurde gegründet, bei der ich selbstverständlich dabei war. Wir schrieben Flugblätter, in denen wir dazu aufriefen, den Wettbewerb absichtlich zu verlieren, und verteilten sie heimlich unter den Soldaten.

Die Zelle bestand aus fünf Leuten und traf sich außerhalb der Kaserne in einem Hamburger Jugendzentrum. Dort besprachen wir unser weiteres Vorgehen. Ich wurde dazu bestimmt, den Widerstand des Innendienstes zu koordinieren. Lange übte ich diese Funktion nicht aus. Schon am nächsten Tag wurden alle Zellenmitglieder zum Zugchef ins Büro befohlen. Jeder musste einzeln hinein. Der Chef zeigte sich über unsere Absichten bestens informiert. Fast wörtlich erzählte er mir, was wir am Abend zuvor besprochen hatten. Einer von uns fünf hatte alles verraten.

Unser Anführer, ein Kommunist vom KBW, kam für eine Woche in Arrest; in seinem Spind hatte man die Flugblätter gefunden. Wir anderen wurden mit Ausgangssperren bestraft. Der Verräter war schnell ermittelt. Da er aus schwierigen sozialen Verhältnissen kam, verziehen wir ihm. Unser Zugchef versprach dann dem ganzen Zug zwei Fässer Bier, wenn er nicht uns Aufrührern, sondern ihm folgen und sich beim Wettbewerb ordentlich ins Zeug legen würde. Er hatte damit Erfolg. Unser Zug gewann den begehrten »Freiherr-von-Boeselager«-Pokal. Zwei Wochen später wurde unser Chef zum Hauptmann befördert.

Schließlich landete auch ich noch im Bau. Nur zwei Tage vor Ablauf meiner Dienstzeit hatte ich zusammen mit ein paar Kameraden unsere Entlassung vorgefeiert, das heißt, wir hatten uns betrunken. Im Suff kamen wir auf die Idee, eine Deutschlandfahne aus dem Flur einer anderen Einheit zu stehlen. Als sie in unserem Besitz war, riss ich von der Fahne den gelben Streifen ab. So wurde kurzerhand aus der Deutschlandfahne die schwarz-rote Fahne der spanischen Anarcho-Syndikalisten. Ich nahm die Fahne in die Hand und stapfte damit über den langen Flur unserer Unterkunft. Zehn meiner betrunkenen Kameraden folgten mir. Ich begann zu singen: »Viva, viva Anarchia!«, keine Ahnung nach welcher Melodie. Die anderen Besoffenen sangen begeistert mit.

So marschierte unser grotesker Haufen den Flur auf und ab, bis ich irgendwann das Gefühl hatte, dass es genug sei. Um keine Beweise für unseren Frevel zu hinterlassen, schlug ich vor, die geschändete Fahne zu vernichten. Die hölzerne Fahnenstange wurde zerbrochen und ihre Teile aus dem Fenster geschmissen. Während ich das Ton-Steine-Scherben-Stück »Macht kaputt, was euch kaputt macht« auflegte, zündete jemand den Stoff der Fahne an. Auch er flog brennend auf den Kasernenhof.

Kurze Zeit später wurden wir vom diensthabenden Unteroffizier einer anderen Einheit geschnappt. Zwei Tage später verurteilte das Truppendienstgericht drei von uns ohne Anhörung zu zehn Tagen Arrest im Kasernengefängnis, mich eingeschlossen. Unser Zugchef hätte zumindest mich am liebsten vor ein ziviles Gericht gestellt, weil er meinte, bei meinem Hintergrund sei die Geschichte mit der Fahne eindeutig politisch motiviert gewesen. Dann hätte ich eine härtere Strafe bekommen und wäre obendrein noch vorbestraft gewesen. Doch die vorgesetzte Dienststelle wollte davon nichts wissen. Man war nicht daran interessiert, dass Bundeswehrgeschichten wie diese an die Öffentlichkeit drangen.

Als ich nach Verbüßung meines Arrests dann doch aus der Bundeswehr entlassen wurde, war ich mit meiner Zeit dort recht zufrieden. Die Russen hatten es nicht gewagt, die Bundesrepublik anzugreifen, das Fahrrad des Panzerspähzugs 170 fuhr wieder und den eher schlichten Maoismus hatte ich mir peu à peu auch abgewöhnt. Dafür hatte ich eine Menge gelernt. Gilt die Bundeswehr für gewöhnlich als Schule der Nation, die bloß angepaßte Untertanen hervorbringt, erfuhr ich hier eine wirkliche Grundausbildung in Renitenz und Querulanz. Die Entscheidung nicht mitzumachen, war aber schon vorher gefallen. Und schuld daran war nicht die Bundeswehr, sondern, wie sich das für eine Jugend in Deutschland gehört, die Polizei.

Zum ersten Mal tot

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