Читать книгу Der Jahrhundertkünstler Joseph Beuys - Christiane Hoffmans - Страница 13
ОглавлениеAus der Gefangenschaft heimgekehrt, zögerte Beuys nicht, sein Ziel, Bildhauer zu werden, so schnell wie möglich zu realisieren. Er wandte sich an den Klever Bildhauer Walther Brüx, der ihn mit den Grundbegriffen der Bildhauerei vertraut machte. Und der erfahrene Maler Hanns Lamers, der in Paris studiert hatte, machte ihn mit den modernen Kunstströmungen bekannt. Lamers’ Atelier wurde nach dem Krieg zu einem Treffpunkt für junge Künstler. Auch René Block, der rund 20 Jahre später Beuys’ Galerist wurde, besuchte Lamers einige Male. »Er hat mir in seinem Turmatelier von Beuys erzählt und einige kleine Skulpturen und Zeichnungen gezeigt, die Beuys ihm geschenkt hatte.«71
Lamers und Brüx gründeten unmittelbar nach dem Krieg den Klever Künstlerbund, an dessen Ausstellungen Beuys sich zwischen 1948 und 1950 dreimal beteiligte. Die Resonanz auf seine Aquarelle und Zeichnungen war nicht gerade überwältigend, doch Lamers verteidigte die anscheinend befremdlich wirkenden Werke seines Schützlings.72
Lamers muss in jenen Jahren für Beuys so etwas wie eine Vaterfigur gewesen sein. Beuys hatte einen engen persönlichen Kontakt zu dem Maler und trug wie dieser eine Baskenmütze. Erst Anfang der 1950er-Jahre tauschte Beuys das schwarze Symbol der Freiheit gegen einen flachen Hut aus grünem Leinen, den Sonja Mataré ihm aus Genf mitbringen musste,73 oder ein »Hütchen aus Segeltuch«74 — bis er den hohen Filzhut für sich entdeckte.
Möglicherweise hat der Sammler Joseph Koch, in dessen Haus Beuys zwei Jahre wohnte, ihn dazu verleitet, Hut zu tragen, denn der glatzköpfige Mann liebte es, seinen Kopf auch zu Hause zu bedecken. Und wenn zwei Männer Hut trügen, spekulierte er, würde seine Frau das akzeptieren müssen.75 Ob die Geschichte nun stimmt oder nicht: Jedenfalls wurde der Hut zu einem Erkennungsmerkmal und zusammen mit der locker sitzenden Jeans und der Anglerweste zu einer Art Uniform des Künstlers.
Der Mann mit dem Hut war seit Mitte der 1970er-Jahre der bekannteste Künstler Europas. Selbst Andy Warhol, der wie Beuys die Kunst der Selbstinszenierung beherrschte und in der westlichen Welt wie ein Popstar gefeiert wurde, verblasste ein wenig neben Beuys’ auratischer Erscheinung. Als der Düsseldorfer Galerist Hans Mayer für den 18. Mai 1979 eine Begegnung der beiden künstlerischen Hauptvertreter ihres jeweiligen Kontinents arrangierte, war das wie ein deutsch-amerikanisches Gipfeltreffen. Es ging dabei nicht nur darum, sich kennenzulernen, sondern hier ging es um die Frage: Wer ist der Größte? Beuys stand eine Weile in Mayers Galerie herum und zögerte, auf Warhol zuzugehen. Erst als Hans Mayer ihm sagte: »Warhol ist in Deutschland zu Gast«, ging Beuys auf den amerikanischen Star zu. »Sie mochten sich auf Anhieb«, erinnert sich Mayer.76 Dennoch: Viel zu sagen hatten sie sich nicht. Zu unterschiedlich waren ihre Auffassungen von Kunst und Leben. Warhol, möglicherweise beeindruckt von der Selbststilisierung seines Kollegen, machte ein Polaroidfoto und verewigte Beuys samt Hut in einem Siebdruck.
Bis es zu diesem legendären Treffen in Düsseldorf kam, hatte Beuys aber noch sehr viele Schwierigkeiten persönlicher und künstlerischer Art zu überwinden, glücklicherweise aber waren seine bildhauerischen Anfänge in Kleve erfolgreich. Er konnte am 1. April 1946 mit seinem Studium an der Staatlichen Kunstakademie in Düsseldorf beginnen — nur zwei Monate, nachdem das Institut seinen Lehrbetrieb wieder aufgenommen hatte. Seinen ursprünglichen Plan, in Berlin zu studieren, hatte Beuys aufgegeben. In Düsseldorf kam er zunächst in die Klasse von Joseph Enseling, einem Bildhauer, der ganz in Anlehnung an seinen Lehrer Aristide Maillol figürliche Skulpturen gestaltete, die sich an der Natur orientierten. Nach etwa vier Semestern wechselte der Student in die Klasse von Ewald Mataré. Beuys erklärte später, er habe sich Mataré nicht ausgesucht. Das klingt kokett, war es dem Studenten doch sicher recht, von einem berühmten Künstler, wie Mataré es damals war, unterrichtet zu werden.
Beuys war zumindest mit einem Werk seines Lehrers schon seit Schülerzeiten vertraut. Denn nur kurz nachdem Mataré 1933 aus der Akademie entlassen worden war — die Nationalsozialisten hatten seine Arbeiten als »entartet« gebrandmarkt —, hatte die Stadt Kleve ihn mit einem Denkmal für die gefallenen Soldaten beauftragt. Die Skulptur wurde unübersehbar gegenüber von Beuys’ Gymnasium platziert und von einer unpassend monumental gestalteten Anlage umfasst. Am 22. Oktober 1934 wurde sie von Mitgliedern der NSDAP eingeweiht. Dieses militärische Spektakel hat der damals 13-jährige Schüler vielleicht neugierig beobachtet, als Hitlerjunge könnte er eventuell auch daran teilgenommen haben. Bei Ewald Mataré, der mit seinen Tierskulpturen berühmt geworden ist, konnte Beuys vor allem lernen, wie man Formen klar gestaltet und wie man einfachen Figuren eine sinnlich-mythologische Tiefe gibt. Mataré unterrichtete seine kleine Studentengruppe, zu der auch der Bildhauer Erwin Heerich gehörte, nicht in der Akademie, sondern im zehn Kilometer entfernten Meerbusch-Büderich, wo er in einer umgebauten Scheune zugleich Wohnung und Atelier hatte.77
Wohnte der Studienanfänger Beuys zunächst bei Freunden im Süden Düsseldorfs,78 zog er spätestens 1947 auf die linke Rheinseite. Dort fand er zuerst Unterkunft bei der Familie des Ingenieurs und Kunstfreunds Fritz Niehaus in Meerbusch, wo er im Erdgeschoss ein möbliertes Zimmer hatte und sich in einer Garage des Nachbarn eine kleine Werkstatt einrichten durfte.79 Im Bücherschrank von Fritz Niehaus stand Rudolf Steiners Abhandlung Die Kernpunkte der sozialen Frage, die Steiner nur ein Jahr nach dem Ersten Weltkrieg verfasst hatte. Für Beuys war dies eine folgenreiche Entdeckung. Zwar hatte er schon während seiner Zeit als Soldat ein bisschen in den Schriften des Gründers der Anthroposophie geblättert, jedoch ohne dass sie einen tieferen Eindruck hinterlassen hätten. Jetzt aber, nach dem mörderischen Krieg, bedeutete Steiners Schrift für Beuys eine Art politisch-intellektuelles und sinnliches Erweckungserlebnis. In Die Kernpunkte der sozialen Frage hatte Steiner ein neues Gesellschaftssystem entwickelt, das vor allem nach den Erfahrungen mit dem Ersten Weltkrieg die Macht des Staates brechen sollte.
Steiner wollte eine »Soziale Dreigliederung« als Fundament einer Gesellschaft. Das gesamte öffentliche Leben hatte für ihn auf den drei gleichberechtigten Säulen Geistesleben, Rechtsleben und Wirtschaftsleben zu basieren, die sich jeweils frei entwickeln sollten. Der Steiner’sche Text wurde für Beuys zum Fundament für seine Anfang der 1970er-Jahre entwickelte Idee der »sozialen Plastik«. Er verstand diese als »modernste Kunstdisziplin«, die in der Lage sei, »repressive Wirkungen eines vergreisten und auf der Todeslinie weiter wurstelnden Gesellschaftssystems zu entbilden, um zu bilden: Einen sozialen Organismus als Kunstwerk«.80 Jeder Mensch ist demnach aufgerufen, zu einem »Mitgestalter, einem Plastiker oder Architekten am sozialen Organismus«81 zu werden. Der soziale Organismus als Kunstwerk — für diese Idee kämpfte Beuys sein Leben lang. Gründungen gesellschaftspolitischer Einrichtungen wie der »Organisation für direkte Demokratie durch Volksabstimmung« (1971) oder des Vereins zur Förderung einer »Freien internationalen Hochschule für Kreativität und interdisziplinäre Forschung« (1973) erwuchsen daraus. Auch in Bezug auf den Umgang mit den menschlichen Sinnen war Steiner für Beuys eminent wichtig. Steiner unterschied nicht nur die fünf klassischen, sondern insgesamt zwölf Sinne — Gleichgewicht, Wärme, eigene Bewegung und Lebens- sinn kamen beispielsweise hinzu. »Die große Leistung Steiners ist es gewesen, gar nichts erfunden zu haben, sondern (nur !) aus der unendlich gesteigerten Wahrnehmung heraus vorgetragen zu haben, was des Menschen höhere Sehnsucht ist, wenn er es auch noch nicht weiß«, formulierte Beuys 1971 in einem Brief an den Regisseur Manfred Schradi.82
Doch bevor Beuys die Welt retten konnte, musste er zuerst seine nicht gerade konfliktfreie Studienzeit hinter sich bringen. Nach dem Aufenthalt bei der Familie Niehaus zog er wohl Ende 1948 um, nur ein paar Straßen weiter zur Familie des Kaufmanns und Kunstsammlers Joseph Koch.83 Er wohnte damit auch nicht weit entfernt von seinem Lehrer Mataré. Das Verhältnis zu Mataré galt als kompliziert — sowohl seitens des Studenten als auch des Lehrers. In der ersten Zeit schien es noch ungetrübt. »Beuys hat meinen Vater sehr geschätzt, und mein Vater Beuys. Er hielt ihn für den künstlerisch Begabtesten seiner Schüler. Die beiden hatten auch ein ähnliches Verhältnis zur Natur«, erinnert sich Sonja Mataré.84 »Er hat ein ausgesprochen rhythmisches Gefühl und bewundernswerte Ausdauer«, schrieb der Professor am 2. Dezember 1950 in sein Tagebuch. Beuys durfte sogar in dem Atelier in Matarés Wohnhaus arbeiten.
Sonja Mataré hatte während dieser Zeit eine kleine Goldschmiedewerkstatt hinter dem Atelier ihres Vaters. Und da Beuys fast jeden Tag ins Atelier kam, war er einige Jahre Teil des Familienlebens. Er half Matarés Frau im Garten, besorgte Samen und Stecklinge85 oder andere Dinge, die in der Nachkriegszeit schwer zu bekommen waren. »Er hatte seine Quellen. Einmal brachte er 20 Pfund ungeputzte Muscheln mit. […] Beuys war damals ein gut aussehender, lebensbejahender junger Mann, der von den Frauen umworben wurde — obwohl seine Nase als Folge des Flugzeugabsturzes ein wenig schief war«,86 aber das störte die Damenwelt nicht. Noch heute schwärmen die Frauen, die ihn kannten, von seinen schönen Händen. Und als Beuys 1972 auf der documenta 5 gegen den Studenten Abraham David Christian-Moebuss in einem »Boxkampf für direkte Demokratie durch Volksabstimmung« in den Ring stieg, wählten die Zuschauerinnen den Künstler in Boxhose zum »schönsten Mann«.87
Dass Beuys später in Konflikt mit seinem Lehrer geriet, war zu erwartenn, wie sich Sonja Mataré erinnert. »Im Grunde genommen hatte er schon immer das Gefühl, ein fertiger Mensch zu sein. Das Wort Student passte nicht zu ihm.«88 Er habe schon damals gewusst, dass er gut sei, und scheute auch nicht davor zurück, seine Kommilitonen mit einem »Das ist alles Mist, was ihr macht!« anzugreifen.89 Ein Wesenszug, den später auch seine Studenten kennenlernen sollten. Vor allem die Kriegserlebnisse seien es gewesen, die Beuys von den anderen Studenten unterschieden hätten. Was wichtig und unwichtig sei im Leben, sei ihm während des Kriegs in die Seele eingebrannt worden.
Beuys sah keinen Sinn mehr darin, konventionelle Kunst zu machen. Was konnten Gemälde und Skulpturen schon in einer »kranken Gesellschaft« bewirken? Er hatte sich aufgemacht, eine Kunst zu entwickeln, die die Möglichkeit in sich tragen sollte, die Welt zu verändern. Das unterschied ihn auch grundlegend von Mataré. Und Mataré spürte das. Zwar beschäftigte er seinen Meisterschüler bei unterschiedlichen Aufträgen, wie bei der Fertigstellung der »Pfingsttür« am Südportal des Kölner Doms oder des Grabmals für den Maler Heinrich Nauen, doch verhinderte er 1958, dass aus seinem ehemaligen Studenten ein Professor der Staatlichen Kunstakademie Düsseldorf und damit ein Kollege wurde. Mataré überzeugte den Senat der Kunstakademie, dass Beuys als Lehrer scheitern werde, weil er die Schüler zu sehr fasziniere.90
Die Nähe zu dem Werk seines Lehrers ist dennoch in Beuys’ ersten Jahren der Studienzeit spürbar. Die Kreuze und Grabmale, die Beuys gestaltete, auch einige Zeichnungen, weisen formale Ähnlichkeiten mit Matarés Werk auf.
Thematisch behandelten Beuys’ Arbeiten zunächst klassische Bereiche: die menschliche und hier insbesondere die weibliche Figur, die Natur, christliche und mythologische Darstellungen. Doch die Ausführung ist bereits »unakademisch«. Er benutzt Materialien mit Gebrauchsspuren, der Farbauftrag ist dünn, wirkt flüchtig. Seine »Pietà«, die Darstellung der Mutter Gottes mit Sohn aus dem Jahr 1952, macht den Eindruck, als ob braune Wasserfarbe über die Bleistiftzeichnung gegossen worden sei. Seine »Jungfrau« aus demselben Jahr ist ein winziges kopfloses Püppchen, das in eine Mullbinde gewickelt ist und auf einem großen Kissen liegt.
Als Beuys nach beendetem Studium 1954 sein Meisteratelier in der Akademie aufgeben musste und sich ein Atelier im Düsseldorfer Stadtteil Heerdt, Krefelder Straße 34, mietete, das er bis zum Herbst 1958 nutzte, stand er finanziell auf wackeligen Füßen. Seine Studienbeihilfe war ausgelaufen, Aufträge hatte er kaum. Für Fritz Niehaus entstand zwar 1951 ein Grabstein und für Joseph Koch 1955/56 ein vier Meter hohes Kreuz aus Basalt, einen Preis sprach ihm der Verband der Eisenhüttenwerke in Düsseldorf für seine »Pietà« zu und für die Edelstahlwerke Krefeld entwarf er einen Brunnen, aber seinen Lebensunterhalt konnte er davon nicht bestreiten, auch nicht, obwohl sein Vater ihn hin und wieder unterstützte.91
Das Problem mildern konnten zwei Brüder aus Kranenburg, einem Wallfahrtsort in der Nähe von Kleve. Hans und Franz Joseph van der Grinten lernten Beuys 1951 kennen, und sie folgten einer Empfehlung des Malers Hermann Teuber,92 ihre Sammlung um Arbeiten von Beuys zu ergänzen.93 Nachdem sie 1952 zwei Holzschnitte für je 20 Mark gekauft hatten, waren sie nicht mehr zu bremsen. 20 Mark, dafür konnte man damals dreieinhalb Kilogramm Butter oder 100 Eier kaufen. Ein magerer Preis für ein Kunstwerk, aber Beuys war unbekannt und selbst Holzschnitte seines Lehrers Mataré konnte man 1953 schon für 100 Mark erwerben und Franz Marcs Holzschnitt »Tiger« kostete 1954 auch nur 1.100 Mark. Beuys verkaufte den Brüdern nicht einzelne Arbeiten, vielmehr stellte er Mappen zusammen, die sie nach und nach abbezahlten. Später, Anfang der 1960er-Jahre, kauften die van der Grintens dann nochmals einen großen Werkblock. »Wir haben eine Absprache über den Preis getroffen und sind einmal im Jahr, immer in den Weihnachtsferien, zu ihm nach Düsseldorf gefahren und haben die Jahresrate überreicht. Jupp machte dann ein kleines Fest für uns. Er kochte, und wir verbrachten den Tag miteinander«, erinnert sich Franz Joseph van der Grinten.94 Franz Joseph van der Grinten glaubt, es seien möglicherweise mehr als 6.000 Werke.95 Neben den Ankäufen schenkte Beuys den Brüdern immer mal wieder das eine oder andere Blatt.96 Heute befindet sich die Sammlung mit mehr als 6.000 Arbeiten von Beuys im Museum Schloss Moyland zwischen Kalkar und Kleve gelegen.
Dass Beuys in jenen Jahren seine Werke verkaufen konnte, war sicher gut für sein Selbstbewusstsein. Aber wichtiger als der Verkauf war, dass die Brüder eine erste Ausstellung mit den Werken des damals unbekannten Künstlers auf ihrem elterlichen Bauernhof ausrichteten. Die Ausstellung zog 1953 Sammler und Museumsleute nach Kranenburg. Der Bildhauer Gerhard Marcks kam dorthin, auch die Wuppertaler Sammlerin Stella Baum, die den Direktor des Wuppertaler Von der Heydt-Museums Harald Seiler auf das junge Talent aufmerksam machte. Seiler übernahm einen Teil der gezeigten Werke für die Doppelausstellung »Wolfgang Fräger — Josef Beuys« in seinem Museum. Damals schrieb Beuys seinen Vornamen übrigens noch mit »f«. Die Schreibweise mit »ph«, wie sie auch in seiner Geburtsurkunde steht, nahm er erst Anfang der 1960er Jahre wieder an. Waren die Kritiken der Kranenburger Ausstellung verheerend,97 in Wuppertal waren sie durchaus positiv. Die Werke seien von »einer ganz eigenen und eigenartigen Vorstellungswelt«.98 Man sollte, riet ein Journalist, Beuys »mit echter Anteilnahme«99 verfolgen. Weitere acht Jahre mussten Kunstfreunde noch warten, bis sie seine Werke in einer Einzelausstellung wiedersehen konnten. Diesmal in seiner Heimatstadt Kleve im Haus Koekkoek.
Derart schwierige Zeiten stürzen sogar die selbstsichersten Künstler in eine Krise. Für Beuys, der zum Zeitpunkt der Kranenburger Ausstellung bereits 32 Jahre alt war, stellte sich die Zukunft nicht gerade rosig dar. Als dann auch noch seine Verlobte am Heiligabend 1954 den Verlobungsring zurückschickte, wuchs sich die Krise zu einer Depression aus, die mindestens zwei Jahre dauerte. Wer die abtrünnige Zukünftige von Beuys war, ist bislang nicht mit Sicherheit geklärt. Vermutungen gibt es zuhauf. Ihr Familienname soll Nettesheim gewesen sein. Wahrscheinlich war sie mit der Familie des Sammlers Niehaus verwandt, denn Ise Niehaus war eine geborene Nettesheim.100 Andere Varianten, wie die Beuys-Verlobte sei die Tochter eines Fabrikanten aus Geldern gewesen101 oder eine Postangestellte aus Düsseldorf,102 sind weniger glaubhaft.
Die gelöste Verlobung als Grund für seine Krise ließ Beuys nur bedingt gelten. Er bevorzugte die Version, dass es vor allem seine Kriegserlebnisse gewesen seien, die nachwirkten. Später stilisierte er diesen Zeitraum zu einer Art Reinigungsprozess mit anschließender Wiederauferstehung.103 Wie einem Schamanen sei es ihm gelungen, sich selbst zu heilen und daraus die Fähigkeit zu gewinnen, auch andere Menschen und — ein hoher Anspruch — die Gesellschaft zu heilen.104 Von der Idee des Künstlers als Heiler distanzierten sich Beuys’ Künstlerkollegen im Nachkriegsdeutschland — schließlich hatten auch die Nationalsozialisten behauptet, sie wollten Deutschland »heilen«. Sie standen daher solchen Ideen skeptisch gegenüber und bevorzugten »ungegenständlich« zu arbeiten. Damit glaubten sie — analog zur Vorstellung, Abstraktion sei eine neue Art von Weltsprache —, ein Bekenntnis zu Demokratie und Freiheit abzugeben. Dass Beuys mit seiner Kunst, seiner »sozialen Plastik«, versuchte, die Menschen zu freien und kreativen Individuen zu erziehen, stellte in der damaligen Zeit ein ungeheures Wagnis dar.
In dieser Zeit versuchten Freunde und Verwandte, ihm zu helfen. Immer wieder fuhren sie nach Heerdt, um ihn aus seiner Isolation zu befreien. Sie trafen dort einen blassen, abgemagerten Künstler an. »Er stand mit einem weißen Unterhemd bekleidet oben am Fenster«, erinnert sich Maritha Richter.105 Aber er wollte niemanden sehen, schickte seine Freunde weg. Es wurde so dramatisch, dass er drohte, wenn sie hereinkämen, würde er das Messer nehmen.106 Briefe beantwortete er nicht. Selbst von seiner Kunst wollte er nichts mehr wissen.107 Beuys ließ sich in psychiatrischen Kliniken in Düsseldorf und Essen behandeln,108 später konsultierte er den Düsseldorfer Arzt und Heilpraktiker Hans Giesen.109
Eine Weile soll er bei Helmut Niehaus, dem Sohn des Sammlers Fritz Niehaus, gewohnt haben.110 Beuys’ Eltern versuchten, ihm zu helfen und holten ihn nach Hause. Mindestens drei Monate lag er im verdunkelten Zimmer,111 wo er »hinvegetierte« und nur noch aus »Selbstbedauern und Selbstanklage« bestand, schrieb Hanns Lamers an Sonja Mataré. »Nun haben wir uns das letzte Mal gesehen«, sagte er stets am Ende des Krankenbesuchs und weinte dabei. »Es war für mich eine schreckliche Situation. Auch ich habe ihn mit aller Güte und zuletzt auch mit böser Härte behandelt. […] Man wusste wirklich nicht mehr, wie man ihn behandeln sollte, selbst die Ärzte nicht«, schrieb Lamers.112 Auch Beuys’ Eltern zeigten sich mit der Situation überfordert. Erst als die Brüder van der Grinten ihn aufnahmen, schien sich die Krankheit zu bessern. Mehrere Wochen lang lebte Beuys in dem Bauernhaus seiner Freunde in Kranenburg.113
»1956–1957 Beuys arbeitet auf dem Felde«, heißt es in seinem »Lebenslauf/Werklauf« lapidar. Ein Mythos von bodenständiger Männlichkeit scheint hier durch. Franz Joseph van der Grinten erinnert sich an diese Zeit: »Wenn es ihm gut ging, war er mit uns zehn bis zwölf Stunden auf dem Feld. Die körperliche Bewegung tat ihm gut. Wir haben aber auch unheimlich viel miteinander gesprochen und viel von ihm über seine Kriegszeit erfahren. Manchmal war seine Depression aber so schlimm, dass er sich in seinem Zimmer einschloss und nicht mal zu den Mahlzeiten erschien. Selbst als sein Vater ihn besuchen kam, öffnete er nicht die Tür. Wenn es ihm besser ging, haben wir abends zusammengesessen und miteinander geredet. Wir haben versucht, ihm zu erklären, dass er mit seinen schöpferischen Fähigkeiten nicht hadern solle. Anfangs wollte er seine eigenen Zeichnungen nicht mal ansehen. Später hat er dann begonnen zu zeichnen — und dann hat er gezeichnet und gezeichnet.«114 Im Spätsommer 1957 war die Depression überwunden. Seinem »Lebenslauf/Werklauf« fügte er — nicht ohne Ironie — eine neue Station hinzu: »1957–1960 Erholung von der Feldarbeit«.
Beuys bezog jetzt ein Atelier im ehemaligen Klever Kurhaus, ganz in der Nähe seiner elterlichen Wohnung. Er hielt seine Kontakte nach Düsseldorf aufrecht. In der Kunstakademie lernte er auf einem Karnevalsfest 1958 Eva Wurmbach, die Kunsterziehung studierte, kennen. Weinend, mit einer Rose in der Hand, habe sie in einer Ecke gestanden.115 Das scheint ihn gerührt zu haben, denn er setzte sich zu ihr. Dass Beuys anfangs immer Hasenköttel in der Brusttasche seiner Hemden hatte, hat Eva Wurmbach anscheinend nicht irritiert.116 Schließlich war ihr Vater Hermann Wurmbach Zoologe. Sie verliebte sich in den gut aussehenden Mann, die beiden wurden ein Paar und heirateten am 22. September 1959 in Bonn, wo Evas Familie lebte. »Herr Beuys, wie sind denn Ihre persönlichen Verhältnisse?«, soll Hermann Wurmbach gefragt haben, und das ehrliche »Ich habe nichts und werde auch in Zukunft nichts haben« scheint den zukünftigen Schwiegervater überzeugt zu haben, denn er öffnete eine Flasche Sekt und stieß auf das Brautpaar an.117 Die Hochzeitsreise des Künstlerpaars führte nach Paris. Sie wollten Leonardo da Vincis »Mona Lisa« sehen. Eva Wurmbach-Beuys hatte ihre Examensarbeit über das Thema »Die Landschaften in den Hintergründen der Gemälde Leonardos« geschrieben, und Beuys hatte dazu elf Diagramme gezeichnet, in denen der Aufbau der Bilder Leonardos analysiert wird.
1958 war ein entscheidendes Jahr für Joseph Beuys — nicht nur privat, sondern auch künstlerisch orientierte er sich neu. Es entstanden erste Zeichnungen unter dem Titel »Projekt Westmensch 1958«. Darin verfolgte er die Idee, dass Kunst und Leben sich wechselseitig durchdringen sollten. Von nun an wollte Beuys ein Vermittler zwischen Kunst, Wissenschaft, Natur und Technik sein — so wie Leonardo da Vinci. Für Leonardo, den umfassend gebildeten Maler, Bildhauer, Architekten, Naturphilosophen und Ingenieur, war Erkenntnis die wichtigste Antriebsfeder seiner Kunst. Diesem Ideal folgte Beuys von nun an.
Doch Anerkennung fand er noch immer nicht. Im Gegenteil: Zwar interessierte sich der einflussreiche Düsseldorfer Galerist Alfred Schmela für seine Arbeiten, doch auf eine Ausstellung bei ihm musste Beuys noch sieben Jahre warten. Auch für die Professorenstelle für Bildhauerei an der Düsseldorfer Akademie wurde er aufgrund des Votums seines Lehrers Mataré im ersten Versuch abgelehnt. Das waren keine guten Zeichen für eine Künstlerkarriere, und es war sicher auch kein hoffnungsvoller Start für eine junge Ehe. Seit Dezember 1959 hatten Eva und Joseph Beuys eine gemeinsame Wohnung in der Quirinstraße 18, Düsseldorf-Oberkassel, doch die Einkünfte dürften spärlich gewesen sein. Beuys nahm an einem Wettbewerb für ein Denkmal im ehemaligen Konzentrationslager Auschwitz-Birkenau teil, und für den alten Kirchturm in Büderich gestaltete er Tor und Kreuz für das Ehrenmal der Gefallenen der beiden Weltkriege.
Anfang 1961 wendete sich das Blatt: Im März wurde Beuys die Professur an der Düsseldorfer Akademie zugesagt. Mit der Aussicht auf eine gesicherte finanzielle Situation und vielleicht auch weil Eva schwanger war, zog das Paar in eine Wohnung am Drakeplatz 4, die der Künstler Gotthard Graubner seinem Kollegen Beuys vermittelt hatte. Graubner hatte sein Maleratelier im selben Haus. Am 22. Dezember wurde Boien Wenzel Beuys geboren, drei Jahre später, am 10. November 1964, kam die Tochter Jessyka zur Welt. Von nun an war die einfach möblierte Wohnung mit einem mit Leder belegten Fußboden und einem großen Kühlschrank der Lebens- und Arbeitsmittelpunkt der Familie.