Читать книгу Der Jahrhundertkünstler Joseph Beuys - Christiane Hoffmans - Страница 8

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Am 16. März 1944 stürzte Joseph Beuys mit einer Ju 87 ab. Das Sturzkampfflugzeug sei von einem russischen Geschoss getroffen worden, berichtete Beuys später.1 Der Höhenmesser versagte und als dann auch noch ein Schneesturm einsetzte, konnte Pilot Hans Laurinck die Maschine gerade noch 200 Meter hinter die Kampflinie östlich von Freifeld (Snamenka) auf der Krim2 bringen, dann prallte sie auf. Laurinck war tot. Beuys wurde aus der Maschine geschleudert. Er lebte. Gerettet wurde der bewusstlose Soldat von Tataren, die ihn neben den Trümmern der Ju 87 fanden. »Die haben mich dann in die Hütte genommen«, erinnerte er sich.3 Acht Tage lang hätten Mitglieder des Nomadenvolks den Verwundeten versorgt. Sie wickelten ihn in Filz, damit er warm werde und Wärme speichern könne. Seine schweren Wunden hätten sie mit tierischem Fett gesalbt.4

Die ungewöhnliche Rettungsaktion gehört wohl zu den weltweit populärsten Künstlergeschichten und sie führte dazu, dass Beuys für die breite Öffentlichkeit zum Fett-und-Filz-Künstler wurde und es immer noch ist. Inzwischen hat sich jedoch herausgestellt, dass die Beuys’sche Wahrheit nicht der Wirklichkeit entspricht. So kann der junge Soldat von den Tataren nicht mehrere Tage gepflegt worden sein, denn schon am Tag nach seinem Absturz wurde er in das Feldlazarett 179 in Kruman-Kemektschi eingeliefert.5 Staffelkapitän Heinz Georg Kempken erinnert sich an das schlechte Wetter an dem Märztag des Beuys’schen Absturzes im Jahr 1944. »Wir hatten unsere Bomben über Sewastopol abgeworfen, und als wir zurückkamen, war eine Wolkenbank aufgezogen.«6 Die Maschine, in der Joseph Beuys als Bordfunker saß, sei nicht beschossen worden. Vielmehr sei allein »fliegerisches Unvermögen« Schuld am Absturz gewesen. Schon wenige Stunden nach dem Unfall besuchte Kempken seinen Kameraden im nahe gelegenen Feldlazarett. Dieser habe eine leichte Gehirnerschütterung und ein gebrochenes Nasenbein gehabt.7 Glaubt man Kempken, dann hatte Beuys auch keinen doppelten Schädelbasisbruch erlitten, wie häufig behauptet wird, und ein Edelmetallimplantat wurde dann wohl ebenfalls nicht in seinen Kopf eingesetzt.8

Beuys selbst trug nicht dazu bei, seine Absturzgeschichte zu relativieren. Vielmehr erzählte er kurz nach dem Krieg Sonja Mataré, der Tochter seines Lehrers Ewald Mataré, dass er eine silberne Platte im Kopf habe. Verheilte Narben hat Sonja Mataré aber nicht gesehen, wenn sie dem jungen Studenten die dünnen Haare schnitt.9 Seine engen Freunde Hans und Franz Joseph van der Grinten halten die Tataren-Darstellung für wahr: »Beuys hat uns seine Kriegserlebnisse während seiner Depression 1957 erzählt, und das war vor der Zeit, als er an seiner Legende gearbeitet hat.«10 Beuys selbst beharrte sein Leben lang auf der Version: »Das Hantieren mit dem Käse und dem Fett und Milch und Quark – so wo die mit hantieren, das ist praktisch so in mich eingegangen; ich habe das wirklich erlebt.«11 Dass die Interpretation seines komplexen künstlerischen Werks dadurch häufig stark vereinfacht wurde – frei nach dem Motto: Der Künstler verarbeitet mit Fett und Filz sein Kriegstrauma –, nahm er einerseits in Kauf, andererseits setzte er sich aber auch dagegen zur Wehr: »Ich habe ja nicht diese Filzsachen gemacht, um etwas darzustellen von den Tataren.«12

Doch egal wie simpel manche Erklärungen für seine Kunst klingen: Nie gab es einen Künstler, dessen Werk zu Lebzeiten so heftig angegriffen wurde und noch bis heute so umstritten ist. Schon Mitte der 1960er Jahre, also kurz nachdem er seine ersten wichtigen Aktionen gemacht hatte, stand für viele fest: Beuys ist der Fetteckenguru, der Scharlatan, der Schamane. »Pervers wie Beuys«, hetzte 1967 Richard W. Eichler. Und der reaktionäre Autor fand ferner, dass Beuys’ Tun für Psychologen, sicher auch für Psychiater, interessanter sei als für den Kunstfreund.13 Ähnlich bösartigen Angriffen waren auch Freunde und Sammler von Beuys’ Werken ausgesetzt. Stella Baum, Beuys-Sammlerin der ersten Stunde, erinnerte sich, dass sie und ihr Mann stets mit »viel Spott bedacht wurden«. Und als sie den »Fettstuhl« kauften, seien sie als »verrückt« abgestempelt worden.14 Auch Angehörige seiner eigenen Familie wurden häufig auf den »verrückten« Beuys angesprochen.15

Beuys, der große, hagere Mann mit dem Hut, machte vielen Menschen Angst, weckte Aggressionen. Seine geheimnisvolle Kunst, seine eindringlichen Aktionen, seine grüne Politik, seine anthroposophische Weltanschauung, sein unendlicher Kampfgeist waren und sind auch heute noch für viele schwer nachvollziehbar. »Doch die Schwierigkeiten mit Beuys muss man meistern«, fordert sein ehemaliger Meisterschüler Johannes Stüttgen.16 Damit spricht er auch die Tataren-Geschichte an. Es habe für Beuys keinen Grund gegeben, sie zurückzunehmen: »Man muss den Bericht nur richtig einordnen. Wenn man sich in einem todesähnlichen Zustand befindet, wird unter Umständen aus einem Tag plötzlich eine ganze Woche. In einer Grenzsituation verändert sich der Zeitbegriff. Und Beuys ist ein Grenzgänger. Er hat in der Kunst eine Schwelle übertreten. Er hat mit der Moderne abgeschlossen. Warum sollte er mit den traditionellen Zeit- und Erlebnisbegriffen arbeiten?«17

Beuys war ein gebildeter, intellektueller Künstler. Ihm war bewusst, dass Künstler seit dem 15. Jahrhundert ihre Werke nicht mehr allein zum Lob Gottes schufen, sondern dass sie, überspitzt formuliert, dem Allmächtigen Konkurrenz machen. »Künstler sein heißt, ein neues Legitimationsverfahren einführen, nämlich die Legitimation durch die Autorität des Autors«, erklärt der Philosoph und Künstler Bazon Brock, der Beuys Ende der 1950er-Jahre kennenlernte.18 Oder wie Beuys das ausdrückte: »Der Schöpfer kann mich mal — der Mensch ist der Schöpfer selbst.«19 Bazon Brock sagt: »Alles, was man von den Aussagen verlangt, ist Wirksamkeit. Denn wenn die Leute keine Wirksamkeit spürten, würden sie auch nicht hingehen.«20 Und dazu gehörte auch, dass es keine Trennung zwischen Kunst und Leben, zwischen »Öffentlichkeit und Privatheit«21 geben könne. Die Erschaffung eines persönlichen Künstlermythos gehörte für Beuys dazu. Er arbeitete und lebte nach dieser Devise und dehnte und streckte die Definition von Kunst in Richtungen, die bis dahin undenkbar schienen. Denken, Reden und Diskutieren waren für Beuys Kunst, gehörten zu seinem erweiterten Kunstbegriff. Das macht seine Kunst, sein Leben so einzigartig vielschichtig und spannend.

Der Jahrhundertkünstler Joseph Beuys

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