Читать книгу Mädchen und Frauen in der deutschen Jugendbewegung im Spiegel der historischen Forschung - Christiane Kliemannel - Страница 6

Einleitung

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Die deutsche Jugendbewegung bzw. klassische oder historische Jugendbewegung, die um die Jahrhundertwende begann und bis in das „Dritte Reich“ hineinreichte, gilt als eine soziale Bewegung, die auf die Gesellschaftsgeschichte Deutschlands bemerkenswerten Einfluß genommen hat. Angesichts dessen ist es zunächst überraschend, daß unter der Fülle an Literatur und historischen Untersuchungen1 zur deutschen Jugendbewegung kaum Studien zu deren weiblichen Mitgliedern zu finden sind und vergleichsweise wenig über die Rolle der Mädchen und Frauen2 innerhalb der deutschen Jugendbewegung gesagt wurde bzw. wird (vgl. Schade, 1996, S. 14).

Forschungsliteratur

Bei einer ersten Betrachtung der Literatur, die zu diesem Thema existiert, stößt man heute auf eine Reihe an Studien zu den weiblichen Jugendbewegten von Forscherinnen, die sich seit den achtziger Jahren des 20. Jh. im Rahmen der Geschlechterforschung mit dem Thema auseinandersetzen. Aus diesem heutigen Blickwinkel ist auch meine Arbeit geschrieben worden. Neben Bestandsaufnahmen der Organisationen und ihrer historischen und ideologischen Entwicklung entstanden in diesem Forschungsbereich Darstellungen einzelner Mädchenbünde sowie Aussagen bzw. intensive Untersuchungen über die spezifischen Weiblichkeitskonstruktionen der weiblichen Jugendbewegung.3 In jenen Schriften findet sich zumeist ein Verweis auf die Studie „Die Frau und die Jugendbewegung“ (1920) von Elisabeth Busse-Wilson, die sich als erste Forscherin ausführlich mit den Mädchen bzw. Frauen in der deutschen Jugendbewegung beschäftigt hat.4 Dies ist ein Hinweis darauf, daß man sich schon vor den achtziger Jahren des 20. Jh. mit den Mädchen und Frauen in der deutschen Jugendbewegung in der historischen Forschung befaßt hat. Das Besondere an dieser Studie ist, daß sie bis in die achtziger Jahre hinein eine der wenigen zusammenhängenden Arbeiten zur Situation der Mädchen und Frauen in der deutschen Jugendbewegung darstellte, denn über die Jahrzehnte hinweg lassen sich nur vereinzelte veröffentlichte und unveröffentlichte Untersuchungen und Erwähnungen (Artikel, usw.) zu diesem Thema finden.5 Doch auch diese haben für die heutige Forschung auf diesem Gebiet nicht an Bedeutung verloren, da sie zum Teil noch sehr intensiv darin rezipiert werden (vgl. Andresen, 2003, Klönne,6 2000/​1990; Schade, 1996). In der aktuelleren Forschung wird auch der Versuch gemacht, die bisher verfaßten Studien in Epochen bzw. thematisch einzuordnen (vgl. Klönne, 1990, S. 8 ff, Schade, 1996, S. 15 ff).7 Jedoch habe ich keine einzige Arbeit finden können, die sich explizit mit der Rezeptionsgeschichte der weiblichen Jugendbewegung befaßt. Es existiert keine umfassende Analyse der Rezeption der Mädchen und Frauen der deutschen Jugendbewegung in der historischen Forschung.

Fragestellung

Aus diesem Grund möchte ich mich in dieser Ausarbeitung damit beschäftigen, wie sich die historische Forschung mit dem Thema Mädchen und Frauen in der deutschen Jugendbewegung auseinandergesetzt hat. Dabei werde ich in meiner Untersuchung die Jugendbewegung in dem Zeitraum von 1901 (Begründung des Wandervogels) bis 1933 (Beginn des „Dritten Reiches“) beleuchten. Im Zentrum dieser Arbeit steht folglich die Frage, ob und inwiefern die Mädchen und Frauen in der deutschen Jugendbewegung in den wissenschaftlichen Forschungen behandelt wurden. Ich werde in dieser Arbeit nicht nur implizit, sondern auch explizit mehrere Rezeptionsphasen unterscheiden. Zum einen unterscheide ich historisch die zeitgenössischen (1901 - 1933) und nationalsozialistischen Rezeptionen sowie diejenigen nach 1945 und die gegenwärtigen Rezeptionen (bis 2003). Zum anderen wähle ich eine wissenssoziologische Perspektive: Welches Wissen stand ForscherInnen zu einem bestimmten historischen Zeitpunkt zur Verfügung, und in welchen Wissensfeldern haben sie das Problem behandelt, welche politischen, kulturellen und sozialen Resonanzen sind darauf zu identifizieren?

Aufgrund der Fülle an Literatur, die es zum Thema deutsche Jugendbewegung gibt, werden in dieser Arbeit vorwiegend jene Werke bzw. Untersuchungen berücksichtigt, die in den aktuelleren Studien der ForscherInnen ab den achtziger Jahren des 20. Jh. erwähnt werden. Im wesentlichen werde ich mich jedoch aufgrund der mir vorliegenden Quellen auf die bürgerliche Jugendbewegung beziehen müssen, da andere Strömungen, wie konfessionelle, proletarische und Pfadfinder-Jugendbewegung, in der Literatur weniger Beachtung gefunden haben.8

Daneben liegt ein weiterer Schwerpunkt dieser Ausarbeitung auf der Frage, wie die weibliche Jugend bislang in den wissenschaftlichen Untersuchungen betrachtet wurde. Anhand welcher Leitbegriffe, Vorstellungen von Geschlechterbeziehungen und -verhältnissen9 und Weiblichkeitsbildern/​-konstruktionen10 (Kameradin, Frau und Mutter) ist die weibliche Jugendbewegung rezipiert worden? Hat sich die Sichtweise auf die Mädchen und Frauen im allgemeinen und hinsichtlich der eben genannten Punkte im Laufe der Zeit in jenen Studien möglicherweise verändert? Lassen sich über die verschiedenen Jahrzehnte wissenschaftlicher Forschung hinweg eventuelle Ähnlichkeiten und Differenzen erkennen? Wenn ja, welche Schwerpunkte wurden gesetzt, und sind vielleicht neue Gesichtspunkte in den Studien hinzugekommen?

Zur Beantwortung dieser Fragen sind die Untersuchungen der beiden Forscherinnen Leupold und Reese11 zum kulturellen Wandel in dem Verständnis der Geschlechterbeziehungen in dieser Arbeit grundlegend: Danach wurde seit Beginn der bürgerlichen Gesellschaft, aus der auch die Jugendbewegten entstammten, der Verhaltenskodex in den Geschlechterbeziehungen immer weniger von Liebe und Sexualität bestimmt, wie sie für Intimbeziehungen bzw. die Ehe bestimmend sein sollte. Dafür gewann das Konzept der Kameradschaft unter Ausschluß von Liebe und Sexualität (Reese, 1993, S. 59), wie sie für gesellschaftliche Beziehungen bzw. Außenbeziehungen bestimmend sein sollte, immer mehr an Bedeutung (vgl. Leupold, 1983, S. 298). Diese Vorstellungen von Geschlechterbeziehungen glaubt Reese auch in der deutschen Jugendbewegung wiederzufinden, und zwar in Form des Konzepts der Kameradschaft bzw. des Weiblichkeitsbildes der Kameradin. Dieses beschränkte sich im Kontext der Jugendbewegung auf die jugendspezifische Altersgruppe, während es zuvor, im 19 Jh., auch in der bürgerlichen Gesellschaft erfolglos erprobt wurde (vgl. 1991, S. 9). Weiterhin wird in dieser Arbeit deutlich werden, daß die Kameradschaft in der Rezeptionsforschung zur weiblichen Jugendbewegung eine zentrale Bedeutung eingenommen hat. Überdies spielt auch das klassische Weiblichkeitsbild der bürgerlichen Frau und Mutter in der Analyse der Rezeptionsforschung eine entscheidende Rolle, also die Beschränkung der Frau bzw. des Mädchens auf ihre reproduktiven Fähigkeiten und ihre Funktion als Gegenpol zum bürgerlichen Mann (vgl. ebd., S. 10). Hier kommt auch der Gedanke der Geschlechterpolarität mit ins Spiel.

Zum Aufbau der Arbeit

Einleitend beschäftige ich mich mit dem Rezeptionsgegenstand. In diesem Kontext werde ich zunächst den Begriff der Jugendbewegung erläutern. Im Anschluß daran werde ich einen Einblick in den historischen Rahmen geben, welcher zur Begründung jener Bewegung führte. Zudem soll auch das frühere Gesellschaftsbild von Jugend erörtert werden, da Jugend als eigenständige Lebensphase mit Rechten und Verpflichtungen als eine Erscheinung des neunzehnten Jahrhunderts betrachtet wurde. Demnach geht es um die Besonderheiten, die dieser gesellschaftlichen bzw. sozialen Konstruktion von Jugend zugrunde liegen, sowie um ihr Selbstverständnis und die Anforderungen, die Ende des neunzehnten Jahrhunderts an sie gestellt wurden. Daneben befaßt sich das erste Kapitel auch mit der Entwicklung der deutschen Jugendbewegung bis zum Eintritt der Mädchen. Ziel ist es, eine kurze Einführung in das Phänomen der Jugendbewegung in Deutschland zu geben, die zunächst von der männlichen Jugend dominiert worden ist. Das zweite Kapitel beschäftigt sich konkret mit den Mädchen und jungen Frauen in der deutschen Jugendbewegung und soll unter Berücksichtigung der folgenden Fragen auf den Schwerpunkt der Arbeit hinführen: „Wie sahen die weiblichen Lebensperspektiven aus? Seit wann und warum wurden Mädchen und Frauen in der deutschen Jugendbewegung aktiv? Wie wurde innerhalb der Jugendbewegung auf die Mädchen reagiert?“ Um die Mädchen in ihrem Dasein in der Jugendbewegung analysieren zu können, wird unter anderem in dieser Einführung die Struktur und das Erscheinungsbild sowie die besondere Anziehungskraft der Jugendbewegung aufzuzeigen sein. Des weiteren geht es mir vor allem darum, Unterschiede in den damaligen Gesellschaftsbildern bzw. sozialen Konstruktionen von Mädchen und jungen Frauen im Vergleich mit den Jungen, d. h. der Geschlechter, hervorzuheben. Denn die Geschichte der Mädchen und Frauen in der deutschen Jugendbewegung ist immer auch Geschlechtergeschichte gewesen, wie in dieser Arbeit noch deutlich werden wird. Diese einführenden Kapitel dienen dazu, die möglicherweise divergierenden Perspektiven diverser ForscherInnen auf die weiblich „Jugendbewegten“ über die Jahrzehnte der historischen Forschung hinweg besser zu verstehen.

Im Anschluß daran werde ich mich der Betrachtung der Mädchen und Frauen in der deutschen Jugendbewegung in der historischen Forschung zuwenden. Dabei werden chronologische und systematische Aspekte miteinander verbunden, da einige der Schriften, die ich untersucht habe, auf die wissenschaftliche Betrachtungsweise der weiblichen Jugendbewegung und zur Zeit der historischen Jugendbewegung auf die weiblich Jugendbewegten selbst Einfluß hatten (vgl. Klönne, 1996, S. 248). Zum besseren Verständnis werde ich in die Rezeptionsphasen einführen und die Auswahl der von mir untersuchten Studien begründen. Beginnen werde ich im dritten Kapitel mit jenen Untersuchungen zur deutschen Jugendbewegung, deren Fokus auf den weiblichen Anhängerinnen liegt und die direkt aus der „jugendbewegten“ Zeit (1912 - 1933) stammen. Diese Studien werden auch in den nachfolgenden Betrachtungen häufig diskutiert werden. Bedeutsam sind die zu beleuchtenden Studien insofern, da sie in der Erlebniszeit der Jugendbewegung entstanden sind und damit eine unmittelbare Nähe zur Bewegung aufweisen. Dadurch können bestimmte Denkmuster der Zeit rekonstruiert werden, und mögliche Ähnlichkeiten bzw. Differenzen in den zeitlich darauf folgenden Untersuchungen werden besser ersichtlich. Hieran folgt eine Diskussion der nationalsozialistischen Deutungsversuche der deutschen Jugendbewegung. In diesen hat man versucht, die Ideen der Jugendbewegung, vor allem die der Bündischen Phase, für die nationalsozialistischen Ideologien zu vereinnahmen, auch in Bezug auf das Geschlechterverhältnis. An dieser Stelle lassen sich auch gedankliche Verbindungen zu den Schriften aus der jugendbewegten Zeit aufweisen.

In den nachfolgenden Studien zur Jugendbewegung ist versucht worden, einen Umgang mit dieser möglichen Verbindung zwischen Jugendbewegung und Nationalsozialismus zu finden. Vielfach wurde diese auch intensiv in Form einer Art „Vergangenheitsbewältigung“ diskutiert. Ob sich das auch auf die Betrachtung der jugendbewegten Mädchen und Frauen ausgewirkt hat, soll u. a. im ersten Abschnitt des fünften Kapitels untersucht werden. Weitere Analysepunkte des fünften Kapitels sind dann vorrangig die historischen Betrachtungen der deutschen Jugendbewegung nach 1945, d. h. die Chroniken bzw. offizielle Standardwerke, historische Bestandsaufnahmen der deutschen Jugendbewegung, aber auch, wie in einem weiteren Abschnitt deutlich wird, wichtige (jugend-)soziologische und -theoretische Studien. Auch die ersten Untersuchungen der weiblichen Jugendbewegung nach 1945 dürfen in dieser historischen Analyse nicht unbeachtet bleiben. Dabei geht es sowohl um eine soziologische Betrachtung (Mancke/​Wolf, 1961) als auch um ihre historische Bestandsaufnahme (Mancke, 1961), die im letzten Abschnitt des fünften Kapitels vorgestellt werden. Diese Studien sollen den Übergang zu den differenzierteren wissenschaftlichen Auseinandersetzungen bilden, die ab den achtziger Jahren des 20. Jh. einsetzten.

Die Studien vor allem junger ForscherInnen, die dieses Thema scheinbar zum ersten Mal ausführlich ins Zentrum der historischen Forschung zur deutschen Jugendbewegung gerückt haben, möchte ich im sechsten und letzten Kapitel dieser Arbeit vorstellen. Kennzeichnend für diese Untersuchungen ist, daß ihr Arbeitsschwerpunkt auf die Geschlechterforschung gelegt wurde, die sich in diesem Zeitraum besonders etabliert hatte. Hierdurch wurden die Mädchen und Frauen in der deutschen Jugendbewegung in einem vermutlich vollkommen anderen bzw. neuen Licht betrachtet. Dies läßt vermuten, daß wir hier im Vergleich mit bisherigen Studien gänzlich neue Perspektiven auf die weiblichen Jugendbewegten zu erwarten haben, vor allem für den Bereich der Geschlechterverhältnisse, Geschlechter- bzw. Weiblichkeitskonstruktionen, mit dem sich die Geschlechterforschung schwerpunktmäßig befaßt.

Mädchen und Frauen in der deutschen Jugendbewegung im Spiegel der historischen Forschung

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