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2 Die Weisheit Ägyptens

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Die alten Ägypter müssen in ihrem differenzierten Umgang mit Leben und Tod ein tiefes Wissen von der Nähe zum göttlichen Sein gehabt haben. Sprechen hierfür nicht auch die tiefen Symbole der Tiermasken, die die Götter trugen? Ihre Bedeutung war vor allem beim sogenannten Totengericht erlebbar, an der Schwelle zu einem neuen Leben, das möglicherweise auf dem Entwicklungsweg zum Göttlichen gedacht wurde. Ein Hinweis darauf ergibt sich aus der Tatsache, dass die Herzenswägung als zentraler Prozess des Totengerichtes darüber entschied, ob es ein Weiterleben gab. Wurde das Herz als zu schwer befunden, bedeutete dies, dass der Mensch sich zu sehr in menschlicher Schuld, in den Niederungen des Menschlichen, wir würden vielleicht heute von einer ausschließlichen Bezogenheit aufs Materielle sprechen, verstrickt hatte. Sein Herz wurde dem Untier zur ewigen Verdammnis vorgeworfen. Ein Weiterleben gab es für diesen Menschen nicht. War das Herz hingegen leicht, durfte sich der Verstorbene mit dem Totengott Osiris vereinigen, was letztlich die Wandlung ins Göttliche bedeuten sollte.

Isis war die Schwestergemahlin des Osiris. Beide wurden als Fruchtbarkeitsgötter verehrt. Ein archetypisches Thema, Neid und Rivalität zwischen den ungleichen Brüdern Seth und Osiris, führte zum Tod des Osiris: Seth fertigte eine kostbare Lade an, die dem zugehörig sein sollte, der hineinpasste. Osiris ging auf diese Verführung ein und, da die Lade extra für ihn angefertigt war, wurde er auf diese Weise von seinem Schattenbruder überlistet, in Stücke zerteilt und über das ganze Land verstreut. Isis suchte die Teile und fügte sie wieder zusammen, allerdings fehlte der Penis, den bereits ein Fisch verschluckt hatte. Trotzdem gebar Isis das göttliche Kind Horus.

Osiris, der durch seinen neidischen Bruder Seth getötet wurde, war der Gott der Fruchtbarkeit. Über ein Verteilen des zerstückelten Gottes wurde auch die Dürre fruchtbar, denn Seth war der Gott der Wüste. So mag das Wort des Mephisto aus Goethes Faust erneut Bedeutung gewinnen, indem das Böse zwar gewollt, dennoch das Gute schafft.

Verstehen wir den Bruderzwist zwischen Osiris und Seth unter archetypischem Gesichtspunkt, wird deutlich, dass weder das Gute noch das Böse allein Gültigkeit haben. Das Lichte eines Osiris braucht das Dunkel des Seth um über enge Grenzen hinaus Fruchtbarkeit zu ermöglichen. Hinter diesem Begriff steht das Leben als sich ständig wandelnder Entwicklungsprozess. Umgekehrt ist das Böse in seiner Einseitigkeit angewiesen auf das Gute, um seinerseits die Vitalität, die im Dunkel verborgen liegt, entfalten zu können. Hier wird der Begriff des Schattens, wie ihn C. G. Jung eingeführt hat, bedeutsam. Er versteht unter dem Schatten die Fülle vitaler Triebimpulse, die jedoch der Selbststeuerung bedürfen, um nicht destruktiv zu werden. Unter Selbstkontrolle versteht Joachim Bauer (2017) den freien Willen, die Möglichkeiten eines die Triebimpulse steuernden Ichs. Jene sollen nicht unterdrückt werden, wie es einst die sogenannte schwarze Pädagogik tat, jedoch auch nicht willkürlich ausgelebt werden. Nur im Gleichgewicht von Triebimpulsen, die Bauer Basisbedürfnisse nennt und einer Selbstkontrolle seitens des präfrontalen Cortex ergibt sich das harmonische Wechselspiel von unten und oben, von Licht und Schatten. Damit liegt es in unseren menschlichen Möglichkeiten über die Selbststeuerung dieses Gleichgewichts zwischen Basisimpulsen, die von Angst, Aggression und kurzzeitigen Belohnungsimpulsen und der Kontrolle des präfrontalen Cortex immer neu herzustellen (Bauer 2011, S. 37). Es ist die Fähigkeit, das Leben bewusst und gleichzeitig lustvoll zu gestalten, ohne in die Sackgasse von Süchten als fehlgeleitete Sehnsüchte abzugleiten.

Traum eines 16-Jährigen:

Von der Decke schien etwas herabzukommen, wie die Unterseite eines Sarges, der mit vier Seilen befestigt von der Decke hing. Darin lag eine Person, die Haare waren schwarz und in langen Locken gedreht. Die Person sah aus wie ein Mann, aber es könnte auch eine hagere Frau gewesen sein. Dann sagte diese Person, jetzt könne sich der nächste hineinlegen. Er selbst sagte, als er den Traum berichtete, ich wusste noch während er träumte, dass er das war.

Der Jugendliche demonstrierte in den Stunden immer wieder seine intellektuelle Überlegenheit. In einer lebhaften Übertragungsbeziehung versuchte er mich immer wieder zu entwerten. »Frauen können nicht denken« war seine Überzeugung. »Die können nur Kinder kriegen.« In der Realität lebte er mit einer alleinerziehenden Mutter, deren »ein und alles« er war. Die unterschwellige Verachtung dem Weiblichen gegenüber, von dem er sich gleichzeitig vereinnahmt und entmündigt fühlte, rief nach einem Wandlungssymbol. So gesehen dürfte der Sarg, der aus den luftigen Weiten kam, möglicherweise demonstrieren, dass es um klare Urteilskraft gehen müsse. Das rein fühlende Erleben, das Osiris, der Fruchtbarkeitsgott symbolisiert, muss von klarem Denken begleitet werden. Dies fehlte dem Jugendlichen angesichts eines fernen Vaters, der sich nicht um ihn kümmerte und darum als positives strukturierendes Moment fehlte.

In einer Reihe von Schachspielen versuchte er seine Überlegenheit zu demonstrieren, scheiterte jedoch immer daran, dass er nicht intuitiv einfühlend spüren konnte, ob meine Züge dem Angriff der Verteidigung oder einer Planlosigkeit entsprangen.

Über die Deutung, dass seine Rationalität ein sehr einseitiger Versuch war, die emotionale ebenso einseitige Haltung seiner Mutter zu kompensieren, versuchte er neue Wege, indem er seiner Intuition Raum gab. Hier schien es mir angebracht, über den ägyptischen Mythos von Osiris und Seth zu vermitteln, dass beide Repräsentanten einer einseitigen Haltung waren und darum der Tod als Wandlungssymbol wichtig war. Eine einseitige Identifikation macht bei aller Intelligenz »dumm«. Die Vereinigung der Gegensätze, Fruchtbarkeit in Dürre und Wüste zu bringen, muss das Bild für die notwendige Vereinigung polarer Positionen verstanden werden.

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