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2.1.2 Das Totengericht mit Anubis, Thot und Ptah

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Der Schakalgott Anubis, seine bildhafte Darstellung und seine Rolle bei der Herzenswägung zeigt die große Fähigkeit der Ägypter unterschiedliche Aspekte eines Gottes in verschiedenen Facetten und Erscheinungsformen darzustellen, um sein Wesen zu erfassen. Anubis war der Gott des Jenseits, der Gräber und der Mumifizierung. »Dargestellt als schwarzer Canide (»Schakal«) oder in Mischgestalt von »Hundskopf« und Menschenleib.« (Hornung 2011, S. 282)

Der Schakal als Wüstentier und Aasfresser, der um die Gräber schlich, mag den Ägyptern als Charakteristikum gegolten haben dafür, dass dieser Gott in seiner Präsenz im Reich der Vergänglichkeit auch als Schutzgott und Wächter dient. Die Verbindung von tierischen und menschlichen Eigenschaften waren Ihnen auch im Spiegel der göttlichen Zugehörigkeit wichtig.

Beim Totengericht, das vom einbalsamierenden Gott Anubis vorgenommen wurde, führt der Gott Thot unerbittlich Buch. Während dieses Vorgangs legt der Tote das sogenannte negative Sündenbekenntnis ab, Sätze, die in ihrem Wortlaut nicht verändert werden dürfen:

Gruß dir, du Größter Gott, Herr der Vollständigen Wahrheit!

Ich bin zu dir gekommen, mein Herr,

ich bin geholt worden, um deine Vollkommenheit zu schaun.

Ich kenne dich, und ich kenne deinen Namen,

ich kenne die Namen dieser 42 Götter, die mit dir sind in dieser Halle der Vollständigen Wahrheit, die von denen leben, die zum Bösen gehören, und sich von ihrem Blut nähren an jenem Tag, an dem Rechenschaft abgelegt wird vor Osiris

Ich habe keinen Gott beleidigt.

Ich habe kein Waisenkind um sein Eigentum gebracht.

Ich habe nicht getan, was die Götter verabscheuen.

Ich habe keinen Diener bei seinem Vorgesetzten verleumdet.

Ich habe nicht Schmerz zugefügt und ich habe niemanden hungern lassen,

ich habe keine Tränen verursacht.

Ich habe nicht getötet,

und ich habe (auch) nicht zu töten befohlen

niemanden habe ich ein Leid angetan.

Ich habe die Opferspeisen in den Tempeln nicht vermindert

und die Götterbrote nicht angetastet;

ich habe die Opferkuchen der Verklärten nicht fortgenommen.

(Naville 1886)

Wurde das Herz bei diesen Worten leicht befunden, wurde der Tote Osiris übergeben, sodass er jetzt ewig in der Vereinigung mit dem Totengott in einer anderen Form weiterleben durfte. War das Herz zu schwer, wurde der Tote der ewigen Verdammnis überantwortet und von Ammit, gefressen. Dieses stets lauernde Ungeheuer, mit dem Maul eines Krokodils, dem Vorderteil eines Löwen oder Leoparden und dem Hinterteil eines Nilpferdes war in ihrer Dreiheit Repräsentantin der gefürchtetsten Tiere Ägyptens. Gerechtigkeit aber auch Furcht und Schrecken begleiteten das Totengericht.

Ein Schlüssel, um die Vielschichtigkeit dieser Übergangssituation zu verstehen, bietet sich über die Symbolik der Götterfiguren an, die unter der Dominanz der Maat die Herzenswägung durchführten.

Zum einen ist es Anubis, der schakalköpfige Gott. Ein letztlich minderwertig erscheinendes Tier wird zum unerbittlichen Prüfer eines gelebten Lebens. Im negativen Sündenbekenntnis wird deutlich, dass es hierbei nicht allein um ein gerechtes Leben geht. Es liegt gleichermaßen das Gewicht auf emotionale Qualitäten und den Umgang mit Triebimpulsen. Vielleicht ist dieser Gott darum wesentlich, weil er seinen »hündischen« Charakter mit göttlicher Ordnung in Einklang gebracht hat.

Anubis ist auch der Seelenbegleiter der Führer, der dem Verstorbenen bei seinem Weg in das Weiterleben beisteht.

Hier zeigt sich der wohlwollende, zugewandte Aspekt des Anubis und auch des Totengerichts. Man tritt hier vor keinen Richter, der ein Urteil fällt, sondern man selbst muss in eigener Verantwortung Rechenschaft ablegen, dass man in seinem Leben seinem fühlenden Herzen gefolgt ist. In der Herzenswägung stellt sich dann heraus, ob die Balance, das Gleichgewicht stimmt, das dann die Kontinuität des Fortbestehens sichert und über die Vereinigung mit dem Gott in die Erneuerung mündet. Nicht die Eindeutigkeit von richtig oder falsch, von gut oder schlecht ist wichtig, sondern das Gleichgewicht zwischen zwei Seins Zuständen, der menschlichen und der göttlichen Ordnung. Die menschliche Ordnung, symbolisiert im Herz, stellt die Frage, ob Mitgefühl und liebende Verbundenheit das Leben prägten. Die göttliche Ordnung fragt nach dem Einhalten von Gesetz, von Sitte und Werten, also Aspekten, die wir auch archetypisch nennen könnten.

Der ibisköpfige Thot ist der Vertreter der Intelligenz, Schutzgott der irdischen Gesetze, aber auch der Künste und Wissenschaften. Er gilt als Erfinder der Schrift (Hieroglyphen) und ist damit zu Recht der unbestechliche Protokollant beim Totengericht. Zusätzlich wird dieser Gott auch in Gestalt eines Pavians verehrt.

Damit könnte auf einer anderen Ebene in gleicher Weise wie bei Anubis die Verbindung von Gegensätzen angedeutet sein, deren Verbindung ein sinnvolles Leben auszeichnet.

Das Leben als Vorbereitung für einen gelingenden Beginn im Jenseits war zentrales Streben der alten Ägypter, der Pharaonen, der Adeligen und der Handwerker, wie die zahlreichen vielfarbig ausgestatteten Gräber in Luxor beweisen. Das Leben in Gestalt der repräsentierenden Gottheiten war jedoch zusätzlich auch immer vom Moment des schöpferischen Gestaltens bestimmt: Das Vergehen des Lebens wurde immer auch in der Parallele zum Entstehen des Lebens gedacht und gefühlt: Der Schöpfergott Ptah formte die Menschen aus Lehm und stand damit sinnbildlich für Kreativität, die Fähigkeit, sich über diese Eigenschaft immer wieder neu zu erschaffen. Ist es nicht eine wichtige Erfahrung des Menschen, dass jede kreative Handlung, sei es in der Literatur, in der Musik oder im gestaltenden Tun einer Geburt gleicht, dem Gefühl einer Neuwerdung über das Erschaffene?

Die Voraussetzung für jegliche kreative Neuwerdung ist jedoch die Fähigkeit, gegenläufige Befindlichkeiten anzuerkennen. Nach einer Phase des zur Ruhe Kommens kann sich in der Verbindung dieser polaren Kräfte etwas Neues entfalten.

Ein schwarzer Stier. Links an seinem Huf liegt eine große schwarze Schlange. Er könnte sie zertreten, aber er steht ganz ruhig da und auch die Schlange rührt sich nicht.

Dieser Traum wurde überraschender Weise von einem zehnjährigen Mädchen geträumt. Sie kam wegen selektivem Mutismus in die Therapie und gestaltete in vielen Stunden hochsymbolische Szenen im Sand, ohne ein Wort zu reden. Über die Symbolik fanden wir eine Brücke, indem meine Beschreibungen und Interpretationen jeweils von einem Kopfnicken oder -schütteln beantwortet wurden.

In kleinen Schritten konnten wir einen verbalen Austausch aufbauen. Schlüsselerlebnis war dieser Traum, den sie mir strahlend berichtete, als ob sie mir ein Geschenk überreichte. Als solches fasste ich es auf, wobei ich gleichzeitig spürte, dass jedes Reden darüber zu einem subjektiven Gefühl des Zerstörens führte, bei dem Mädchen ebenso, wie bei mir.

Ich beließ es bei einer Ahnung, dass sich hier das Geheimnis der ägyptischen Haltung abbildete: Gegensätze, die sich gelten lassen. Vielleicht liegt in der gemeinsamen schwarzen Farbe das Wissen um Zusammengehörigkeit und Wandlungsmöglichkeit?

Ein Zwölfjähriger, ganz vom Intellekt bestimmt, litt an einer gravierenden Reifungsdisharmonie. Konnte er rational argumentieren »wie ein Alter«, so die Eltern in einer Mischung von Bewunderung und Verzweiflung, war seine emotionale Entwicklung auf der Stufe eines Vorschulkindes stecken geblieben. In einer die Altersgenossen weit hinter sich lassenden sprachlichen Kompetenz genoss er es, die Klassenkameraden »fertig zu machen.« Diese antworteten mit Isolation und Ausgrenzung, was er rationalisierend bagatellisierte. Zuhause überfielen ihn jedoch depressive Verstimmungen und suizidale Fantasien.

In der Therapie äußerte er mit einem gewissen Stolz, er habe zwei linke Hände und würde später sowieso alles mit seinem Kopf erledigen.

Wie eine Antwort auf diese Äußerung, die ich zunächst nur hingenommen hatte, berichtete er wenige Stunden später folgenden Traum:

Ein Baumstamm war mit den Wurzeln noch im Boden. Ich sah, wie aus diesem Stamm zwei Hände ragten, die einen Menschen formten. Danach war der Mensch von drei Seiten zu erkennen, von rechts, von links und von vorn. Hinten ging er in den halbrunden Stamm über.

Selbst im Traum wird die Eloquenz des Träumers spürbar. Es gelang jedoch, dem Jungen zu vermitteln, wie wesentlich die praktischen Formkräfte in Gestalt der Hände seien, die ihm im Traum die enge Verbindung zur Natur zeigten. Auch er sei ein Teil dieser Natur, die Leben ermöglicht. Um die zugehörige vierte Seite des Menschen zu erkennen, muss man allerdings den gewohnten Standpunkt verlassen. Da wären die eigenen gestalterischen Kräfte zu entdecken, die wenig mit dem Intellekt und viel mit der eigenen Ganzheit zu tun haben.

Ich merkte dabei, wie ich bei der Deutung dieses berührenden Traums auch in der Gefahr war, zu viel zu reden, wie im Bedürfnis, das Geheimnis der lebendigen Natur unter Beweis zu stellen. So verstummte ich im Vertrauen auf die heilenden Kräfte dieser archetypischen Begegnung, während der Junge zum ersten Mal in den vielen Behandlungsstunden längere Zeit schwieg.

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