Читать книгу Istanbul – ein Tag und eine Nacht - Christiane Schlötzer - Страница 14
Vorwort
ОглавлениеDies ist ein Stundenbuch. Es erzählt von einem fiktiven Tag in Istanbul, in Begegnungen mit Menschen, die mir ihre Lebensgeschichten anvertraut haben. Sie sind Teil einer großen zeitgenössischen Geschichtserzählung – ohne Anspruch auf Vollständigkeit. Die Vielfalt erinnert an die Farben eines türkischen Kelims, in den viele Muster eingewebt sind. Einige Geschichten verlangen nach dem Schutz der Nacht, andere nach der Helligkeit eines sonnendurchfluteten Morgens am Bosporus.
Istanbul ist die Mitte der Türkei und liegt doch an ihrem Rand. Die Stadt ist so alt, dass sie ihr eigenes Alter vergessen hat, und sie wird jeden Tag neu erfunden. Sie betört den Neuankommenden mit ihrer Grandezza, von »betäubenden Eindrücken« schwärmte der italienische Reisende Edmondo De Amicis im 19. Jahrhundert. Die Hymnen auf die Stadt mit den vielen Namen – Byzanz, Neues Rom, Konstantiniyye, Stambul, Konstantinopel, Istanbul – sind bis heute nicht verstummt. Wer aber länger bleibt, der ahnt bald, welchen Preis ihre Bürgerinnen und Bürger im 21. Jahrhundert dafür zu zahlen haben, in einer modernen Megalopolis zu leben. In Trabantenstädten, von denen es bis zur Hagia Sophia und zur Galatabrücke eine Halbtagsreise ist. Die türkische Gesellschaft ist von scharfkantigen Gegensätzen geprägt, und dies nicht erst, seit Recep Tayyip Erdoğan Anfang der 2000er Jahre eine »neue Türkei« erfand. Eine meiner Erzählerinnen kann dies bezeugen, sie ist älter als die Türkische Republik, die am 29. Oktober 1923 gegründet wurde.
Bevor sie und all die anderen das Wort haben, möchte ich von meiner ersten Begegnung mit Istanbul erzählen. Sie liegt einige Zeit zurück. Ich wusste damals wenig über die Stadt, und ich ahnte nicht, dass ich nach dieser Reise immer wiederkommen würde.
Ich nahm ein Schiff. Es fuhr zu den Prinzeninseln. In den Klöstern dort, hatte ich gehört, waren einst byzantinische Prinzessinnen und Prinzen eingekerkert, viel mehr wusste ich nicht. Es war November, Nebel lag auf dem Wasser. Der Nebel ist in Istanbul ein mächtiger Zauberer. Mein Begleiter sprach Türkisch, er hatte mich zu dieser Reise überredet. Er hatte in der Türkei studiert und fand, wenn ich ihn besser kennenlernen wolle, müsste ich nach Istanbul fahren. Trotz der Kälte wollte er auf dem Schiffsdeck bleiben. Das war ein Glück.
Noch vor dem Ablegen in Eminönü sprach uns ein fremder Mann an. Anfang der 1980er Jahre, kurz nach einem Militärputsch, waren Ausländer ein ungewöhnlicher Anblick auf einem der alten Linienschiffe, die den Bosporus und das Marmarameer befahren. Der Mann, der uns nach dem Woher und Wohin fragte, trug eine blaue Uniform, es war der Kapitän. Er lud uns auf seine Kommandobrücke ein. So standen wir bei der Ausfahrt aus dem Bosporus neben dem großen Steuerrad des Schiffs und schwebten auf Augenhöhe vorbei an der filigranen Silhouette des Serails, an spitzen Minaretten und der bleigrauen Kuppel der Hagia Sophia, über die der Nebel seinen Gazeschleier zog. Eine magische Kulisse, wie gebaut für den Anblick vom Wasser.
Nun wäre dies schon zauberhaft genug gewesen, um sich in diese Stadt auf ewig zu verlieben. Aber dann entschuldigte sich der Kapitän, sagte, er wolle sich für einen Moment zurückziehen. Er übergab das Steuer dem Ersten Offizier und holte aus einer Aktentasche einen Gebetsteppich heraus, schmal wie ein halbes Handtuch. Er trat zur Seite und kniete nieder für sein Mittagsgebet. Nach ein paar Minuten stand er wieder neben uns, setzte die Kapitänsmütze auf und übernahm mit einem Kopfnicken zum Ersten Offizier die Führung des Schiffs. Es war die Selbstverständlichkeit, mit der dieser Mann agierte, ohne Scheu vor zwei Fremden, die mir unvergesslich blieb. Er ließ uns an seinem Alltag teilhaben und kam nicht auf die Idee, dass wir daran Anstoß nehmen könnten. Er war nun mal ein religiöser Mann.
Der Kapitän war in der zweiten Hälfte seines Lebens, und ich nehme einmal an, sollte er das Jahr 2002 erlebt haben, hat er wahrscheinlich Recep Tayyip Erdoğans konservativ-islamische AK-Partei gewählt. Diese kandidierte damals zum ersten Mal für das Parlament. Erdoğan hatte versprochen, sich um die kleinen Leute zu kümmern, zu denen auch ein städtischer Angestellter auf einem Bosporus-Schiff gehörte. Er sagte zudem, er wolle den religiösen Türken die gleichen Rechte verschaffen, wie sie die säkularen schon lange hätten, von denen viele auf ihre frommen Landsleute eher herabblickten. Unser Kapitän hatte schon drei Militärputsche erlebt: 1960, 1971 und 1980. Das hätte ihn gewiss ebenfalls motiviert, für die AKP zu stimmen, setzte die sich doch zum Ziel, die politischen Einmischungen der Generäle in die türkische Politik ein für alle Mal zu beenden.
Unvergessen ist mir, wie trist die Stadt in der Nach-Putsch-Zeit der 1980er Jahre bei meiner ersten Begegnung war. Es gab kaum Tische vor den Lokalen. Alles wirkte grau, und in der Luft lag der beißende Geruch billiger, einfacher Braunkohle. Die Angst vor einem falschen Wort, vor Militär und Polizei, war allgegenwärtig. Jeder wusste von Verhaftungen, von Folter.
Wie schon häufiger in der türkischen Geschichte folgte auf eine bleierne Zeit ein neuer Aufbruch. Die Generäle gaben die Macht wieder ab, wirtschaftlich öffnete sich das Land. Vorher aber verhalf ausgerechnet das Militär dem politischen Islam noch zu einem soliden Fundament. Die Generäle schrieben eine neue Verfassung, und sie machten Religion zum Pflichtfach an den Schulen. Eine denkwürdige Intervention.
Republikgründer Kemal Atatürk hatte der Türkei 1923 ein strenges säkulares Korsett verpasst. Es war lange so streng, dass Frauen mit Kopftuch kein staatliches Krankenhaus, kein Gericht und keine Universität betreten durften. Offiziere wurden unehrenhaft entlassen, wenn herauskam, dass ihre Gattin Tuch trug. Die Generäle wollten das alles gar nicht ändern, als sie der Religion neues Gewicht gaben. Nur erschien ihnen ein gläubiges Volk einfach weniger gefährlich als eines, das für linke Ideen anfällig ist. Die Kommunistenangst übernahmen sie vom Westen, es herrschte Kalter Krieg, das Land war ein Frontstaat gegen die Sowjetunion. Die Türkei war selten frei von äußeren Einflüssen, auch wenn sie gern ihre Souveränität betont.
Ich habe Istanbul nach meiner ersten Reise immer wieder besucht. 2001 zog ich als Korrespondentin der Süddeutschen Zeitung und des Zürcher Tages-Anzeigers an den Bosporus. Mein Begleiter von einst war nicht mehr an meiner Seite. Er hatte schon 1991 als Journalist in Jugoslawien sein Leben verloren. Seine Freunde in Istanbul aber nahmen mich so auf, als spielten die Jahre dazwischen in dieser ewigen Stadt keine Rolle.
2001 machte ich auch mein erstes Interview mit Erdoğan. Er hatte kein Amt und war wegen einer Gefängnisstrafe nicht wählbar. Das Interview hatte einer seiner Berater arrangiert. Dieser Mann war im Hauptberuf ein erfolgreicher Istanbuler Unternehmer und stolz darauf, mindestens ein halber Kurde zu sein. Für dieses Buch habe ich ihn wiedergetroffen. Ich fragte Erdoğan damals auch nach seinem Verhältnis zur Religion. Er sagte, Religion sei »Privatsache«, nichts, in das der Staat sich einmischen sollte. So dürfte es auch mein Kapitän gesehen haben.
Als Erdoğan in einer tiefen Wirtschaftskrise 2003 Premier wurde, überraschte er erst seine Kritiker mit einem stürmischen Reformkurs. Er öffnete das Land für fremdes Kapital und Ideen. Es war eine Zeit des Aufschwungs und des Aufbruchs. Im Oktober 2005 durfte die Türkei zur Belohnung Beitrittsverhandlungen mit der EU beginnen. Die Euphorie war dann bald verflogen. In Ankara merkten sie, wie mühselig das europäische Kleinklein ist, und in Berlin und Paris wuchs die Skepsis gegenüber diesem Kandidaten. Bis beide Seiten voneinander enttäuscht waren und man sich gegenseitig immer weniger verstand.
Inzwischen ist die Türkei wieder ein Land, in dem die Angst vor einem falschen Wort umgeht. Erdoğan hat die Verfassung so verändert, dass fast alle Macht beim Staatspräsidenten liegt, und man kann sich vorstellen, dass er dieses Amt am liebsten auf Lebenszeit behalten würde. Aber die Opposition ist zuletzt stärker geworden, sie hat die großen Städte zurückerobert. Die Türkei ist keine Diktatur, sie hat keine Einheitspartei. Die Wahlbeteiligung ist geradezu musterschülerhaft hoch, und viele Wähler bewachen neuerdings die Urnen, damit ihre Stimmen nicht verlorengehen. Die türkische Gesellschaft aber ist nach wie vor tief gespalten. Erdoğans glühende Anhänger halten ihm zugute, dass er das Land in die Moderne katapultiert hat, mit Tunneln unter dem Meer und Satelliten im All. Aber die Türkei sperrt einige ihrer klügsten Köpfe ein, sie treibt kritische Akademiker aus dem Land, drangsaliert Journalisten. Es ist, als läge ein Schleier über der schönen Stadt, dichter und unauflöslicher als der Novembernebel.
Eine »religiöse Generation« wolle er erziehen, sagte Erdoğan irgendwann, als Religion dann doch keine Privatsache mehr war in der Türkei. Dies ist wohl nicht gelungen. Umfragen zeigen, dass junge Türken sich eher von einer politisierten Religion abwenden. In vielen Istanbuler Stadtvierteln (nicht in allen) können Frauen heute alleine eine Wohnung mieten oder mit einem Partner unverheiratet zusammenleben. Vor zwanzig Jahren war dies undenkbar. Ich halte es übrigens nicht für falsch, dass Frauen mit Kopftuch inzwischen bei Turkish Airlines arbeiten dürfen. Menschen, weil sie fromm sind, die Grundrechte zu entziehen, ist nicht akzeptabel. So hätte es gewiss auch mein Kapitän gesehen. Wenn die Türkei sich von Europa entfernt, dann nicht, weil sie konservativer oder »religiöser« geworden wäre, sondern weil Erdoğans »neue Türkei« den alten Fehlern verfallen ist. Diese heißen: autoritärer Staat, Zentralismus, Nationalismus.
Damit verbunden ist das Auslöschen der Erinnerung. In den Geschichtsbüchern kommen die zu Hunderttausenden vertriebenen und ermordeten osmanischen Armenier nicht vor, geschweige denn ihr enteigneter Besitz. Unter den 36 Sprachen, die ein automatisches Übersetzungssystem am futuristischen Istanbuler Airport beherrscht, fehlt das Kurdische. Aber es gibt die Unermüdlichen, die nicht aufhören, an die offizielle Vergesslichkeit zu erinnern. Die türkische Zivilgesellschaft überrascht trotz aller Drangsalierungen immer wieder durch kreativen Widerspruch und Mut.
Seit dem Militärputsch von 1980 sind vier Jahrzehnte vergangen. Bis Juli 2016 glaubten wohl die meisten Türken – ich auch –, es werde nie wieder einen Putsch geben. Und dann stoppten an einem Hochsommerabend Militärschüler den Feierabendverkehr auf einer Bosporus-Brücke. Die jungen Soldaten glaubten, es ginge zu einer Übung. So hatten es ihnen ihre Befehlshaber gesagt. Die wiederum erwarteten wohl, der unzufriedene Teil des Volkes werde ihnen nachlaufen, wenn sie nur den Präsidenten wegputschen. Womit sie nicht rechneten: Dass sich Menschen den Panzern entgegenstellen, dass die Älteren, für die 1980 ein Trauma geblieben ist, sich nie mehr von Generälen regieren lassen wollen. Und dass ein Militärregime im 21. Jahrhundert in der Türkei keinen Twitter-Sturm überleben würde.
Die Sommernacht 2016 spielt auch in diesem Buch eine Rolle, weil viele Menschen sie nicht vergessen haben, und egal welcher politischen Richtung sie angehören, sie machen Kader der Gülen-Sekte für dieses einschneidende Ereignis verantwortlich, aber nicht unbedingt allein. Es gibt noch immer Rätsel um diese Nacht. Erdoğan nannte den Putschversuch ein »Gottesgeschenk«, eine Verhaftungswelle rollte durchs Land. Andere bekamen danach die Posten in Polizei, Justiz und Militär. Auch unter ihnen soll es wieder Leute geben, für die religiöse Gruppen Karrierenetzwerke sind. Mein frommer Kapitän hätte mit solchen Männern und Frauen sicher nichts zu tun haben wollen. Der versuchte Coup war ein Unglück für die Türkei. Er hat sie um Jahre zurückgeworfen. Die Wirtschaft leidet, die Inflation ist zweistellig. Das gab es davor lange nicht mehr.
In den mehr als zehn Jahren, die ich in der Türkei gelebt habe, habe ich verstanden, was es heißt, »Ausländerin« zu sein. Auch davon ist in diesem Buch die Rede, denn fast jede türkische Familie hat deutsche Verwandte. Die Ersten, die mit dem Gastarbeiteranwerbeabkommen von 1961 kamen, kämpften mit vielem, was sie nicht kannten. Auch mich haben in der Türkei gelegentlich bürokratische Tollheiten ratlos gemacht. Aber das, was wir Ausländerfeindlichkeit nennen, habe ich in meinem Alltag so gut wie nie gespürt.
Istanbul ist eine Megacity, aber wer dort lebt, ist in der mahalle, der fußläufigen Nachbarschaft, zu Hause. Wo es noch an jeder dritten Ecke einen bakkal gibt, einen fast immer geöffneten kleinen Lebensmittelladen. Wo die Menschen den Straßenhunden Namen geben und den Katzen Häuser bauen, vor denen stets Futter liegt. Und wo sie auch mit ihren Geschichten so freigebig sind.
Was aus dem Kapitän geworden ist? Ich weiß es nicht. Aber wenn ich auf eines der alten Bosporus-Schiffe steige, schaue ich gelegentlich, wer auf der Kommandobrücke steht.