Читать книгу Istanbul – ein Tag und eine Nacht - Christiane Schlötzer - Страница 17

7 Uhr Treffpunkt Taksim Unterwegs zu Osman Kavala, dem Mäzen hinter Gittern

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Es ist ein gemächliches Erwachen, die Straßenkehrer fegen die Reste der Nacht auf dem Taksim zusammen. Vor dem Marmara-Hotel steht eine Schlange gelber Taxis, ein Fahrer der Morgenschicht lehnt an seinem Wagen, ein Teeglas in der Hand. Seitdem der Verkehr von Istanbuls zentralem Platz in einen unterirdischen Busbahnhof verbannt wurde, ist der Taksim, auf dem man früher den Herzschlag der Stadt spürte, eine ruhiggestellte betonierte Bucht. Zum Verweilen lädt hier nichts mehr ein. Mit Absicht, denn auf dem Platz und im angrenzenden Gezi-Park sammelten sich im Sommer 2013 Hunderttausende Demonstranten. Der Taksim war aber schon vorher der zentrale Protestplatz der Türkei. Das ist Geschichte.

Nur an einer Seite können noch Busse halten, dort steht an diesem Morgen ein Mann mit einem Klemmbrett in der Hand. Er hakt die Namen der Passagiere ab, die sich einer nach dem anderen einfinden und rasch einen großen Reisebus füllen. Sie nicken einander stumm zu, wie Menschen, die sich nicht zum ersten Mal begegnen. Alle kennen das Ziel der Reise: Silivri, das größte Gefängnis der Türkei, etwa siebzig Kilometer entfernt vom Zentrum Istanbuls, Richtung Westen. Zu der Reisegesellschaft gehören Schauspieler, Dramatiker, Schriftsteller, Künstler, Stadtplaner, Journalisten. Sie wollen dabei sein, wenn dem Kulturmäzen Osman Kavala im Gerichtssaal von Silivri der Prozess gemacht wird, einem Mann, der sein Vermögen hergibt für die Kunst und die Künstler.

Kavala wird beschuldigt, ein Staatsfeind zu sein, die Anklageschrift ist fast 700 Seiten lang und voller Absurditäten. Darin finden sich Facebook-Posts, Flugdaten, Handyfotos, darunter eine Landkarte. Der Staatsanwalt wertet sie als Beweis dafür, dass der Angeklagte »die Einheit der Türkischen Republik« zerstören wollte. Die Karte zeigt die geografische Verbreitung von Bienenrassen im Nahen Osten, keine neuen Grenzen der Türkei.

Im Bus sammeln sie das Fahrgeld ein. Die Stadt ist erwacht, der Verkehr ein zähflüssiger Strom. Zwei Stunden, manchmal mehr, dauert es bis Silivri. Das Gefängnis hat auf der Schnellstraße eine eigene Ausfahrt, es ist eine Kleinstadt und die größte Haftanstalt Europas. Zuerst sieht man die Wachtürme, dann den Zaun. Das Gerichtsgebäude liegt gleich hinter der ersten Absperrung.

Vor Betreten des Gerichtssaals müssen Besucher ihre Handys abgeben, ausgenommen davon sind Parlamentsabgeordnete. Oppositionspolitiker sind regelmäßige Prozessbeobachter in Silivri. Der Saal hat etwa tausend Quadratmeter, er wurde für Massenprozesse gebaut. An der Stirnwand über dem erhöhten Richtertisch steht in Großbuchstaben: »Die Gerechtigkeit ist das Fundament des Landes.« Ein Satz von Republikgründer Kemal Atatürk. Das kann man auch von der rückwärtigen Saalseite aus noch gut lesen, wo die Zuschauer Platz nehmen. Was man von dort nicht sieht, sind die Gesichter der Richter und des Staatsanwalts, weil sie nicht auf den zwei Großleinwänden erscheinen, die den Richtertisch flankieren. Dort werden nur die Köpfe der Anwälte gezeigt und die der Angeklagten, wenn sie das Wort haben.

Es gibt in diesem Prozess sechzehn Angeklagte. Nicht alle sind anwesend, einige sind schon vor einiger Zeit ins Ausland geflüchtet, darunter der bekannte Journalist Can Dündar, der nun in Deutschland im Exil lebt. Nur einer der sechzehn ist in Untersuchungshaft: Osman Kavala. Um zehn Uhr soll die Verhandlung beginnen, aber es tut sich nichts. Viel Zeit, die Polizisten zu studieren, die in Panzerwesten die vielen leeren Sitzreihen in der Saalmitte bewachen, einige spielen mit ihren Handys. Auf den Zuschauerbänken ganz hinten sind alle 300 Plätze besetzt. Für Anwälte, Diplomaten, Abgeordnete und Medienvertreter gibt es extra Stühle an den Seiten. Auch hier ist kein Platz frei, ein paar Journalisten sitzen daher am Boden. Gewöhnlich ist das nicht erlaubt, aber manchmal, so wie heute, drücken die Wachleute ein Auge zu.

Endlich erscheinen der Richter und seine zwei Beisitzer. Kurz darauf wird der Angeklagte hereingeführt, über eine Rampe aus dem Untergrund direkt in die Saalmitte, was dem Auftritt etwas Theatralisches verleiht. Auf der Rampe taucht zuerst Kavalas grauer Lockenkopf auf, da erheben sich die Zuschauer schon von ihren Plätzen zum Gruß, viele klatschen, winken. Kavalas grauer Anzug hängt an den Schultern über, als sei er ihm in der Haft zu weit geworden. Die Polizisten, die ihn begleiten, überragt er um Haupteslänge. Die Zuschauer klatschen immer noch, da dreht er den Kopf, winkt zurück. Kavalas Augen schweifen durch den Saal, auf der Suche nach bekannten Gesichtern. Das alles dauert weniger als eine Minute, da mahnt der Richter zur Ruhe. Später wird er bei Beifallsbekundungen mit der Räumung des Saales drohen.

Alle sechzehn Angeklagten – Architekten, Professoren, Schauspieler – werden beschuldigt, sie hätten die Proteste 2013 im Gezi-Park organisiert, um die Regierung zu stürzen. Kavala sei ihr Finanzier gewesen. Alle haben die Vorwürfe bestritten. Mehreren Angeklagten droht wie Kavala lebenslange, erschwerte Haft. Die wurde einst als Ersatz für die Todesstrafe in der Türkei eingeführt, es bedeutet mindestens dreißig Jahre Einzelhaft.

Kavalas Stiftung Anadolu Kültür ist seit 2002 aktiv, sie ist Partner des Goethe-Instituts in der Türkei und vieler anderer internationaler Kulturinstitutionen. Die Stiftung hat ein armenisch-türkisches Jugendorchester finanziert, kurdische Künstler, Filmfestivals, Ausstellungen und vieles mehr. Kavalas Familie stammt ursprünglich aus dem heutigen Griechenland, sie wurde im Tabakhandel und mit Bergwerken reich. 1982, nach dem Tod des Vaters, übernahm der Sohn den Konzern, der früher auch für das Militär produzierte. Der Pazifist hat sich längst aus dem aktiven Geschäft zurückgezogen, er ist hauptberuflich Philanthrop. Zum Ärger der Regierenden. Erdoğan nannte ihn– es sollte abschätzig klingen – den »Soros der Türkei«, weil Kavala ähnlich wie der US-Milliardär auch Bürgerrechtsorganisationen fördert.

Am 18. Oktober 2017 wurde Kavala festgenommen, nach einem Inlandsflug. Er wollte in Istanbul gerade aus der Maschine steigen, als er – noch im Flugzeug – von Sicherheitskräften abgeführt wurde. Der Prozess begann erst knapp zwei Jahre später, im Juni 2019, dazwischen blieb er in Untersuchungshaft. Verhandelt wurde stets in großen Abständen von Wochen und Monaten, und nach jedem Prozesstag entschied das Gericht, dass Kavala »wegen Fluchtgefahr« im Gefängnis bleiben müsse.

Nun, es ist der 18. Februar 2020, wird erneut verhandelt, und diesmal ist einiges anders: Der Richter hat den Anwälten zuvor die Botschaft zukommen lassen, sie sollten ihre letzten Verteidigungsworte vorbereiten. Und der Europäische Gerichtshof hat schon im Dezember 2019 die sofortige Freilassung Kavalas verlangt. Die Straßburger Richter fanden in der Anklageschrift keinerlei Beweise für den Umsturzvorwurf. Immer wieder drängt der Richter an diesem Tag zur Eile, die Anwälte aber beklagen, dass alle von ihnen benannten Zeugen abgelehnt wurden. Als ein Anwalt sich das Wort nicht nehmen lassen will, weist der Richter ihn aus dem Saal. Polizisten versuchen, den Juristen mit körperlicher Gewalt hinauszueskortieren. Dagegen protestieren viele Zuschauer lautstark. Polizisten bauen sich vor dem Publikum auf, der Richter will die Besucherbänke räumen lassen. Einige Zuschauer stehen auf, bereit, den Saal zu verlassen, viele aber bleiben sitzen. Bevor die Situation eskaliert, verzichtet der Richter auf die Räumung.

Einer der Angeklagten – er ist selbst Anwalt – nennt in seinem »letzten Wort« die ganze Anklage ein »schmutziges Lügenbündel«. Er erinnert daran, dass die Vorwürfe von Ermittlern zusammengetragen wurden, die inzwischen selbst verurteilt sind, wegen Aktivitäten für die Gemeinde des Predigers Fethullah Gülen, der von Erdoğan für den Putschversuch vom Juli 2016 verantwortlich gemacht wird und nun Staatsfeind Nummer eins ist. So absurd ist das alles. Eine Angeklagte sagt: »Ich habe überhaupt nichts verstanden«, sie fühle sich in diesem Prozess »wie in einem Raumschiff«. Das Gericht zieht sich dann zurück, davor hat der Staatsanwalt noch einmal lebenslange Haft für Kavala und zwei weitere Angeklagte verlangt sowie mehrjährige Haftstrafen für viele der übrigen Beschuldigten.

Was dann passiert, ist eine Sensation. Die Pause ist kurz, die Angeklagten sind aufgestanden, um das Urteil entgegenzunehmen, und der Richter murmelt seine Entscheidung herunter, so hastig, als würde er auf das Luftholen verzichten. Es dauert einige Sekunden, bis die Botschaft auf den Zuschauerbänken angekommen ist, weil sie fast niemand erwartet hat, nicht an diesem Tag, nicht von diesem Gericht: Freispruch für alle! Aus Mangel an Beweisen. Im Saal bricht Jubel aus. Minutenlanger Applaus, Tränen, Umarmungen. In der Mitte der ersten Zuschauerreihe steht Ayşe Buğra, Kavalas Frau. Sie ist klein, schmal, dunkelhaarig. Sie hat an keinem Prozesstag gefehlt und musste diesen Saal bislang stets ohne Hoffnung verlassen. Nun strahlt sie, wird von Freunden umringt, umarmt, beglückwünscht. Osman Kavala hat sich da schon wieder zum Publikum umgedreht, auch er winkt, im Gesicht ein Leuchten. Dann führen ihn die Beamten erneut ab, über die Rampe in den Untergrund. Vor der Entlassung werden Häftlinge noch einmal ins Gefängnis gebracht, sie müssen ihre Zelle räumen, zusammenpacken.

Die Zuschauer strömen ins Freie, viele fallen sich erst draußen vor dem Saal in die Arme. Reporter sprechen in Kameras, ausländische Diplomaten geben Kommentare der Erleichterung ab. Kavala wird da schon zu einem Arzt außerhalb des Gefängnisses gebracht, der bescheinigen soll, dass er in der U-Haft keinen Schaden genommen hat. Auch das ist Routine. Dann müsste er eigentlich für die formelle Entlassung zurück nach Silivri. Doch der Minibus nimmt einen anderen Kurs – zur Anti-Terror-Polizei in Istanbul. Dort eröffnet ihm ein Staatsanwalt, dass ein neuer Haftbefehl gegen ihn vorliege und er erneut festgenommen sei. Diesmal wegen angeblicher Beteiligung am Putschversuch von 2016. Von Sympathien des Mäzens für den Prediger Gülen, der hinter dem Putschversuch stecken soll, ist nichts bekannt, im Gegenteil: Kavala hatte frühzeitig vor dessen Einfluss gewarnt. Die neuen Vorwürfe sind ebenso aus der Luft gegriffen wie die aus der Anklage, die sechs Stunden zuvor mit einem Freispruch vom Tisch gewischt worden ist. Kavalas Frau und seine Freunde erfahren das noch am selben Abend, nach ihrer Rückkehr nach Istanbul, von den Anwälten. Zwölf Stunden nachdem sie am Morgen nach Silivri aufgebrochen sind. Ob Freispruch oder Haftbefehl, nichts mehr ist berechenbar, die türkische Justiz ein Scherbengericht. So sagen es die regierungskritischen Kommentatoren. Kavalas Anwälte sprechen von einer »Form der Folter« durch die fortgesetzte Untersuchungshaft.

Von Regierungsleuten wird zur Rechtfertigung erzählt, die Türkei sei von Feinden umzingelt und ihre Gegner stünden im Westen. Ein Unternehmer und Mäzen, der mit westlichen Kulturinstitutionen kooperiert, gerät in diesem Gespinst aus Konspiration und Misstrauen unter Generalverdacht. Diejenigen aber, die da nicht mitmachen wollen und immer noch für eine pluralistische Türkei eintreten, sollen eingeschüchtert werden. Der Prozess gegen Kavala soll jene mundtot machen, die partout nicht den Mund halten wollen. In diesem Sinn war der Freispruch ein Unfall, ein nicht vorgesehenes Ereignis. Später erfährt man, dass dem Richter, der ihn fällte, beamtenrechtliche Untersuchungen drohen.

Im Dezember 2020 beginnt der zweite Prozess gegen Kavala. Dann wird im Januar 2021 auch der Freispruch von einem Berufungsgericht aufgehoben, über die erste Anklage soll erneut verhandelt werden. Schließlich werden beide Prozesse zusammengelegt. Da wird es sogar einem aus der Gründergeneration von Erdoğans Partei zu viel. »Nicht mal ein Kind« hätte die neue Anklage verfassen können, so lächerlich sei sie, schimpft Bülent Arınç, Ex-Parlamentspräsident und Präsidentenberater. Erdoğan distanziert sich sofort von seinem alten Mitstreiter, und Arınç tritt als Berater zurück. Mit einer Begründung für die Geschichtsbücher: »Unser Land muss sich entspannen und eine Lösung für die Probleme unserer Nation finden.«

In der Türkei gibt es viele Mäzene, meist Besitzer großer Industrie- und Handelskonglomerate. Sie stiften prachtvolle Museen, finanzieren Festivals und schmücken sich damit auch selbst. Kavala ist in diesem Kreis mit seiner Stiftung ein auffallend bescheidener Helfer. Statt Aufmerksamkeit fordernde Prestigeprojekte fördert er kleinteiliges zivilgesellschaftliches und kulturelles Engagement. Sein Interesse gilt den marginalisierten Kulturen, der kurdischen, der armenischen, den vertriebenen Griechen. Viele Kulturschaffende standen bei ihm Schlange, um ihn für ihre Projekte zu gewinnen. Sein Kunstraum »Depo« im einstigen väterlichen Tabaklager liegt in der Nähe der Hafenkais von Galata, ein Stück entfernt von der Vorzeigemeile İstiklal. Mütterlicherseits stammt die Familie aus osmanischem Adel. Wenn sein grauer Lockenschopf bei einer Vernissage oder einer Demo aus der Menge ragt, umgibt den Mann etwas Aristokratisches und gleichzeitig Studentisches. Kavala wurde 1957 in Paris geboren, in Istanbul besuchte er das renommierte Robert College, in Manchester studierte er Wirtschaftswissenschaften. Seine Frau ist eine angesehene Wirtschaftsprofessorin.

Anfang der 2000er Jahre traf ich beide zum ersten Mal, bei einem Frühstück von Freunden in Berlin. Die meinten, ich sollte Kavala kennenlernen, bevor ich nach Istanbul ginge. Was sie nicht sagten: Dass Kavala einer der wohlhabendsten und großzügigsten Mäzene der Türkei ist, und die beiden machten auch kein Aufhebens davon. Viele suchten später das Gespräch mit Kavala, europäische Regierungschefs, Kulturminister. Nicht lange vor seiner Festnahme hatten wir uns in Istanbul wieder einmal getroffen, zu einem Abendessen. Kavala sprach von einer Hetzkampagne, von Drohungen auch aus einer regierungsnahen Gruppe. Ob er nicht die Türkei verlassen wolle, fragte ich. Für einige Zeit? Er hätte in jedes europäische Land ausreisen können. Er sagte, er wolle in Istanbul bleiben, wo er gebraucht werde, von seiner Stiftung, von seinen Freunden.

Über seine Anwälte ließ Kavala im Januar 2020 der Süddeutschen Zeitung aus der Haft einen persönlichen Text zukommen. Darin schreibt er über eine globale Atmosphäre des »Postfaktischen«. Die Türkei sei nicht das einzige Land, in dem man damit leben müsse, dass Tatsachen nichts mehr gelten.

Istanbul – ein Tag und eine Nacht

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