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6 Uhr Erwachen Satu Önder – Die Frau des Imams

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Die Moschee macht sich so klein, als würde sie sich zwischen den umstehenden Häusern ducken. Der lindgrüne Anstrich der alten Mauern ist verblasst. Über dem Eingang steht: Makrizade Hüseyin Çelebi Camii und das Baujahr 1709. Jeden Morgen, noch vor Sonnenaufgang, wenn in der Dämmerung der neue Tag erst zu ahnen ist, macht die kleine Moschee sich bemerkbar. Dann ertönt der ezan, der islamische Gebetsruf, schwingt sich durch die Hinterhöfe auf dem Galata-Hügel. Allāhu akbar, Gott ist groß. So weckt der Imam die Gottesfürchtigen, die Zweifler und die Atheisten, erinnert die Gläubigen an ihre Pflichten und die Ungläubigen unsanft daran, dass die Nacht zu Ende ist.

Ein paar Jahre habe ich auf dem Galata-Hügel gewohnt. Viele Häuser hier haben sieben oder acht Etagen und in den obersten Stockwerken abenteuerlich zwischen Himmel und Erde aufgehängte Terrassen. Die sind oft illegal gebaut, weil Wohnungen, von denen man aufs Ballett der großen und kleinen Schiffe auf dem Bosporus schauen kann, viel mehr wert sind als solche ohne diesen betörenden Blick. Von meiner Terrasse in Flughöhe der Möwen konnte ich tief unten auch einen schmalen ummauerten Garten erspähen. Und aus dieser Tiefe ertönte jeden Morgen ein Hahnenschrei, und zwar stets unmittelbar vor dem Gebetsruf, so laut, als dulde das Tier keine akustische Konkurrenz. Es gab nur eine Erklärung: Der Hahn lebt im Garten des Imams. Nach ein paar Wochen war der vorlaute Kräher auf einmal wieder weg, und ich habe mich gefragt, wo ist der Hahn geblieben?

Satu Önder, die Frau des Imams, hat es mir erzählt, bei Tee, Teigtaschen und sohbet, wie das schöne türkische Wort für eine unterhaltsame Plauderei lautet. Satu Önder trägt ein Kopftuch in Pastelllila mit großem Blumenaufdruck, einen langen Rock und eine schwarze Wolljacke. »Der Hahn«, sagt sie und lacht, »ja, schade eigentlich.« Ein paar Nachbarn hätten sich beschwert. Und wenn die Nachbarn sich gestört fühlen, »dann bin ich auch unruhig, deshalb haben wir ihn weggebracht, ins Dorf«. War einfach zu laut, der Hahn. »Eine Ente hatten wir auch, und Hühner im Garten, mein Mann mochte die sehr«, sagt Satu über Mustafa, ihren Mann, den Imam.

Satu Önder sitzt auf einem Sofa in ihrem Wohnzimmer über der Moschee. Für den heißen Tee in Tulpengläsern hat sie kleine Tischchen herangerückt. Sie zupft an ihrer Jacke: »Ich friere immer, ich fürchte die Kälte.« Sie will die Heizung hochdrehen, aber die Tochter neben ihr auf dem Sofa sagt, ihr sei warm. Elif, achtzehn Jahre alt, in Jeans und weißem Pulli, trägt kein Kopftuch. Was Mutter und Tochter erzählen werden, ist eine typische Istanbuler Geschichte, sie handelt von verlassenen anatolischen Dörfern, zehn, zwölf Autostunden von der Metropole entfernt. Und von den Verlockungen der großen Stadt. Von verpassten Chancen und dem Wunsch, dass es den Kindern besser gehen möge als ihren Eltern. »Meine Kinder sind klug«, sagt Satu Önder, »ich bin es nicht.« Elif kennt das: »Das höre ich immer.«

Wo Satu Önder aufgewachsen ist, gab es kein wärmendes Stadtgas, das heute in Istanbul zu den selbstverständlichen Annehmlichkeiten gehört, geheizt wurde im Dorf mit Holz aus dem Wald. Aber allein wegen der bitteren Kälte im Winter wären Satu Önder und ihr Mann wohl nie aus einer fernen Schwarzmeerprovinz nach Istanbul aufgebrochen. »Ich wollte, dass meine Töchter studieren«, sagt die Frau des Imams, »weil ich das nie konnte.«

So erzählt diese Geschichte auch von gewaltigen sozialen Veränderungen in der Türkei, in nur einer Generation. Geboren wurde Satu 1972 in der Schwarzmeerprovinz Sinop. In welchem Monat sie Geburtstag hat, weiß sie nicht. »Meine Mutter hat gesagt, die Kirschen waren reif, also könnte es im Mai gewesen sein.« Die Mutter konnte wie der Vater weder lesen noch schreiben. Als der Vater krank wird, ist Satu drei Jahre alt, er kann lange nicht arbeiten. Daher ziehen sie in das Dorf der Mutter, ein Stück weiter im Landesinneren, in der Provinz Çorum. Dort geht Satu zur Volkschule, danach will sie in die Mittelschule, dazu rät auch ihr Lehrer, sie ist eine gute Schülerin. »Der Lehrer sagte meinem Vater, ich werde deine Tochter in der Mittelschule anmelden.« Da aber müsste sie jeden Tag in die nächste Stadt fahren. Das will der Vater nicht. »Was sollte ich tun?«, fragt Satu. »Mit sechzehn Jahren habe ich dann geheiratet.« Das kam ihr selbst zu früh vor. »Ich war jünger als meine Tochter jetzt.« Mutter und Tochter drehen die Köpfe zueinander. »So waren die Bedingungen damals eben«, sagt Satu Önder, kismet, Schicksal.

Und hat sie sich ihren Bräutigam selbst ausgesucht? »Mein Mann hat mich gewählt«, sagt sie und lacht wieder. »Er kam als Gast zu uns und hat ein Auge auf mich geworfen.« Die Familien kannten sich. Mit Mustafa habe sie sich dann zum Glück gut verstanden. Ihr Mann ist vier Jahre älter als sie. Nach seiner Ausbildung erhält er seine erste Stelle als Imam, in einer anderen Schwarzmeerprovinz, in Samsun, in einem Dorf. Imame arbeiten im Auftrag der staatlichen Religionsbehörde, sie sind Beamte.

Erst 2001, nach vielen kalten Wintern auf dem Dorf, bewirbt sich ihr Mann um eine Stelle in Istanbul und bekommt sie. In der kleinen, historischen Moschee zwischen den Hafenkais von Karaköy und dem Galataturm, auf den die Touristen so gerne steigen. Damals war das keine gute Gegend, inzwischen gibt es hier fast in jeder Gasse eine Bar oder ein Restaurant. Zur Moschee gehört ein lojman, eine Dienstwohnung. Als sie ankommen, ist das nur ein Zimmer und ein kleiner Salon. »Da standen ein Doppelbett und ein Kühlschrank. Sonst nichts.« Und sie hatten doch schon zwei Töchter, Fadime war zehn, Esra zwölf. Die dritte Tochter, Elif, war noch nicht geboren.

Sie haben dann ein Stockwerk auf die winzige Wohnung draufgebaut, in Eigenarbeit, wie man das in Istanbul oft macht. Mit einer steilen Innentreppe, auf der man den Kopf einziehen muss. Die großen Töchter haben studiert. Fadime ist Computeringenieurin, Esra Lehrerin. Elif will nach dem Gymnasium auch Ingenieurin werden. Dafür muss sie in der nationalen Zulassungsprüfung eine hohe Punktzahl erreichen, nur dann kann sie sich Studienfach und Universität aussuchen. »Ich finde das nicht gerecht«, sagt Elif, »wer viel Geld hat, nimmt vor der Prüfung Privatunterricht, die anderen sind benachteiligt.« Sie holt frischen Tee aus der kleinen Küche neben der steilen Treppe. Türkischer Tee wird gekocht, dann wird der Sud mit heißem Wasser aufgegossen und je nach Geschmack verdünnt.

Wenn ihr Mann frühmorgens aufsteht, ist auch Satu wach. Tee kocht sie erst später. »Er geht runter in die Moschee.« Nur wegen des Gebetsrufs müsste Mustafa Önder seinen Dienst nicht so früh antreten, denn inzwischen gibt es in mehreren Stadtvierteln Istanbuls ein zentrales System für den ezan. Doch der Imam ist auch Vorbeter, und wenn die Frühaufsteher in die Moschee kommen, »dann muss er da sein«. Sie bleibe morgens im Haus, sagt Satu Önder, und wenn ihr Mann vom ersten Gebet zurückkommt, lege er sich erst einmal wieder hin. Schließlich kann der Tag lang sein bis zum Nachtgebet, dem yatsı, das sich wie alle fünf islamischen Gebetszeiten nach dem Sonnenstand richtet. Elif sagt: »Wenn wir als Kinder auf der Straße gespielt haben und den ezan am Abend hörten, dann wussten wir, jetzt müssen wir nach Hause.«

Satu Önders Routine ist auch festgelegt, wie die ihres Mannes. Das Haus in Ordnung halten, Einkaufen, Kochen, Putzen und, wenn Zeit bleibt, die zwei Töchter besuchen, die schon außer Haus sind. Eine wohnt auf der europäischen, die andere auf der asiatischen Seite der Stadt. Die vier Enkelkinder betreut sie mit. »Meine größte Freude, bei den eigenen Kindern war ich so jung, da habe ich das nicht so genossen.« Sie putzt auch fremde Wohnungen. Satu Önder sagt, »meine Familie war arm, wie die meines Mannes«. Als sie nach Istanbul kamen, wurde es besser, weil sie arbeiten konnte, das wäre auf dem Dorf nicht gegangen, da gab es ja nichts. Viele Jahre hat sie nebenbei mittags in einem Café gekocht. »Da habe ich Kochbücher gelesen, jetzt finde ich die Rezepte auf dem Handy im Internet, die Kochbücher habe ich weggeworfen.« Einige Gerichte kannte sie schon von der Großmutter, »die einschläfernden Feigen« zum Beispiel, aus Milch, Feigen und Nüssen, »ein umwerfendes Dessert«, sagt sie. Die Gäste im Café mochten es gern.

Über Istanbul sagt die Frau des Imams: »Wenn man reich ist, ist die Stadt sehr schön.« Als Imam werde man aber nicht reich. Polizisten, Lehrer, viele Beamte verdienten besser. Elif rutscht ein wenig auf dem Sofa herum. »Manchmal«, sagt die Tochter, »hasse ich Istanbul, aber wenn ich im Dorf bin, vermisse ich die Stadt.« Und was macht sie in ihrer freien Zeit in der Stadt der unendlichen Möglichkeiten und Verführungen? »Ich laufe durch die Shoppingmalls, auch wenn ich nichts kaufe, oder hier durch die Nachbarschaft. Wenn ich die alten Häuser sehe, macht mich das schon wieder glücklich.«

Satu Önder mahnt, das Essen nicht zu vergessen, die Blätterteigtaschen mit Käse habe sie frisch gemacht. Fragt man die Frau des Imams, ob sie findet, dass die Arbeit ihres Mannes schwer sei, dann sagt sie, mit einem Zögern, als wolle sie nicht missverstanden werden: Nein, schwer würde sie das nicht nennen, aber er sei eben den ganzen Tag angebunden, könne nicht weit weg von zu Hause, sechs Tage die Woche. Am Wochenende gebe es einen freien Tag. Und wenn der Vorbeter krank wird? Dann komme Ersatz, vorausgesetzt, es finde sich einer, was nicht einfach sei, zum Beispiel als Mustafa Önder Covid-19 bekam.

»Die guten Jahre gehen vorbei, so ist das Leben«, sagt sie. »In der Türkei machen immer diejenigen die schwersten Arbeiten, die nicht lange zur Schule gegangen sind.« Wieder ein Seitenblick zur Tochter. Wenn Elif mit dem Studium fertig sei, könnte ihr Mann vielleicht vorzeitig in Rente gehen. Dann müssen sie das Häuschen über der Moschee verlassen. »Es ist ja nicht unser Eigentum.« Sie würden wieder ins Dorf ziehen, wo das Leben billiger ist, wo nur noch ein paar alte Menschen leben und viele Häuser leer stehen, weil die Jungen alle in die Städte gegangen sind. »Aber da ist es kalt im Winter«, sagt Satu Önder und schüttelt sich ein bisschen. Oder sie könnten pendeln, zwischen Stadt und Land. Auch das hat sie schon erwogen. Elif sagt, sie möge das Dorf, »aber nur im Sommer, wenn meine alten Freunde da sind, dann sind wir den ganzen Tag in der Natur, wir laufen durch den Wald, machen Musik, Feuer, haben Spaß«.

Sie schenkt noch einmal Tee nach. Stört es ihre Mutter, dass sie kein Kopftuch trägt? Elif sagt, »meine Eltern haben mich nie dazu gezwungen, es zu tragen, das rechne ich ihnen hoch an«. Satu Önder legt ihre rechte Hand aufs Herz: »Ich schaue nicht auf Äußerlichkeiten, sondern auf das Innere.« Nur eine ihrer drei Töchter trägt die islamische Kopfbedeckung.

Bevor Recep Tayyip Erdoğans Partei 2002 an die Macht kam, durften Frauen mit Kopftuch nicht studieren. Manche zogen sich deshalb Perücken über das Tuch. Erdoğan schickte seine Töchter zum Studium in die USA – mit Kopftuch. Es war paradox: Gerade weil die islamische Kopfbedeckung in staatlichen Gebäuden verboten war, wurde sie zum Symbol der Spaltung des Landes. Erdoğan versprach, das Verbot zu kippen, und wurde auch dafür von Konservativen gewählt.

Die Türken sind unter Erdoğan aber nicht generell frömmer geworden. Das renommierte Istanbuler Meinungsforschungsinstitut Konda untersucht alle zehn Jahre das Lebensgefühl junger Menschen. Bei der bislang letzten repräsentativen Befragung von 5793 Türken über fünfzehn Jahre in Metropolen und auf dem Land fand Konda 2019 heraus: Fünfzehn- bis 29-Jährige sind im Alltag sogar weniger konservativ als zehn Jahre zuvor. Es halten sich weniger junge Leute an die islamischen Gebetsregeln, und im Ramadan wird weniger gefastet. Mädchen und junge Frauen tragen seltener Kopftuch. 58 Prozent verhüllen ihr Haupt nie, zehn Jahre zuvor waren es nur fünfzig Prozent. Die strenge Form des Kopftuchs, türban genannt, die keine Haarsträhne sehen lässt, tragen nur sechs Prozent der Fünfzehn- bis 29-Jährigen, zehn Jahre zuvor waren es noch sechzehn Prozent. Und die allermeisten wollen ihren Lebenspartner selbst aussuchen. Konda-Chef Bekir Ağırdır nennt die Türkei »ein soziales Labor für die Folgen von Urbanisierung und Globalisierung«. Dazu gehört auch: 93 Prozent der jungen Türken nutzen soziale Medien, vor allem Facebook und Twitter.

An der Stirnwand des Wohnzimmers von Familie Önder hängt der Flachbildschirm, der in keinem türkischen Haushalt fehlen darf. Verrät die Frau des Imams, welche Partei sie wählt? Sie zögert, sagt dann: »Mein Mann und ich haben da unterschiedliche Ansichten.« Er sei ein AKP-Anhänger, das war sie früher auch. Aber bei der Kommunalwahl 2019 habe sie in Istanbul ihre Stimme dem jetzigen Oberbürgermeister Ekrem İmamoğlu gegeben. Der ist ein Mann der säkularen CHP, auch wenn er in die Moschee geht. Sein Wahlbündnis aus Sozialdemokraten, Rechtsliberalen und Kurden hat 25 Jahre Vorherrschaft der Konservativen in der Sechzehn-Millionenstadt beendet. Satu Önder findet nun allerdings, dass der Neue noch nicht so vieles besser mache: »Er arbeitet zu wenig.« Elif sagt: »Für mich sind alle Politiker gleich.«

Und was wünscht sich Satu Önder für die Zukunft? Da antwortet sie ohne Zögern: »Dass Gott uns Gesundheit schenkt und Glück für meine Kinder. Mehr ist nicht nötig, denn wie viel Geld du auch hast, wie viele Häuser, was nützt das, wenn du krank und unglücklich bist.« Sie will noch den Garten zeigen. Es geht die steile Treppe wieder hinunter und dann noch ein paar Stufen in den ummauerten Garten. Zwei Kinderschaukeln, Bohnenstauden, Paprikapflanzen, Riesenkürbisse, ein langer Holztisch. In einer Ecke steht ein Hühnerstall, das Türgitter hängt schräg in den Angeln. Satu Önder deutet auf den leeren Käfig. »Da war der Hahn drin.«

Istanbul – ein Tag und eine Nacht

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