Читать книгу Achtsam scheitern - Christin Henkel - Страница 6
ОглавлениеSchöne neue Ökowelt
Achtsam am Arsch …
»Wir brauchen das Auto eigentlich gar nicht mehr«, erklärt Mona stolz und streichelt dabei verträumt über den Lenker ihres funkelnagelneuen Lastenfahrrads, mit dem sie bald die kleine Mathilda und den Benedict-Hector vom Hatha-Yoga für Neugeborene abholen kann. Gerade eben hat sie mit ihrem neuen SUV mit Pedalen versehentlich einen E-Roller und zwei Passanten umgenietet, aber das ist nicht so schlimm – immerhin sollen die Fahrradwege im Stadtzentrum bald Lastenradmutti-tauglich erweitert werden. Nach oben und unten ist ja noch massig Platz. Es dauert ungefähr eine halbe Stunde, bis sie das Monstrum vorm Bahnhof mit sieben Sicherheitsschlössern abgesperrt hat. Den Einwand ihres Mannes, sie blockiere damit eine Feuerwehrzufahrt, hat sie dabei gekonnt ignoriert.
Auch Gatte Manuel verzichtet seit kurzem auf seinen PKW. Obendrein hat er, trotz Tätigkeit im deutschlandweiten Vertrieb einer veganen Hundefutterfirma, all seine Inlandsflüge gestrichen und reist fortan ausschließlich mit der Bahn. Mit einer ordentlichen Portion Glück im Reisegepäck geht das genauso schnell, und er bekommt sogar manchmal einen Sitzplatz.
Unser alter Freund Denis lässt sich gar nicht mehr in der Innenstadt blicken. Er hockt jetzt im brandenburgischen Outback und hantiert im eigenen Garten. Einen Großteil seiner Lebensmittel baut er selbst an. Slow Food und so. Ständig schwärmt er uns von der Ruhe und der malerischen Landschaft vor und endet jedes Mal mit einem ausgedehnten »Ihr müsst uuunbedingt vorbeikommen. Es ist traumhaft hier!«
Mona und Manuel hatte er sofort angefixt. Seitdem sie mit den Zwillingen schwanger sind, suchen sie aktiv nach einem Ort, an dem ihre beiden Bio-Bälger optimal gedeihen können. Ihnen schwant, dass die Drei-Zimmer-Wohnung im Prenzlauer Berg bald ausgedient hat. Mich hingegen machte die ganze Promotion für Denis’ neuen Lebensmittelpunkt von Anfang an skeptisch. Wenn es da wirklich sooo toll ist, wieso muss man es dann explizit betonen? Das ist wie mit der kleinen Pummelfee, die jedem ungefragt erzählt, wie viel Sport sie treibt. Und warum zur Hölle weiß niemand von diesem paradiesischen Naherholungsgebiet?! Noch nie habe ich Leute sagen hören: »Also, das Karwendelgebirge, naja … Aber die Lausitz, Leute! Die Lausitz! Einfach wow!« Aber ich lasse mich gern eines Besseren belehren. Und nun verlassen Mona, Manuel und ich mit nur dreiundzwanzig Minuten Verspätung den Ostbahnhof, um Demeter-Denis einen Besuch abzustatten.
Die Entschleunigung beginnt bereits in der Regionalbahn. Keine Ahnung, wie der Tourismusverband der Region das retten will, aber ein Abenteuer ist die Fahrt im Lausitz-Express nicht gerade: Wald – Feld – Wald – Feld – Kuhkaff – wieder Wald – noch ein Feld, und das alles über eine Stunde lang und komplett ohne LTE. Das mit dem Breitbandausbau lohnt sich wahrscheinlich nicht, weil die wenigen Ortsansässigen das Internet gar nicht kennen.
Aber malerisch ist die Landschaft wirklich. Das muss man ihr lassen: hier ein Feld, da ein Baum, noch schnell ein paar Regenwolken – zack! Fertig gemalt. Da hat der Künstler nicht viel Arbeit.
»Meine Lieben, schaut mal! Er wartet schon auf uns!«, unterbricht Mona meine Gedanken, als der Zug in den Bahnhof unserer brandenburgischen Zielmetropole einfährt. Tatsächlich – da steht unser kordhosentragender Ex-Berliner winkend an Gleis 1 (es gibt nur eins), um seine Gäste in Empfang zu nehmen.
»Hier, probiert mal!«, ruft er uns noch vorm ersten Hallo aufgeregt zu: »Das ist Brunnenkresse, frisch geerntet. Kann man prima an den Salat machen.« Sein breites Grinsen verrät, dass Brunnenkresse außerdem super in den Zahnzwischenräumen hängen bleibt. Wir umarmen ihn und freuen uns, dass die alte Gang nach langer Zeit wieder vereint ist. Die Brunnenkresse schmeckt interessant. Ein echt guter Tipp, falls ich mir einmal ein Kaninchen zulegen sollte. »Noch ein kurzer Fußmarsch, dann sind wir da«, erklärt Denis, der neuerdings ein kleines bisschen nach Kompost riecht, und wir folgen ihm auf einer verlassenen Straße in Richtung Gartenidyll. Vierzig Minuten später stapfen wir immer noch querfeldein. Er muss ziemlich viel von seiner Kresse geraucht haben, wenn er tatsächlich glaubt, dass er nah an Berlin wohnt. Mona ist bereits in siebten Monat und kommt richtig ins Schwitzen, aber glücklicherweise erreichen wir das Ziel noch vor Einbruch der Dunkelheit und vorm Einsetzen der Spontangeburt.
Das alte Bauernhaus steht am Rande einer winzigen Ortschaft. Der verwilderte Garten ist riesig und zwischen den urigen Obstbäumen quietscht leise eine Hollywoodschaukel. Es ist wirklich schön hier, das muss ich zugeben.
»Hier, probier mal!«, ruft Denis schon wieder und hält mir dieses Mal einen bis zur Unkenntlichkeit verschrumpelten Apfel unter die Nase. »Das ist der Holsteiner Cox, frisch geerntet. Da sind alle möglichen Vitamine drin. Superfood aus der Region sozusagen.«
»Alles klar! Dachte schon, das wäre Sonya Kraus ohne Make-up«, versuche ich der kulinarischen Belästigung mit einem kleinen Scherz entgegenzutreten. Doch Denis’ Dackelblick verrät mir, dass ich um die Verkostung des runzligen Teils nicht drumherumkommen werde. Hoffentlich zwingt er mich nicht, einen Beutel voll davon mit nach Hause zu nehmen.
»Mmmmh«, raunt uns Mona genüsslich entgegen. Ihr schmecken die Teile offensichtlich köstlich. Sie hat es sich auf der Hollywoodschaukel gemütlich gemacht, knabbert sich tapfer durch ihr Äpfelchen und setzt zu einem mahnenden Vortrag darüber an, was der unachtsame Verzehr eines Lebensmittels, das NICHT BIO ist, für riesige Schäden bei Embryonen anrichten kann. Das könne sie mit ihrem Gewissen absolut nicht vereinbaren. »Mal ganz ehrlich, meine Lieben – wozu bekommt man denn Kinder, wenn man sie dann vergiftet?!« Eine starke Ansage, wenn man bedenkt, dass sich Mona in den ersten drei Jahren ihrer Karriere bei einer namhaften Werbeagentur ausschließlich von Koks, Prosecco und Reisnudeln ernährt hat.
»Hier! Probiert mal!« Denis drapiert jetzt stolz vier Schnapsgläser auf dem Gartentisch. »Yeah, Alkohol!«, gluckse ich in freudiger Erwartung eines kleinen nachmittäglichen Damenschwipses. »Das sind frische Ingwer-Kurkuma-Shots«, werde ich sofort berichtigt. »Hab ich selbst gemacht. Man muss doch nicht immer Alkohol trinken!«
Mona und Manuel sehen das genauso. Sie schauen mich leicht vorwurfsvoll feat. mitleidig an. »Schon okay«, gebe ich klein bei und proste meinen Freunden brav mit der non-alkoholischen Ingwermischung zu. »Boah, ist das scharf!« Reflexartig ziehe ich meine Wasserflasche aus dem Rucksack und trinke einen großen Schluck, um dem Brennen in meinem Rachen entgegenzuwirken.
»Kraaaass!«, ruft Denis fassungslos in die Runde. »Du kaufst noch Plastikflaschen? Das hätte ich echt nicht von dir gedacht.«
»Kaufe ich ja normalerweise auch nicht«, verteidige ich mich sofort, »aber ich habe meine Glasflasche zu Hause vergessen, am Bahnhof gab es nichts anderes, und ich hatte echt riesigen Durst!« Auch Mona und Manuel sind schockiert: »Meine Liebe, warum hast du uns nicht einfach gefragt? Wir haben doch eine Trinkflasche dabei!« Ich bin genervt. Die tun ja gerade so, als sei die Verschmutzung der Weltmeere allein meine Schuld. Dass ich normalerweise keine Plastikflaschen kaufe, ist die Wahrheit, und mich aus Monas und Manuels Mehrweg-Equipment zu bedienen, kann man mir wirklich nicht zumuten. Egal ob Trinkflasche oder Brotdose: Seitdem die beiden all ihre Lebensmittel im Unverpacktladen beziehen, müffelt es im Deuter-Rucksack ganz gewaltig. Mein Mund hat absolut keine Ambitionen, sich deren Trinkflasche auf mehr als zwei Meter zu nähern. »Ach, und was ich dir vorhin schon erzählen wollte, meine Liebe«, fährt Mona fort, »den Rucksack, den du trägst, gibt es jetzt von diesem neuen Fair Fashion Brand auch aus veganem Leder.«
»Also aus Kunstleder?«, hake ich nach.
»Nein, meine Liebe! Aus veganem Leder!«
»Also aus Kunstleder!«
»Nein! Aus VEGANEM!«
Das wird mir echt zu doof. Zeit, das Gespräch in eine andere Richtung zu lenken: »Habt ihr eigentlich mal was von Anni gehört?« Nur mit ihr wäre die alte Clique vollständig. Den Großteil unserer Zwanziger haben wir gemeinsam im Rudel verbracht. Aber auch für Denis, Mona und Manuel ist unsere gemeinsame Freundin wie vom Erdboden verschluckt. Seitdem im letzten Sommer Life-Coach feat. Tantra-Lehrer Torben in ihr Leben getreten ist, hat sich alles verändert. Zur anfänglichen Euphorie über die heilenden Kräfte ihres neuen Zauselfreddis gesellte sich schnell ein schaler, polyamouröser Beigeschmack. Tantra-Torben ist mehrgleisig unterwegs – und das aus Überzeugung. Schließlich muss er doch so viele Damen wie möglich mit seinem güldenen Chakra und dem neuen Slow-Sex-Trend beglücken. Alles andere wäre egoistisch. Und Anni, die hoffnungslose Monogamistin, sei natürlich egoistisch und »noch nicht so weit«, wenn sie nachts in ihr Kirschkernkopfkissen heult, weil Torben sich zeitgleich beim Tantra-Festival in Schweden auf irgendeinem Liebeshaufen tummelt.
Vor ein paar Monaten habe ich Klartext geredet. Ich habe Anni gesagt, dass der Tantra-Typ ein emotional verkümmerter Vollpfosten ist, der sie unter dem Deckmantel der Erleuchtung geringschätzig behandelt. Das hat Anni dann Torben erzählt, und Torben hat Anni dann wiederum erklärt, dass ich eine schlimme Energieräuberin sei und sie sich dringend von mir lösen müsse. Und weg war sie. Sie war meine beste Freundin.
»Meine Liebe! Gib ihr ein bisschen Zeit. Sie will sich weiterentwickeln, auf eine neue Ebene kommen. Das ist doch gut.« Mona redet mit mir wie mit einem fünfjährigen Kind. Ohnehin scheint mich hier keiner wirklich für voll zu nehmen. Ich habe irgendwie den Anschluss verpasst.
Achtsamkeit, Meditation, Slow Food, Slow Sex, Zero Waste – das alles ist eine verdammt gute Sache und eine durch und durch positive Entwicklung unserer Zeit. Aber wieso muss der neue Trend gleich sektenhaft praktiziert werden, wie es viele tun? Man kann nicht dreißig Jahre lang täglich seinen »Zott«-Joghurt aus dem Plastikbecher löffeln und dann von einem auf den anderen Tag fuchsig werden, nur weil ein unachtsamer Mitmensch die Naturjoghurtmischung nicht brav aus dem Glas schnabuliert.
»Ich glaube, ich pack’s demnächst mal. Vielleicht gehe ich heute Abend noch was trinken«, sage ich in Vorfreude auf meinen baldigen Aufbruch.
»Aber es ist doch grad so schön hier, meine Liebe!«, ruft Mona. »Die Ruhe, die Natur, unser Beisammensein … Sei doch nicht immer so gehetzt. Wir sind gerade erst zwei Stunden hier. Genieße doch einfach die Zeit! Zeit ist das Kostbarste, was wir haben.«
»Vielleicht sollte sie ein Seminar von dir besuchen«, wirft Manuel verschmitzt ein und tätschelt Monas geschwollene Knie. Sie grinst ihn geheimnisvoll an.
»Was für ein Seminar?«, frage ich nach.
»Alsooo …« Mona macht es spannend. »Ich habe in der Werbeagentur gekündigt und mache jetzt eine Ausbildung zum Achtsamkeits-Coach. So kann ich mich selbst verwirklichen und anderen Menschen helfen, bewusster zu leben.«
Oha. Beim Wort »Coach« stellen sich bei mir direkt die Nackenhaare auf. Außerdem kann ich mir Mona einfach nicht dabei vorstellen, wie sie umringt von semi-verzweifelten Muttis andächtig auf einer Klangschale rumgongt und tief ein- und ausatmet. Es ist doch erst knapp ein Jahr her, dass sie auf einer griechischen Partyinsel vier Tage durchgemacht, ein fremdes Boot zu Schrott gefahren und dem Besitzer dann entschuldigend ihre Möpse gezeigt hat. Da wehte noch ein ganz anderer Wind durch ihren Lifestyle. Und jetzt hat sie sich urplötzlich um 180 Grad gedreht? Ich kaufe ihr das einfach nicht ab.
»Was lernt man denn in deinem Seminar?«, will ich es genau wissen.
»Das kann ich dir sagen, meine Liebe! Man lernt, mehr im Moment zu leben und wertschätzend mit sich selbst und der Natur umzugehen. Viele wissen ja gar nicht, was Achtsamkeit überhaupt bedeutet. Es bedeutet, wach zu bleiben und zu wissen, was du gerade machst. Man spürt ganz tief in sich und den Moment hinein.«
Klingt simpel. Ich setze das Gesagte sofort um und begebe mich ganz bewusst in den Moment. Augenblicklich befällt mich eine Spontandepression: Gerade in diesem Moment sitze ich nämlich fernab der Zivilisation in irgendeinem Garten, und meine drei Freunde, die sich im Zuge ihres neuen Lebenswandels einen seltsamen Körpergeruch angeeignet haben, binden mir halb gare esoterische Weisheiten ans Bein— und das auch noch stocknüchtern. Soll ich mich jetzt tatsächlich noch tiefer in die Situation hineinbegeben, oder kann die weg?
Ich entscheide mich für das Vogel-Strauß-Prinzip und verabschiede mich. Mona und Manuel bleiben noch.
»Eine gute Rückfahrt! Und ein bisschen mehr Achtsamkeit, meine Liebe«, ruft mir die schwangere Coaching Queen säuselnd hinterher.
»Achtsam am Arsch«, entgegne ich frech, werfe meinen Eso-Hipstern ein versöhnliches Grinsen zu und begebe mich auf den Rückweg.
Boah, wohnt der weit weg vom Schuss. Es dauert ewig, bis ich den Bahnhof erreiche. Der Weg ist voller Schlaglöcher, in meinem Kopf dreht sich alles. Haben meine Freunde recht? Bin ich wirklich zu unachtsam mit mir und meiner Umwelt? Musste die Plastikflasche heute wirklich sein? Gibt es nicht zahlreiche Gewohnheiten, die ich in meinen Alltag integrieren kann, um bewusster zu leben?
Ich fasse einen Entschluss: In den kommenden Wochen soll sich mein Leben von Grund auf verändern. Weniger Waste, mehr Meditation. Was die können, kann ich auch. Und obendrein werde ich beweisen, dass es sehr wohl möglich ist, die Erde zu retten und dabei gut zu duften.
Kurz bevor ich in den Regio einsteige, höre ich meinen abgehetzten Freund Denis laut rufen: »Warte! Ich hab noch was für dich!« Er rennt auf mich zu, und bevor die Türen schließen, drückt er mir eine Tüte voll mit schrumpligem Fallobst in die Hand. »Hier! Für dich! Selbst geerntet. Ganz köstlich«, japst er. Ich sage lieb Danke und küsse ihn auf die Wange. Es liegt mir fern, die Gefühle eines jungen, ambitionierten Biobauern zu verletzen.
Der Zug fährt endlich los, und meine Äpfel und ich freuen uns wie verrückt auf die laute, wuselige Großstadt.
Tipp 1: Wenn dich deine Eso-Hipster-Freunde in ein idyllisches, altes Bauernhaus ins WUNDERWUNDERSCHÖNE Brandenburg einladen – sei schlau! Fahr lieber ins Karwendel.
Tipp 2: Ein einfacher Tipp zur Müllvermeidung im Alltag ist die Verwendung einer hübschen Mehrwegtrinkflasche, die du jederzeit mit Leitungswasser wieder auffüllen kannst. Solltest du diese Trinkflasche einmal im Bus vergessen haben, vor dir liegt noch ein weiter Fußmarsch, es sind 35 Grad im Schatten, und der einzige Kiosk weit und breit hat keine Glasflaschen im Angebot – dann ist der Kauf einer Plastikflasche absolut in Ordnung.