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Ausmisten mit Marie Kondo

Ich finde Chaos voll in Ordnung

Bevor meine Freunde Mona und Manuel ein Paar wurden, wohnten sie bereits zusammen. Von 2010 bis zur ersten dicken Gehaltserhöhung teilten sie sich gemeinsam mit Denis eine WG in Berlin-Friedrichshain. Die drei zu besuchen war mir jedes Mal eine große Freude, denn allein der Zutritt in die Wohnung war die reinste Abenteuerreise. Vor der Tür tummelten sich unzählige Paar Schuhe: ein wilder Mix aus den Sneakers der Bewohner und einem Potpourri vergessener Latschen von Freunden und Unbekannten, die die letzte Hausparty im Delirium nackt oder unbesohlt (oder beides) verlassen hatten. Man musste sich erst eine kleine Schneise frei treten, um zur Tür zu gelangen, die sich nur einen Spalt öffnen ließ, da sie von zahlreichen Pfandflaschen umstellt war.

»Wollt ihr die nicht mal wegbringen?«, fragte ich eines Abends zögerlich, als wir die Wohnung gar nicht mehr betreten konnten und unser Bier im Hausflur konsumieren mussten.

»Ist unsere Altersvorsorge!«, erwiderten meine Freunde schelmisch, und so tranken wir auf der Treppe zum Dachboden, bis wir genug Leergut für ein paar weitere Lebenstage zusammen hatten.

Auch im Inneren der illustren Behausung gab es immer etwas zu entdecken. Ein sehr, sehr trübes Aquarium im Flur zum Beispiel. Es wurde unermüdlich behauptet, dass darin Fische lebten, obgleich man diese nie zu Gesicht bekam.

»Die sind nur in den frühen Morgenstunden aktiv. Das ist typisch für Fische. Übernachte doch mal bei mir, dann kannst du dich selbst überzeugen«, hatte mir Denis geheimnisvoll erklärt. Doch auch das Inaussichtstellen einer seltenen Naturbeobachtung konnte mich damals nicht dazu bewegen, die Nacht mit ihm zu verbringen. Ich wusste, dass schon viele Damen vor mir »die Fische beobachtet hatten«, und wollte nicht Teil der Gruppe der Zoobesucherinnen mit gewissen Vorzügen werden.

Auch tagsüber hatte die Wohnung meiner Freunde fantastische Naturschauspiele zu bieten. Man musste einfach nur den Schrank unter der Spüle öffnen. Darin befanden sich einige Zwiebeln, die über die Jahre in Vergessenheit geraten waren. Hoch ­wucherten die Keime der Knolle gen Himmel, und ihr süßsaurer Duft durchströmte die anliegenden Zimmer. Ob das die Brutstätte für Denis’ grünen Daumen gewesen ist?

Berge von Geschirr, Stapel aus Schallplatten und unbeantwortetem Papierkram, ein Kratzbaum für die seit Jahren verstorbene WG-Minka und unzählige herumliegende Kleidungsstücke gehörten zum Wohlfühlambiente der zwanghaft hedonistischen Mittzwanziger. Warum auch nicht! Wir waren jung, und es galt der Satz: »Wer eine aufgeräumte Wohnung hat, hat kein Leben.«

Irgendetwas muss in den vergangenen Jahren passiert sein, denn beim letzten Besuch, den ich Mona und Manuel im Frühjahr abstattete, verschlug es mir die Sprache. In freudiger Erwartung auf ihren Nachwuchs hatten die beiden eine Drei-Zimmer-Dachgeschosswohnung in der Belforter Straße im Kollwitzkiez bezogen und zur traditionellen Einweihungsparty geladen. Vermutlich die letzte Station, bevor ernsthaft über ein Haus im Grünen nachgedacht wurde. Das war mir die Reise von München nach Berlin absolut wert. Es war ihr inzwischen dritter Umzug innerhalb der Stadt, und die Festlichkeiten zum Einzug waren seit jeher berüchtigt.

Bei den letzten Partys wurden die Flohmarkt-Möbel aus dem Fenster geschmissen, damit man Platz zum dancen hatte, die coolsten Kiez-Hipster waren zu Gast, und irgendein Typ pinkelte jedes Mal in Monas Ikea-Palme, die sich über all die Jahre hervorragender Gesundheit erfreute. Der Abend konnte nur gut werden.

Doch schon beim Betreten des Hauseingangs wurde ich skeptisch. Alles war ruhig. Keine laute Musik, kein grölender Manuel, kein Mucks weit und breit. Vielleicht hatte ich mich in der Adresse vertan.

»Willst du auch zur Party?«, fragte ein harmloses Pärchen, das kurz nach mir den Eingang betrat und mich schon in den ersten zwei Sekunden zu Tode langweilte. Er trug eine fetzige Funktionsjacke und sie eine Salatschüssel.

»Das ist Guacamole. Selbst gemacht. Ganz köstlich«, promotete sie ihr Mitbringsel. »Das ist Hugo vom Aldi. Selbst gekauft. Mega lecker«, promotete ich meins. Meine Freunde und ich waren immer große Fans dieses exquisiten Getränks gewesen, sie würden sich darüber sicher sehr freuen.

Wir betraten den Aufzug und fuhren nach oben. Da die Sache mit den Gastgeschenken inzwischen geklärt war, hatten wir uns nichts mehr zu sagen. Das Weibchen beäugte mich argwöhnisch. Warum Pärchen-Frauen jeder anderen Dame, die grad keinen Schatzi im Schlepptau hat, misstrauisch gegenüberstehen, werde ich nie kapieren. Befürchtete sie wirklich, ich könnte ihr den heißen Windjackenträger ausspannen? Das war eine echte Beleidigung. Ich warf ihrem Schatzi ein umwerfendes Lächeln zu, nur so, um sie ein bisschen aus der Reserve zu locken, dann öffnete sich die Fahrstuhltür, und wir standen direkt in der Wohnung.

Ich war baff. Die Bude war beinahe komplett leer, dabei lag der Umzug Wochen zurück. Mein erster Blick konnte nur ein Sideboard im Skandi-Look, ein helles Ecksofa und drei weitere, offenbar trächtige Paare erhaschen, von denen man nicht sicher sagen konnte, ob nun das Weibchen oder das Männchen schwanger war. In der Ecke entdeckte ich einen in die Jahre gekommenen DJ, der gediegene Lounge-Musik auflegte. Das musste DJ Jondal von Klassik Radio sein.

»Meine Liebe! Kannst du die Schuhe bitte ausziehen?«, rief Mona panisch und kam auf mich zu gerannt.

»Hi erst mal, und herzlichen Glückwunsch zur neuen Wohnung und zum Nachwuchs und so«, begrüßte ich meine Freundin und umarmte sie fest.

Nun gesellte sich auch Manuel zu uns. In der Hand hielt er ein Rotweinglas. »Heeeyyyy! Schön, dass du da bist. Sag mal, könntest du bitte deine Schuhe ausziehen?«

Widerstand war zwecklos. Ich schlüpfte aus meinen Turnschuhen und drückte den beiden strahlend mein Geschenk in die Hand.

Mona schaute irritiert: »Meine Liebe, du weißt schon, dass ich schwanger bin, oder?«

»Klar, aber Manuel doch nicht! Außerdem: Was Mutti und Vati jahrelang gutgetan hat, kann den Babys doch nicht schaden.«

Beide schwiegen. Verdammt. Ich hatte mal wieder vergessen, dass es nichts Humorloseres gibt als werdende feat. frisch gebackene Eltern. Zu meinem persönlichen Ärger wurde der Guacamole meiner Hausflurbekanntschaft viel mehr Aufmerksamkeit zuteil.

»Ach, ihr Lieben! Wie lecker! Ich pack die gleich mal zu den anderen Naschereien«, schwärmte Mona und watschelte samt Schüssel in Richtung offene Küche.

Auch diese machte einen ganz und gar unbewohnten Eindruck. Das sorgfältig angerichtete Fingerfood wirkte künstlich, und ich hatte große Angst, mich daran zu bedienen, da ich auf keinen Fall kleckern und das blitzsaubere Setting zerstören wollte.

»Bereit für eine Führung, meine Lieben?« Mona schnappte das Avocado-Pärchen und mich und geleitete uns durch die neue Behausung. Jeder weitere Raum sorgte für noch mehr Verwirrung. Im Schlafzimmer befand sich rein gar nichts außer einem cremefarbenen Boxspringbett und einem weißen Einbauschrank. Weit und breit kein Krimskrams, nicht mal ein herumliegender Schlüppi.

»Tadaaa!« Mona öffnete die Schranktür. »Manu und ich haben das perfekte Ordnungssystem ausgetüftelt. Wir kriegen hier so viel unter, meine Lieben, das glaubt ihr nicht!«

Im Inneren des Wandschranks waren Kleidungsstücke nach Farbe, Form und Größe sortiert. Es glich dem Inhalt der Pax-Musterversion aus dem Ikea-Katalog.

»Wow!« Die Avocados waren aus dem Häuschen. Sie wollten wissen, ob Mona die Kleidungsstücke auch nach der Konmari-Methode gefaltet habe. Ich verstand nur Bahnhof. Dann ging es weiter ins Bad. Regendusche, Natursteinboden – auch hier wirkte alles recht ansprechend, aber leer. Außer zwei Bambuszahnbürsten, einer Seife und einer kleinen Kommode konnte ich nichts entdecken.

»Wo sind denn eure ganzen Sachen? Duschgel und Shampoo und so«, hakte ich nach.

»Meine Liebe, wir haben alles, was wir brauchen«, betonte Mona und hielt mir das einzige Seifenstück des Hauses unter die Nase. »Riech mal! Ist selbst gemacht. Die kann man zum Körpereinseifen, zum Händewaschen und sogar als Shampoo benutzen. Manu und ich nehmen die beide.«

»Wow!«, schleimten die Avocados schon wieder, machten bedeutungsvolle Geräusche mit ihren Riechorganen und erzählten, dass auch sie seit einer Weile stolze Besitzer eines gemeinsamen Allround-Produktes sind.

»Und was ist mit Conditioner?«, blieb ich skeptisch.

Mona setzte zu einer Belehrung an:

»Conditioner braucht man überhaupt nicht, meine Liebe. Große Kosmetikkonzerne reden uns das seit Jahren ein, damit wir überflüssige Produkte kaufen.«

Komischer Sinneswandel. Sie war es doch, die im Frankreich-Urlaub vor vier Jahren eine große Umhängetasche dabeigehabt hatte, die ausschließlich mit Kosmetika gefüllt war.

Während ich ihr zuhörte und mir dabei ihre glanzlose Frise besah, kam mir der Gedanke, dass Conditioner kein überflüssiges, sondern vielmehr ein dringend notweniges Produkt war. Aber in Berlin hatte man es mit dem glänzenden Fell noch nie so ernst genommen, da war ich einfach zu sehr München, was die Mähne anging. Jetzt war das Kinderzimmer an der Reihe. Hier standen zwei Bettchen für die Zwillinge, eine schlichte Wickelkommode und ein riesiger Sessel mit einer schicken Stehlampe daneben.

»Meine Lieben, das ist meine Stillecke«, erklärte Mona stolz, als ich mich testweise in den Lehnstuhl fläzte.

»Echt gemütlich hier. Ich stille die Babys gern auch mal, wenn ich zu Besuch bin«, witzelte ich. Mona und das Avocado-Weibchen schüttelten den Kopf. Ach ja, humorfreie Zone – schon wieder vergessen.

»Wo habt ihr die coole Lampe her? Die hätte ich auch gern«, wollte ich wissen, und meine Freundin schickte mir einen Link über WhatsApp.

Wir bestaunten noch die hübsche Dachterrasse und gesellten uns anschließend wieder zu DJ »Bisschen älter« ins Wohnzimmer.

»Rotwein?«, fragte Manuel und drückte mir ein Glas in die Hand. Viel lieber hätte ich den Aldi-Hugo getrunken, aber ich wollte kein weiteres Mal unangenehm auffallen. Die Gespräche um mich herum drehten sich um Geburtsvorbereitungskurse, Bonding und dänische Immobilienmakler. In Kombination mit den einschläfernden Beats des alternden Discjockeys eine fatale Mischung. Es war mit Abstand die langweiligste Party, die ich je besucht hatte.

Ich tippte eine SMS an Denis: »Hey! Wo bleibst du? Nur schwangere Paare hier. Mir ist laaangweilig!«

Keine Antwort. Na toll. Zur Zeitüberbrückung checkte ich den Link, den mir Mona gesendet hatte. Vielleicht verhalf mir dieser überflüssige Ausflug in die Hauptstadt wenigstens zu einer hübschen, neuen Beleuchtung. Foscarini Stehlampe – Kaufpreis: 2814 €.

Ungläubig zoomte ich ran. Da stand es nun ganz groß. Ich hatte mich nicht verlesen. Meine Freunde hatten sich für knapp 3000 Euro eine Kinderzimmerlampe gekauft. Im Kopf addierte ich den monetären Wert all meiner Möbel, die ich bisher besaß, zusammen, ohne am Ende auf den Betrag des Designerstücks zu kommen. Mussten die beiden etwa deshalb an ihren Kosmetikprodukten sparen? Hatte Mona darum kein eigenes Shampoo mehr? Fragen über Fragen. Ich beschloss, mich mit der Vintage-Leuchte vom Dachboden meiner Oma zu begnügen und weiterhin in Haut- und Haarpflege zu investieren.

Endlich erreichte mich Denis’ Antwort:

»Ach meine Süße, ich wäre so gern bei euch, aber heute ist Neumond und ich werde einiges einpflanzen, damit hier bald alles sprießt …«

»Ist das sexuell gemeint?«, hakte ich nach. Das konnte doch unmöglich sein Ernst sein. Als Antwort kamen nur drei Fragezeichen zurück und wenig später die obligatorische »Ihr müsst mich uuunbedingt besuchen kommen, es ist traumhaft hier!«-Aufforderung. Der Abend war offiziell gelaufen.

Mona setzte sich neben mich und streichelte mir aufmunternd den Rücken.

»Na, meine Liebe? Was beschäftigt dich? Du grübelst die ganze Zeit vor dich hin.«

»Hier sieht es ganz anders aus, als ich erwartet hatte. So, als wäre das überhaupt nicht eure Wohnung.«

»Naja, wir sind bald zu viert, da war es wirklich an der Zeit, etwas zu verändern. Wir haben den alten Ballast abgeworfen und fühlen uns jetzt viel wohler.«

»Aber ihr hattet doch so coole Sachen. Der blaue Küchentisch oder die hübsche Kommode vom Sperrmüll und deine Palme und so. Wo ist das alles?«

»Wir haben achtsam Tschüss gesagt und uns von den alten Dingen gelöst. Ordnung machen ist unheimlich befreiend. Du solltest das auch ausprobieren!«

Sie verschwand und tauchte kurze Zeit später mit einem Buch wieder auf:

Marie Kondo: Magic Cleaning. Wie richtiges Aufräumen Ihr Leben verändert.

»Das kannst du dir borgen, meine Liebe. Danach bist du ein ganz neuer Mensch.«

»Danke«, sagte ich, nippte brav an meinem Rotweinglas und verbrachte noch ein, zwei Stunden mit Höflichkeits-Smalltalk über frühkindliche Entwicklung und plastikfreies Einkaufen. An diesem Abend vermisste ich meine Zwanziger so sehr, dass ich am liebsten laut geheult hätte.

Auf der Rückfahrt im ICE las ich in dem Schmöker, den mir Mona geliehen hatte. Würde sich nach einer magischen Aufräumaktion etwa auch mein Leben verändern? Und wenn ja, dann zum Positiven? Ich hoffte, dass dem Buch ein Zauberstab beiliegen würde, denn aufräumen zählte nicht unbedingt zu meinen Lieblingsbeschäftigungen. Bisher war ich ein Fan der gepflegten Unordnung. Die ein oder andere »schlimme Ecke« meiner Wohnung bereitete mir große Freude, weil es dort längst vergessene Schätze zu entdecken gab. Mit glänzenden Augen erinnerte ich mich an einen Spontanfund, bei dem es sich um meine ersten Inlineskates aus dem Jahr 1995 handelte. Ich hatte eigentlich nach einem Pürierstab gefahndet und war bei der Suche auf meine alten Rollschuhe gestoßen. Das Küchengerät ist bis heute verschollen. Dafür drehe ich regelmäßig meine Runden im Englischen Garten und erfreue mich der warmen Abendsonne und des Lebens. Alles richtig gemacht.

Marie Kondo weiß im Gegensatz zu mir immer ganz genau, wo ihr Pürierstab zu finden ist, und die ollen Inliner hätte sie längst aussortiert, nachdem sie ihnen wertschätzend für die gemeinsame Zeit gedankt und sich würdevoll verabschiedet hätte. Sie glaubt, dass ein erfülltes, geordnetes Innenleben immer mit einer Ordnung im Äußeren einhergeht. Darum wird bei ihr auf 224 Seiten ausgemistet, sortiert und gefaltet, was das Zeug hält, ganz ohne spontane Rollschuhrunde.

Bei meiner Internet-Recherche ging mir auf, dass ich die letzte Person sein musste, die dem Ordnungswahn noch nicht verfallen war. YouTube war voll von Videos, in denen junge und mittelalte Menschen ihre Buden nach Kondos Methode entrümpelten. Wer zu doof war, seinen Kleiderschrank in Eigenregie auf Vordermann zu bringen, konnte sich dafür sogar einen Coach engagieren. Wahnsinn! Es gab tatsächlich Leute, die gegen Bezahlung beim Ordnungmachen halfen. Als ich diese Perlen unter den Tutorials ansah, stellte sich mir die immer gleiche Frage: Warum zur Hölle war Aufräumen plötzlich cool? Und warum so drastisch? Hätte es in Monas und Manus beispielhaftem Fall nicht gereicht, die neunhundert Pfandflaschen wegzubringen, die alten, geliebten Möbel hübsch in Szene zu setzen und einmal feucht durchzuwischen? Musste es gleich der totale Neustart sein?

Dann stieß ich auf einen Clip der Königin Kondo persönlich, und urplötzlich war es um mich geschehen. Die bildschöne Japanerin mit der umwerfend sympathischen Art erklärte, wie sie ihren Kleiderschrank organisierte, und ich fand, dass dies eines der interessantesten Videos war, das ich je gesehen hatte. Der Hype hatte mich gepackt. Ich wollte nur noch eins: aufräumen, aufräumen, aufräumen! Und zwar alles. Während ich in Gedanken Pläne für mein neues, minimalistisches Leben schmiedete, setzte ich meine Recherche fort. Jetzt war ich endgültig baff. Die Autorin war Jahrgang 1984, genau wie ich. Sie war sogar nur zwei Tage älter. Warum bloß sah sie zwanzig Jahre jünger aus als meine nicht mehr ganz so taufrische Wenigkeit? Kriegt man vom vielen Aufräumen etwa auch schöne Haut? Magic ­Cleaning fürs Gesicht? Das war noch ein Grund mehr, direkt nach meiner Ankunft mit dem Entrümpeln zu beginnen.

Stunden später erreichte ich meine Wohnung. Der ICE hatte mal wieder einige Überraschungen in Sachen Signalstörung bereitgehalten. Als ich die Tür öffnete, schämte ich mich ein bisschen. Hier sah es gar nicht kondoesk aus. Im Flur stapelten sich die Anziehsachen auf einem undefinierbaren Haufen, der Fußboden war flächendeckend mit Orchesternoten bedeckt, auf dem Klavier stand eine angebrochene Flasche Hugo, und mein Lieblingsbikini hing über dem Mikrofonständer. Ich ließ das Stillleben eine kurze Zeit auf mich wirken und spürte, wie ein wohlig warmes Daheimgefühl in mir aufstieg. Es war unordentlich, aber immerhin sauber. Ich bahnte mir einen Weg zum Piano, gönnte mir einen großen Schluck Aldi-Sprudel, der auch ohne Kohlensäure exzellent schmeckte, und spielte drauf los. Bei den leidenschaftlichen Passagen schaukelte der baumelnde Bikini sanft hin und her. Strand-Feeling in den eigenen vier Wänden – es war verdammt schön in meinem geliebten Zuhause. Ich fand mein Chaos voll in Ordnung. Das Ausmisten verschob ich auf das bevorstehende Wochenende.

Tipp 1: Aufräumen ist verdammt cool – vor allem, wenn man viel Tagesfreizeit, keine Freunde und keine Hobbys hat.

Tipp 2: Nein, deine Wohnung wird nicht gemütlicher, indem du sie einrichtest wie eine Zahnarztpraxis für Privatpatienten.

Achtsam scheitern

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