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3 . K A P I T E L
ОглавлениеHans regte sich im Schlaf. Seine Hände zuckten. Diese Regung der kleinen, drallen Finger stach Magdalene ins Mark. Sie wusste nicht, warum Jean seine Frau umgebracht hatte. Sie wusste nicht einmal, wie er es getan hatte. Sie hatte gespürt, dass er hoffte, deren Gesicht zu sehen, wenn Magdalene sich zu ihm umdrehte. Bereute er den Mord? Hatte er gehofft, mithilfe von Magdalene seine schreckliche Tat vergessen zu können?
Magdalene streckte sich auf dem Bett aus, in Kleidern, so wie sie war. Sie schlief ein, die Müdigkeit steckte in jedem einzelnen Knochen. Wieder kehrte ihr Traum zurück, der Traum von Jean, der den steilen Weg von der Saale heraufkam und sie mit einem Lächeln fest im Blick hielt. An dieser Stelle erwachte das Mädchen jedes Mal, auch an diesem Abend, der der Abend ihrer Verlobung gewesen war.
Seufzend stand sie vom Bett auf und ging hinüber zur Fensternische, wo sie abends gern saß, wenn Hans schlief und die Hausarbeit getan war. Magdalene setzte sich auf den schmalen hölzernen Sims und lehnte ihren Rücken an den Fensterrahmen. Von dort aus schaute sie in den Garten hinab, hinter sich die leisen Atemzüge des Kleinen.
Draußen schwieg eine mondlose Nacht. Die Dächer der Stadt, die Bäume im Garten und die Mauern rings ums Geviert waren kaum zu erkennen. Sie konnte die kleinen, verschachtelten Gärten und Mäuerchen mit geschlossenen Augen sehen, das Muster der hellen und dunklen Backsteine in der einen und die Kerben im Lehm der anderen Mauer. Sie kannte jeden Apfel, der allmählich an den Bäumen ihres Blickfeldes wuchs. Sie kannte jedes Nachbarskind, das von den Mauern aus sehnsüchtig die Äpfel betrachtete. Wenn man die Tatsachen kennt, kann man sich ein Urteil darüber bilden, ob jemandem Recht widerfährt. Magdalene kannte keine Tatsachen. Sie wusste nichts weiter als das, was sie selbst erlebt hatte.
Sie musste mit aller Kraft den Gedanken von sich schieben, noch einmal nach Wettin zu reiten. Wie er wohl jetzt lebte? Allein wie früher, als sie noch nicht da gewesen war? Ob er es bedauerte, dass niemand mehr sein Essen kochte? War er froh, dass er das Kindergeschrei nicht ertragen musste? Ob er gesund war, ob es ihm überhaupt gut ging? Hatte er genug zu essen? Es machte sie wütend, dass er sich dasselbe zu ihr offensichtlich nicht fragte. Ihr Onkel hatte recht. Es interessierte Jean nicht, was Magdalene geschehen war, ihr und dem Kind, von dessen Geburt er nichts mehr erfahren hatte. Nein, er hatte nicht verdient, dass sie noch einen einzigen Gedanken an ihn verschwendete.
Manchmal brummte Anna in ihren Altweiberbart, Kinder seien eine schwere Last. Magdalene glaubte ihr nachts, wenn der Hans sie weckte und sie sich schnell, damit er nicht zu viel Lärm machte, über ihn beugte und ihn hochhob. Er besaß als Bett den Kasten, den sie tagsüber unter ihr eigenes Bett schob. Für ein zweites Bett, sei es noch so klein, wäre kein Raum gewesen. Die Truhe mit den Kleidern stand am Fußende, an der Wand hing der kleine Spiegel. Wenn der Kasten herausgezogen war und Hans schlief, hatte sie gerade noch Platz, die Tür einen Spaltbreit zu öffnen.
Es mochte sein, dass sie, wenn sie mit diesem Händler verheiratet war, besser lebte als bisher. Sie stellte sich ein großes, schönes Zimmer vor, in dem sie mit ihrem Kind wohnen konnte, etwa wie die Bibliothek ihres Onkels, mit einem Ofen und drei großen Fenstern und einem richtigen Schrank für die Kleider. Hans könnte ein großes Bett haben, sie müsste aufstehen und zu ihm gehen. Sie müsste sich nicht sorgen, dass der Kleine die anderen mit seinem Weinen weckte. Vielleicht gab es sogar eine Magd für die Hausfrau und sie müsste nicht, obwohl der Kleine sie nachts aus dem Schlaf gerissen hatte, beim ersten Hahnenschrei aufstehen. Der Gedanke an ihr neues Leben, das bald beginnen sollte, verlor ein wenig von seinem Schrecken.
Magdalene ging am Morgen hinunter in die Küche zu Anna. Sie trug Hans auf dem Arm, den behielten sie tagsüber bei sich in dem warmen Raum. Er brabbelte vor sich hin und fuchtelte mit den Ärmchen. Wenn er einen Ton zu weinen anfing, konnte gleich eine der beiden ihn herzen und wiegen.
»Ach, mein liebes Lenchen«, empfing Anna sie heute, »dass du schon in einer Woche weg sein wirst, ist unfassbar!« Sie wackelte mit dem Kopf und tupfte sich eine Träne aus dem Augenwinkel. Anna war eine erfahrene Amme und schon Magd im Haus ihrer Eltern gewesen, als Magdalene geboren wurde. In den letzten Jahren ergraute das Haar unter ihrer Haube, sie schlurfte behäbiger als früher und redete noch langsamer. Sie schniefte dauernd. Wenn sie redete, dann von früher. Immer war früher auch besser gewesen, das war schon in Magdalenes Kinderzeit so.
Magdalene sah sich um. Die enge Küche, die gemauerte Kochstelle, die Töpfe auf Borden und Stapel von Schüsseln, alles war ihr vertraut. Was sie dagegen in dem fremden Haus erwartete, wusste sie nicht. »Ich komme dich besuchen, ganz bestimmt.«
»So oft du kannst, ja?« Anna deutete mit dem Kinn auf den Kleinen. »Sie wachsen schnell. Du wirst sehen, es dauert nicht lange, bis er sich umdreht und du ihn nicht mehr alleine liegen lassen kannst.« Magdalene betrachtete das Kind, das sie mit offenen Augen ansah.
»Ach, es hat sein Gutes, dass alles schnell geht.« Anna seufzte. »Da kommt es noch in Ordnung.«
Magdalene schwieg, weil sie nicht recht verstand, was Anna meinte.
»Man hat allgemein gewusst, dass der Rehnikel ein seltsamer Kerl ist«, brummelte Anna weiter, »aber was er dir angetan hat, Kind, ist doch kaum zu glauben.«
»Was?« Magdalene war überrascht und begriff nicht gleich, was Anna damit sagen wollte.
»So ein Lüstling. Hält dich monatelang versteckt und tut sich gütlich an dir. Man hat gesehen, wie er dich zugerichtet hat. Du bist ihm abgehauen mit dem Kind, das war gut. Sonst hätte dein Onkel nichts für dich tun können. Er hat den Lüstling gezwungen, zu seiner Tat zu stehen! Der Herr Bertram ist ein guter Vormund!«
Magdalene blieb der Mund offen stehen. »Herr Rehnikel ist nicht schuld!«
Anna schüttelte den Kopf. Ihre Stirn legte sich in Falten. »Ist der nun Hänschens Vater oder nicht?«
Magdalene holte tief Luft. Was sollte sie ihrer gutherzigen Anna sagen? Dass Hans nicht Herrn Rehnikels Sohn war, sondern der Sohn eines Franzosen, eines Ketzers, eines Mörders?
»Doch, Georg Rehnikel ist Hänschens Vater.«
»Na siehst du. Also hat er auch alles andere verschuldet. Wie hat er zulassen können, dass du dermaßen abmagerst! Hat er dir nichts zu essen gegeben? Und deine Kleidung, bloß einen zerrissenen Kittel hast du getragen! Hat er dich geschlagen? Ach Lenchen, ich kann verstehen, dass du nicht darüber reden willst. Du musst ihn nicht in Schutz nehmen, diesen Kerl. Ich mache mir Sorgen um dich. Dein Onkel meint, es käme alles in Ordnung, wenn du ihn heiratest, weil er auf diese Weise für sein Kind geradestehen muss. Ich denke aber, wenn er dich schon früher geschlagen hat, wird er es weiter tun!«
Magdalene fasste Anna bei den Oberarmen. »Anna, Herr Rehnikel hat mich nicht geschlagen. Das mit meinem Gesicht war ein … Unfall. Es wird mir gewiss gut gehen, ich werde seine Ehefrau.«
Anna nickte. Eine Träne tropfte ihr aus dem Auge. »Wenn es dir nur gut geht. Dass er dich heiratet, ist die einzige Lösung. Weißt du, der Rehnikel ist gerade erst vor einem Vierteljahr Witwer geworden. Als wir die Daten gesehen haben, haben wir verstanden, warum er das mit dir so gemacht hat.«
»Wer, wir?«
»Die anderen Mägde und ich.«
»Anna, redest du draußen über mich?«
Anna schlug ihre blauen Augen zu Magdalene auf. »Mein liebes Lenchen, was soll ich denn sonst tun? Ich war außer mir vor Kummer, als du verschwandst, und ich war auch noch schuld an deinem Unglück! Ich hatte dich hinausgehen lassen. Du warst all die Zeit bei dem Rehnikel. Er hat dich in irgendeinem Versteck festgehalten, dabei dachten hier alle, du wärst ertrunken. Sie haben in der Stadt geredet, es hieß, dein Onkel hätte nicht auf dich achtgegeben. In Wirklichkeit hat der Rehnikel seinen Spaß an dir gehabt und inzwischen so getan, als ob er dich selbst suchte. Das konnte er nicht anders machen, weil seine Frau noch lebte. Das haben wir jetzt verstanden. Dein Onkel hat sich angeboten, den Rat von einer Klage gegen den Rehnikel abzuhalten, wegen der Entführung. Hat er nicht ein gutes Herz, dein Onkel?«
Magdalene sank auf die Küchenbank und schüttelte den Kopf. Sie war nicht in der Lage, ein Wort zur Antwort zu geben. Ob dieser Herr Rehnikel das geahnt hatte, als er zur Heirat nickte? Ob der Onkel lange suchen musste, bis er einen fand, der samt Magdalene noch diese dumme Geschichte auf sich nahm? Noch sechs Tage, bis sie die Frau dieses Menschen war, der sie überhaupt nicht kannte. Der hatte sich ein Fischlein gefangen, das schwerer wog als das, was dem Jean de Morin ins Netz gegangen war.
Die sechs Tage bis zu ihrer Hochzeit verflogen wie der Sommerwind, der sich am Tag vor der Feier schlafen legte. Magdalene durfte das Haus nicht mehr verlassen, auch nicht vorm Haus mit den Leuten reden. Sie ahnte, warum. Zu gefährlich war es, dass sie sich zur Herkunft ihres Kindes verplapperte. Der Schneider brachte am Abend vor der Hochzeit das Brautkleid. Jetzt hing es griffbereit, die Falten glatt gelegt, über der Truhe. Es hatte noch den Geruch der Schneiderstube an sich, den ärmlichen Dunst saurer Gurken, der mit ein paar Tropfen Rosenöl zu vertreiben war.
Das Kleid, schwarz wie alle Brautkleider, schmiegte sich eng an ihre Haut. Eine zart geraffte Bordüre und eine Schleife verzierten den Ausschnitt ihrem Stand angemessen. Es saß knapp in der Taille, wölbte sich modisch über den Hüften und reichte genau bis zum Boden. Die Schnüre am Rücken konnte Magdalene ohne Hilfe nicht schließen. Deshalb schlich sie, die Arme überkreuz vor der Brust, zu dem kleinen Spiegel. Sie betrachtete sich, so gut es ging, von allen Seiten. Es war das wertvollste Kleid, das sie je besessen hatte, sie fühlte sich schön darin. Dennoch war es ein trauriges Kleid. Es erinnerte sie an den Schwur, den Jean und sie einander geleistet hatten. Vor Gott war sie bereits verheiratet.
Doch es war ein Schwur einem Mörder gegenüber. Solch einen Schwur musste man nicht halten. Sie erinnerte sich an das Lachen und Träumen mit den anderen Mädchen am Melusinebrunnen. Dort redete Magdalene von ihrer künftigen Hochzeit stets als ein großes, fröhliches Fest. In Wirklichkeit wurde ihre Hochzeit weder groß noch fröhlich. Die eine, die vor Gott, war eine heimliche Hochzeit gewesen, die zählte nicht. Die andere, die für die Leute, würde nur verschämt gefeiert werden.
Die Trauung verlief ohne großes Aufsehen. Der Onkel hatte beschlossen, die üblichen Hochzeitsspäße zu untersagen. Am frühen Morgen stand Magdalene auf und ging mit dem kleinen Hans hinunter in die große Stube, wo sie eingekleidet und geschmückt wurde. Ihre beiden Basen Elisabeth und Katharina, naseweise Mädchen, standen dabei und fühlten dauernd am Stoff und an den Nadeln, mit denen er gesteckt wurde. Tante Dorothea und Anna vollbrachten das Werk selbst. Sie steckten das Kleid eng um ihren Körper, flochten das Haar zu einem Kranz und befestigten die Brautkrone, ein filigranes Drahtgeflecht mit Bändern, obenauf. Anna stand alle Augenblicke vor Magdalene, die Hände gefaltet, und schluchzte: »Was für eine schöne Braut! Wenn das deine Mutter sehen könnte!«
Um neun Uhr morgens kam Georg Rehnikel mit seinen Begleitern, um sie abzuholen. Er trug einen neuen schwarzen Anzug und eine Perücke, unter der er noch dicker wirkte als zuvor. Magdalene betrachtete den Mann, der bereit war, sie samt dieser furchtbaren Gerüchte zu sich zu nehmen. Er schwitzte, er sah sie nicht an, seine Hände zitterten. Waren ihm die Folgen seiner Entscheidung erst nach der Verlobung aufgegangen und er bereute es längst?
Der Brautzug zur Ulrichskirche ordnete sich, ein kleiner, von allen Straßenecken gut beobachteter Zug. Georg Rehnikel führte mit seinen drei Schwägern – das waren andere Kaufleute aus seinem Viertel – den Zug an. Dahinter folgte Conrad Bertram mit Magdalene am Arm, dann die Tante mit ihren Kindern, weiter das Gesinde, allen voran Anna, die ständig schluchzte. Die Bänder der Brautkrone flatterten Magdalene ins Gesicht.
Dem Onkel entging die Neugier der Beobachter. Er spielte unerbittlich seine Rolle als Vormund der Braut. Er hielt Magdalene fest, als ihr mitten auf der Straße übel wurde, lächelte nach allen Seiten und führte sie mit festem Schritt zu ihrer Trauung. Es mochte sein, dass er glaubte, Magdalene wollte im letzten Augenblick kneifen, denn sie schwankte wie ein Grashalm im Wind. Als sie in die Kirche trat, fiel ihr ein, dass Jean gerade in sein Fischerboot stieg und zu den Reusen fuhr. Der Drang überkam sie, etwas Irrsinniges zu tun, etwa laut zu schreien oder die Röcke zu raffen und davonzurennen.
Sie tat nichts dergleichen. Der Onkel hielt sie die ganze Zeit starr am Arm. Er führte Magdalene bis vor Georg Rehnikel hin, der vor dem Altar wartete und sie mit seinen blanken dunklen Augen fest anschaute. Er war ein Anker in diesem Meer von Leibern. Viele unnütze Worte flossen an ihr vorüber und glitten durch die bunten Glasfenster hinaus in den Sommertag. Magdalene war, als stünde sie als einziger Mensch mitten in einem Ozean von nickenden Köpfen, geraunten Worten und staubtrunkener Luft. Sie fühlte sich einsam, so sehr, dass es schmerzte. Ihr Verrat an Jean, an dem Schwur, den sie ihm geleistet hatte, fühlte sich in dieser Stunde schwer an. Sie wurde zur Frau Rehnikel, doch sie wurde es nur mit Hilfe von Worten, nichts als Worten, von Menschen gesprochen, Menschen mit Sünden beladen. Magdalene spürte weder göttlichen Segen noch Fluch. Sie war deshalb die Rehnikelin, weil sich alle einig geworden waren und es in ein großes Buch schrieben. Heiraten ist ein großes Blendwerk, für die gemacht, die daran glauben, und diese Erkenntnis, so traurig sie auch war, erleichterte Magdalene ungeheuer.
Der Tag blieb anstrengend. Es war nicht nur das schwere siebengängige Mahl, das im Gasthof ›Zum Palmbaum‹ serviert wurde: Fasanensuppe, in Brühe geschmortes Wildbret und Pasteten, Fleisch von Rebhühnern, Tauben und Schnepfen, kleine gebackene Speisen vom Kalb mit Früchten, in Speck geschmorte Lachse, Forellen und Hechte, Fischpasteten und Krebsragout, gebackene, mit Zucker bestreute und gefärbte Eierspeisen und Mandelkonfekt. Man war der Stellung der Braut schuldig, dass es beim Essen an nichts fehlte. Als Magdalene am Abend, nach den nötigsten Gratulationen und dem Abtanzen der Brautkrone zum ersten Mal in ihrem Leben ihr neues Zuhause, das Rehnikelsche Haus, betrat, waren ihr die Glieder schwer wie Blei und die Lider brannten. Anstrengend an diesem Tag war die Luft, die um die Hochzeit herumschwebte, wie ein dichter Herbstnebel, beklemmend und unbarmherzig. Anstrengender noch waren das Getuschel, das hinter ihrem Rücken aufflammte, als wär’s die Spur ihres Weges, und die Unverschämtheit mancher Blicke.
Sie betraten das Grundstück durch einen Torbogen. Das Haus lag am Ende des Grasewegs, in der Nähe des Klaustores. Vom Gasthaus waren es ein paar Schritte, die gingen Georg Rehnikel und seine neue Frau nebeneinander. Magdalene spürte ihre Hand in seiner liegen und fühlte, dass er schwitzte. Sie sah, wie rot er war. Das würde die Vorfreude sein. Er glaubte, er ginge seiner Hochzeitsnacht entgegen. Magdalene dachte nicht daran, ihm heute Nacht irgendeine Freude zu bereiten. Das Herz klopfte ihr trotzdem. Links und rechts von ihnen stemmten sich die Pfeiler des mächtigen Torbogens in den Boden, Linien zu Mustern in den Stein gehauen, mit einem breiten umlaufenden Sims. Magdalene ging durch den Bogen, der in der Dunkelheit massig erschien, als wäre er von einem Riesen vor Urzeiten dorthin gepflanzt worden und bliebe bis zum Jüngsten Tage stehen.
Magdalene hatte, obwohl es ihr verboten gewesen war, in den letzten Tagen ein paar Mal mit Sybille sprechen können. Sie hatte sich jede Information über Herrn Rehnikel verschafft, die sie kriegen konnte, um den Preis von Sybilles Ungnade wegen ihrer unbefriedigten Neugier. Herrn Rehnikels Haus trug den Namen »Zu den drei Rössern«, den mochte man ihm gegeben haben, weil es einen Durchgang zum Innenhof besaß, breit genug für ein Fuhrwerk. Die Gasse unweit des Klaustores, an der das Haus lag, war mit buckligem Feldstein gepflastert. Viele Menschen zogen vor allem an den Markttagen durch, es war niemals still dort, eine quirlige, geschäftsträchtige Gegend. Das dunkle, zweigeschossige Gebäude an einer Straßenecke stand zwischen zwei höhere Bauten gepresst, die es mit ihren spitzen Giebeln niederzudrücken schienen.
Die Mauern des Hauses teilten sich deutlich in zwei Schichten. Das Untergeschoss, gemauert aus rauen, behauenen Quadern, war an manchen Stellen eine Armlänge dick. Die fleischfarbenen Steine lagen seit Generationen auf diese Weise aufeinandergeschichtet, und vor ebenso vielen Generationen war ihnen ein einziger großer Bogen als Einfahrt in den Hof gegeben worden. Luft drang durch schmale Schlitze in den Bau, so weit oben, dass kein Hochwasser sie bisher erreicht hatte, nicht einmal die große Flut vor fast hundert Jahren, von der die Alten sagten, es sei eine zweite Sintflut gewesen. Es gab zwei winzige quadratische Fenster in jeder Wand und zum Hof hin eine Tür. Vor wenigen Jahren hatte man erst ein richtiges Geschäft eingebaut, von außen zugänglich durch eine zusätzliche Tür. Obenauf saß wie ein Vogel im Nest ein Fachwerkgeschoss mit einem steilen Ziegeldach, mit verglasten Fenstern und einem Schornstein.
Magdalene war jetzt Herrin eines Haushalts, den sie noch nicht kannte und der viele Jahre lang gut ohne sie ausgekommen war. Magdalenes Füße wollten ihr nicht recht gehorchen und stehen bleiben wie die eines alten Weibes, das vom Gehen ausruht. Sie war noch nie hier gewesen, auch den bekannten Laden unweit der Saalebrücke hatte sie noch nie betreten. Nicht nur, dass die teuren Spezereien nicht von Bediensteten oder Unwissenden gekauft wurden, auch der Ruf des Händlers verhinderte den Besuch der neugierigen Mädchen. Herr Rehnikel war als komischer Kauz bekannt. Man wisperte hinter vorgehaltener Hand, er schließe sich abends in seine Kammer ein und braue Zaubertränke.
Er handelte mit allen Materialien, die ihm Gewinn brachten, er kaufte und verkaufte en gros. Im Laden allerdings bot Herr Rehnikel die Waren an, denen seine Vorliebe galt: den ausgefallenen Spezereien, seltenen Rinden, Wurzeln und Früchten. Herr Rehnikel war ein Liebhaber botanischer Seltenheiten. Sybille hatte ihr berichtet, dass man glaube, er wolle seine Schätze am liebsten behalten und gar nicht verkaufen; er wäre bloß von dem Wunsch getrieben, von allem und jedem ein Quäntchen zu besitzen, zu sammeln, um ein vollständiges Spektrum vorweisen zu können.
Georg Rehnikel führte Magdalene zu einer Tür links hinter dem eichenen Torflügel. Ein seltsam schwerer und würziger Geruch empfing Magdalene, als sie das Haus betrat. Es war derselbe Geruch, den sie an ihrem Mann bei der Verlobung wahrgenommen hatte. Herr Rehnikel wies mit der Hand auf die beiden anderen Türen im Erdgeschoss. »Da geht es in die Küche und auf der anderen Seite in den Laden. Das können wir uns morgen ansehen.«
Sie stiegen die Treppe hinauf ins Erkerzimmer, in dem ein kleines Kaminfeuer brannte. Vom Erkerfenster sahen sie herab auf die erleuchtete Straße und das Gewimmel vorm Gasthaus. Dort feierten die Hochzeitsgäste noch ausgelassen. Die Vornehmheit hinderte sie nicht, sich kräftig zu betrinken, einige grölten lautstark durcheinander. Magdalenes Onkel stand in der Tür und prostete jemandem zu. Es war eine klare, helle Nacht. Magdalene sah sein Gesicht, als stünde er mitten im Sonnenschein. Er lachte fröhlich und gelöst. Musikanten traten auf die Straße, einer fiedelte, einer stieß den Brummtopf. Die Leute begannen zu tanzen. Der Onkel erwischte einen Weiberarm, eingehakt sprang er wie ein Grünschnabel, in der Hand den Becher, aus dem die Gose schwappte.
Georg Rehnikel hielt noch immer Magdalenes Fingerspitzen. Mit dem anderen Arm fasste er sie und zog sie heran. Er kam ihr heute kleiner vor, seine runden grauen Augen sahen auf gleicher Höhe in ihre. Sein Mund näherte sich. Sie begriff, was er vorhatte, und senkte den Kopf. Seine Lippen trafen ihre Stirn.
Sie schwiegen lange. Magdalene hielt den Blick auf die Holzdielen geheftet, denn sie wollte nicht die Erste sein, die sprach. Sie hatten den Tag über keine Zeit gehabt, ein einziges Wort unter vier Augen zu wechseln. Herr Rehnikel nahm den Arm von ihrer Schulter.
»Wo ist Hans?«, fragte sie. »Man hat mir gesagt, dass sie den Hans hierher bringen würden.«
Georg Rehnikel nickte und wies mit der Hand auf eine Tür, die links der Eingangstür in einen weiteren Raum führte. Er ging vor, öffnete sie und schritt durch einen kleinen gefangenen Raum mit Schreibpult und Bücherschrank weiter in das nächste Zimmer. Das war das Schlafzimmer mit einem richtigen Kleiderschrank und zwei Truhen, einem großen Bett mit vier gedrechselten Säulen und einem Himmel aus Stoff.
Vor dem Fenster stand eine Wiege. Darin schlief tatsächlich Hans, ihr Sohn. Sie beugte sich über das Bettchen und strich ihm über die Wange. Sie hatte ihn den ganzen Tag nicht stillen können, ihre Brust spannte und sie war sicher gewesen, dass Hans vor Hunger schreien würde. Anna hatte sie noch am Morgen beruhigt und gesagt, dass sie sich keine Sorgen machen solle. Anna wusste alles über kleine Kinder, sie hatte ihm eine Milch gemacht und ihn am Abend hierher gebracht. Magdalene war verletzt, dass das Kind so lange ohne sie ausgekommen war. Sie hob es vorsichtig aus der Wiege. Es seufzte im Schlaf, ließ sich in den Arm nehmen und schlief weiter.
Herr Rehnikel stand hinter ihr. Er sah zu, wie sie mit dem Kind hinüberging in das warme Zimmer. Dort in der Nähe eines großen Erkers standen zwei gepolsterte Stühle. Auf einem von denen ließ sie sich nieder und wiegte das Kind. Georg Rehnikel setzte sich auf den zweiten Stuhl. Er schaute ein Weilchen zu, wie sie dem Kind über die Wange strich. »Seid Ihr müde?«, fragte er. »Möchtet Ihr schlafen gehen?«
Magdalene schüttelte den Kopf.
»Dann darf ich Euch noch ein bisschen Gesellschaft leisten.«
Sie schaute auf. »Es ist Euer Haus, ich kann Euch nicht daran hindern.«
Er atmete aus und ein, bevor er antwortete. »Es ist auch Euer Haus. Ihr seid jetzt meine Frau.«
»Wie konnte ich das vergessen.« Magdalene hörte sich selber sprechen und spürte, wie bitter es klang. Das war der einzige Klang, den sie für den Rehnikel zu verwenden gedachte.
»Magdalene, Ihr seid jetzt wirklich und wahrhaftig meine Frau. Ihr werdet in diesem Haus die Herrin sein. Das werdet Ihr doch nicht ablehnen, oder?« Er beugte sich aus seinem Stuhl vor.
»Natürlich nicht. Ich kenne meine Verpflichtungen.«
Herr Rehnikel atmete ein bisschen und wurde lauter. »Ihr hättet nicht Ja sagen müssen zu unserer Heirat. Ihr habt Ja gesagt. Da kann ich ein bisschen Freundlichkeit von Euch erwarten.«
Magdalene wurde auch lauter, und es brach mehr aus ihr heraus, als sie eigentlich gewollt hatte. »So? Meint Ihr? Was Ihr erwartet oder nicht, ist mir völlig egal. Ich jedenfalls hatte keine andere Wahl als Ja zu sagen. Deshalb braucht Ihr Euch keinerlei Hoffnung machen, dass ich Euch das Bett wärme. Deshalb habt Ihr mich eingekauft, nicht wahr? Für den Spaß, den man mit jungem Fleisch haben kann? Das könnt Ihr Euch schenken. Schließlich weiß alle Welt, dass Ihr mich bereits verführt habt. Geht ruhig schlafen, ich komme später.«
Herr Rehnikel sank in seinen Stuhl zurück und schlug die Augen nieder. Die Hände ballte er zur Faust und sagte keinen Ton. Er stand auf und ließ sie allein. Sie hörte ihn im Schlafzimmer hin und her gehen. Erst als es still war, ging sie ihm nach. Sie legte Hans in seine Wiege und zog das festliche Kleid aus.
Als sie unter das Deckbett kroch, sah sie kurz zu Georg Rehnikel hinüber. Der hatte sich zur anderen Seite gedreht und hielt die Augen geschlossen, aber sie spürte, dass er nicht schlief. Sie rollte sich ein und legte sich auf die andere Seite. Obwohl sie ihm den Rücken zudrehte, hörte sie jede seiner Bewegungen. Sie hatte mehr als neun Monate im selben Bett mit Jean de Morin geschlafen. Nie waren ihr seine Geräusche so aufgefallen wie die von Georg Rehnikel. Der atmete, seine Hand schabte über das Leinen des Bettzeugs, er drehte den Kopf. Sie versuchte vollkommen still zu liegen und flach zu atmen. Schlafen konnte sie nicht.
Gegen Morgen fiel sie in einen Schlummer, aus dem sie sofort erwachte, als Hans in seinem Bettchen einen ersten Ton von sich gab. Sie holte das Kind zu sich herüber und begann es zu stillen. Herr Rehnikel in ihrem Rücken schlug das Deckbett zurück. Er sagte leise: »Guten Morgen!« und stand auf. Er zog seine Kleider an, die gewöhnlichen, und ließ diese furchtbare Perücke weg. Magdalene schaute beim Stillen auf den kleinen Hans. Die Tür hinter ihr klappte, Herr Rehnikel trappte die Treppe hinunter. Sie hörte seine Schritte, die ein wenig schlurften, und dachte darüber nach, wie viele Jahre das jetzt noch so weitergehen mochte, bis sie endlich Witwe war und es hinter sich hatte.