Читать книгу Sie träumte von Liebe - Christina Bartel - Страница 3

Erstes Kapitel

Оглавление

Sie träumte von Liebe

Der leuchtend, weiße Mond stand hoch am Himmel über Los Angeles, Kaliforniern. Eine sternenklare Januarnacht neigte sich ihrem Ende zu. In wenigen Stunden würde die Sonne am Horizont aufgehen und den neuen Tag willkommen heißen.

In dieser wunderschönen Nacht folgten Steve und Joan in ihrem blauen Cabriolet dem Pacific Coast Highway, der kilometerlangen, kurvenreichen Küstenstrasse entlang des Pacific. Die meterhohen Felsen der Santa Monica Mountains auf der einen, der atemberaubende Blick auf den Ozean auf der anderen Seite.

Um drei Uhr in der Früh hatten sie die Party ihres gemeinsamen Freundes Tony verlassen und befanden sich inzwischen auf dem Rückweg von Ventura nach Los Angeles, wo sie ein neuer Studientag an der University of California at Los Angeles erwartete. Während Joan Ende des Monats das fünfte Semester ihres Marketingstudiums beendete, würde Steve im Sommer seinen Abschluss in Medizin machen.

Der kühle Januarwind wehte durch das heruntergekurbelte Fenster der Fahrerseite herein, wobei Joans lange, blonde Haare bei jedem Windzug flatterten. Sie hatte ihren Kopf gegen die Scheibe des Seitenfensters gelehnt, die Augen geschlossen und lauschte der Musik.

„Der Song ist Klasse“, sagte Steve und drehte das Radio lauter. Vergnügt stimmte er in das Lied ein. Lächelnd sah Joan ihren Freund an und obwohl sie den Text nicht einwandfrei konnte, begann sie ebenfalls zu singen.

Your Beautiful! Your Beautiful!”, sangen sie albern zu der lauten Musik und zum ersten Mal seit langer Zeit war Joan einfach nur glücklich. Die Anspannung, das Einsiedlerleben der vergangenen Monate fiel erstmals von ihren Schultern. Seit zwei Jahren kannten Steve und sie sich und vor eineinhalb Jahren waren sie als Paar in eine der Studentenbuden auf dem Campus gezogen. Obwohl Joan immer häufiger die Decke auf den Kopf fiel, was daran lag, dass Steve sich im letzten Studienjahr fast ausschließlich für seine Bücher zu interessieren schien, liebte sie ihn nach wie vor. Erst in der Neujahrsnacht vor einer Woche hatten sie gemeinsame Pläne für das neue Jahr geschmiedet. Es gab keine Zweifel daran, dass Steve sein Medizinstudium im Sommer bestand und wer wusste schon, was diesem jungen Mann wirklich im Kopf herumging? Er hatte immer gesagt, eine Hochzeit käme für ihn erst nach dem Studium in Frage, erinnerte Joan sich in diesen Minuten lächelnd...

„Ist der irre?“, rief Steve plötzlich inmitten der lauten Musik und stieg augenblicklich auf die Bremsen, als die grellen Scheinwerfer des entgegenkommenden Autos ihnen direkt in die Augen strahlten. Mit hoher Geschwindigkeit hielt das Auto auf ihrer Spur auf sie zu. Reifen quietschten, hinterließen schwarze Bremsspuren auf dem Asphalt. Steve riss das Lenkrad herum, doch in dem Moment änderte das andere Auto ebenfalls die Richtung und sie stießen mit voller Wucht zusammen. Die Motorhaube verschob sich in den Innenraum, quetschte ihre Körper ein. Wie Stoffpuppen wurden sie vor- und zurückgeschleudert, als ihr Auto auf Steves Seite gegen die Felsen krachte. Binnen Sekunden verloren sie die Besinnung.

Wo eben noch laute Musik zu hören gewesen war, herrschte nun eisige Stille. Wie ein Schleier hing die Ruhe über den Fahrzeugen. Es verging eine Viertelstunde, ehe ein Auto die Strasse entlanggefahren kam. Den beiden männlichen Insassen bot sich ein schreckliches Bild. Die Unfallwagen waren übel ineinander verkeilt, überall lagen Glassplitter und Teile der Autos herum.

Ohne Zögern sprangen beide Männer aus ihrem Fahrzeug und rannten zu dem näher liegenden Unfallwagen, einem Jeep, in dem ein etwa vierzigjähriger Mann eingeklemmt hinter dem Steuer saß. Aus tiefen Platzwunden in seinem Gesicht rann Blut heraus, die Augen standen weit offen. Vermutlich war die merkwürdige Verrenkung des Kopfes Schuld an seinem Tod.

„Dem können wir nicht mehr helfen“, sagte der Eine, nachdem er zur Sicherheit nach dem Puls des Verletzten gefühlt hatte. Derweil hatte sein Freund den Rettungsdienst informiert.

Eilig liefen sie um den Jeep herum, um nach den Insassen des zweiten Wagens zu sehen, doch das Gewirr von Blech war so schwer ineinanderverkeilt, dass die Männer an keine der Autotüren gelangen konnten.

„Die hat es arg erwischt“, sagte der Mann, der bereits nach dem Puls des Toten getastet hatte, als er im Schein der Scheinwerfer ihres eigenen Autos aus einigen Metern ins Wageninnere blickte und Steve in einem fürchterlichen Zustand über dem Lenkrad gebeugt liegen sah. Aus dessen Gesicht klafften tiefe Wunden. Joan dagegen hing seitlich in ihrem Sitz. Sie war sowohl von der rechten Autoseite als auch von der Motorhaube eingequetscht, die sich durch den Aufprall auf die Felsen in den Innenraum verschoben hatte.

„Denkst du, sie leben noch?“ Beide Männer starrten auf die zwei jungen Menschen.

Sein Freund zuckte mit den Schultern. „Sieht nicht gut aus...“

In dem Moment hörten sie Sirenengeheul näherkommen und innerhalb weniger Minuten hielten Krankenwagen und Polizei. Augenblicke später traf auch die Feuerwehr ein. Während die Polizisten die Männer befragten, die den Unfall gemeldet hatten, rannten die Sanitäter und der Notarzt zu den Unfallautos, um sich ein Bild von den Verletzungen der Insassen zu machen und bestätigten den Tod des Jeepfahrers.

„Von hier aus kommen sie nicht heran. Wir müssen erst den Jeep wegschaffen“, sagte der Leiter der Feuerwehr zum Notarzt und gab seinen Leuten ein Handzeichen.

Der Notarzt nickte. „Denken Sie, die Motorhaube hält mir stand?“

„Was schlagen Sie vor?“

„Wenn es mir gelingt nach dem Puls der beiden zu fühlen, kann ich Ihnen sagen, wie schnell Sie arbeiten müssen“, erklärte der Notarzt nüchtern.

„In Ordnung, aber sobald sich das Auto nur ein Stück rührt, kommen Sie sofort zurück“, sagte der Leiter der Feuerwehr im bestimmenden Ton, da er aus Erfahrung wusste, dass die kleinste Erschütterung den Zustand der Verletzten verschlimmern konnte. Noch waren sie sich nicht darüber im Bilde, wie schwer die beiden eingequetscht waren. Sie konnten gravierende Beinquetschungen oder Arterienverletzungen davongetragen haben, sodass sie innerhalb von Minuten verbluten würden, wenn sich der Druck veränderte.

Während die Feuerwehrmänner mit schwerem Geschütz herankamen, um den Jeep zur Seite zu heben, kletterte der Notarzt vorsichtig auf die Motorhaube von Steves Wagen. Er bewegte sich langsam und gleichmäßig voran, bis er vor der gerissenen Windschutzscheibe hockte. Dort beugte er sich vorsichtig vor, quetschte den Arm dicht an den Felsen vorbei ins zersprungene Seitenfenster und legte die Finger an Steves blutenden Hals.

„Der Junge ist tot!“, rief er zu den wartenden Männern hinüber.

„Und das Mädchen?“, fragte der Sanitäter, worauf der Notarzt seinen Arm aus dem Fenster zog und sich abermals langsam über die Motorhaube bewegte. Als er an der linken Autoseite angelangt war, hielten die Feuerwehrmänner mit ihrer Arbeit inne, sodass er auch dort seinen Arm durch das Seitenfenster strecken konnte. Mit angespanntem Arm legte er die Finger an Joans Hals.

„Sie lebt!“, rief er. „Aber ihr Puls ist kaum noch zu spüren.“

Von da an arbeiteten die Feuerwehrmänner zügig, doch mit größter Vorsicht, um Joan nicht noch mehr zu verletzen. Nachdem man den toten Mann aus dem Jeep geborgen hatte, trennten die Männer der Feuerwehr das Gewirr der beiden Autos und hoben mit Hilfe der Greifarme des Rettungskrans den Jeep einige Meter zur Seite. Daraufhin legte einer der Feuerwehrmänner eine Decke über die Reste des zersplitterten Seitenfensters, sodass sich der Notarzt nicht selbst die Arme aufschnitt, während er sich durch das Fenster ins Innere des Wagens lehnte und seine Patientin mit einer Infusion versorgte. „Beeilt euch, sonst stirbt mir das Mädchen hier weg!“

Die Feuerwehrmänner taten was in ihrer Verfügung stand, dennoch vergingen weitere zwanzig Minuten, ehe sie das Dach vollständig abgetrennt und die Seitentür herausgeschnitten hatten. Danach kam der schlimmste Teil; die Befreiung von Joans eingeklemmten Beinen.

Mit Sirenengeheul wurde Joan schließlich in das nächstliegende Krankenhaus nach Malibu gebracht, wo ein Ärzteteam für sie bereitstand und man schnell entschied, sie sofort zu operieren. Sie durften keine Zeit verlieren, da ihre Patientin neben dem hohen Blutverlust auch schwere innere Verletzungen davongetragen hatte.

Mitten in der Nacht wurden Brian und Rachel durch das Läuten des Telefons geweckt. Müde blickten sie auf den Wecker: Es war kurz nach fünf Uhr.

„Entschuldigen Sie meinen frühen Anruf, aber spreche ich mit Mr. Brian Farley?“, fragte eine junge Frauenstimme in einer geräuschvollen Kulisse.

„Ja, der bin ich“, sagte Brian noch im Halbschlaf.

„Sir, es geht um Mrs. Joan Farley.“

Augenblicklich setzte Brian sich im Bett auf. Er war hellwach. „Wer sind Sie? Was ist mit meiner Schwester?“

„Was ist mit Joan?“, fragte Rachel leise, doch Brian hob die Hand und brachte seine Freundin zum Schweigen.

„Mrs. Farley hatte einen Autounfall. Ein Rettungsteam hat sie aus dem Autowrack geborgen und zu uns ins Krankenhaus gebracht. Derzeit wird sie operiert“, sagte die Krankenschwester voller Anteilnahme.

Oh mein Gott. „Wird sie durchkommen?“, würgte Brian hervor.

„Sie hat sehr viel Blut verloren und schwere innere Verletzungen erlitten“, erwiderte die Krankenschwester. „Ich versichere Ihnen, die Ärzte werden alles für Ihre Schwester tun, Sir.“

„Ich komme, so schnell ich kann.“

Sowie das Gespräch beendet war, sprang Brian aus dem Bett und erzählte Rachel vom Unfall seiner Schwester, während er sich eilig anzog. Er hatte sich von der Krankenschwester die Adresse in Malibu geben lassen und wollte sofort losfahren.

„Warte einen Augenblick... ich fahre mit dir“, sagte Rachel geschockt.

Eine halbe Stunde später trafen sie in der Notaufnahme des Krankenhauses ein und fragten sich bei den Krankenschwestern durch, bis sie endlich eine Schwester fanden, die von dem Unfall gehört hatte.

„Mrs. Farley wird noch operiert. Der behandelnde Arzt wird zu Ihnen kommen, sobald die Operation beendet ist“, sagte sie freundlich.

Voller Anspannung warteten Brian und Rachel eine Stunde lang auf dem Gang vor dem OP-Bereich. Alle fünf Minuten stand Brian auf und ging ungeduldig den Gang auf und ab, bis Rachel ihn abermals bat, sich zu setzen.

„Ich halte diese Warterei nicht aus!“, sagte er plötzlich und sprang erneut auf. Verzweifelt fuhr er sich mit der Hand über seine kurzen Haare, den Hinterkopf hinunter in den Nacken.

„Es wird sicher nicht mehr lange dauern, Liebling“, versuchte Rachel ihn zu beruhigen und legte die Arme um seine Hüfte. Brian schloss die Augen und küsste zärtlich ihre Stirn.

„Ich werde meine Eltern anrufen.“

Rachel nickte. „Ich warte hier.“

Matthew und Isabelle Farley wollten soeben von Zuhause aufbrechen, als ihr Sohn sie in New York anrief und ihnen von dem schrecklichen Unfall ihrer Tochter erzählte, doch es war nicht viel, was er ihnen mitteilen konnte, sodass er versprach, sie wieder anzurufen, wenn er selbst Näheres von dem behandelnden Arzt erfahren hatte.

„Dr. Cooper“, stellte sich der Arzt eine halbe Stunde später mit festen Händedruck vor. Dr. Cooper war ein mittelgroßer, rundlicher Mann Mitte Vierzig, aus dessen schmalem Gesicht die viel zu große, schwarze Brille hervorstach.

„Doktor, wie geht es meiner Schwester?“

„Es grenzt an ein Wunder, dass Miss Farley den Unfall überhaupt überlebt hat.“ Er seufzte und rückte seine verrutschte Brille auf der kleinen Nase zurecht. „Neben drei gebrochenen und einigen angeknacksten Rippen, mehreren schweren Prellungen, einer Platzwunde am Kopf und dem gebrochenen linken Handgelenk, wurden ihre Leber, Lunge und Milz arg in Mitleidenschaft gezogen. Die Milz mussten wir entfernen, Leber und Lunge konnten wir vorerst ausreichend versorgen.“ Rachel drückte Brians Hand noch fester. Es schien, als sei kein Körperteil von Joan verschont geblieben, doch wenigstens lebte sie noch. „Zudem kommt, dass Sie noch immer im Koma liegt.“

Im Koma! Oh mein Gott!“ Rachel hielt sich die Hand vor den Mund und begann leise zu weinen. Brian, der neben ihr stand, legte seinen Arm um sie und zwang sich selbst zur Ruhe, was ihm erhebliche Mühe beriet.

Brian sah dem Arzt an, dass ihm solche Szenen zuwider waren. Er schien einer dieser Ärzte zu sein, die sich nur sehr wenig Zeit für die Angehörigen ihrer Patienten nahmen und ihnen kurz und bündig die Art der Verletzungen aufzählten.

„Wird... wird sie wieder aufwachen?“, fragte er mit glasigem Blick.

„Ihr Zustand ist nach wie vor kritisch. Wir müssen die nächsten Tage abwarten, dann kann ich Ihnen vermutlich genaueres sagen.“

„Dr. Cooper, Sie werden in Zimmer 32 benötigt“, sagte eine Schwester, worauf der Arzt nickte, ihr aber zu Brians Verwunderung nicht folgte.

„Mr. Farley“, fuhr Dr. Cooper an Brian gewandt fort. „...derzeit können wir nicht genau sagen, auf welche der Verletzungen das Koma zurückzuführen ist. Die Wahrscheinlichste ist die schwere Gehirnprellung, die ihre Schwester bei dem Unfall davongetragen hat. Der Neurochirurg hat das EEG geprüft und geht von keiner dauerhaften Schädigung des Gehirns aus, sodass Hoffnung besteht, wenn Mrs. Farley überlebt. Dennoch hat er eine zweite Operation erwogen, um den Gehirndruck zu lindern.“

„Warum haben Sie nicht gleich operiert?“, fragte Brian verständnislos.

„Wir befürchten, dass Ihre Schwester den Eingriff in Ihrem momentanen Zustand nicht überleben würde. Sobald die Werte stabil sind, werden wir uns nochmals über die Notwendigkeit einer Operation beraten.“

„Ich möchte, dass meine Schwester in ein Krankenhaus in L.A. verlegt wird, wo Ärzte sie behandeln, die derartige Operationen häufiger durchführen“, forderte Brian den Arzt auf.

„Mr. Farley, ich verstehe durchaus Ihre Bedenken, aber eine Verlegung wäre zum jetzigen Zeitpunkt unverantwortlich. Auf dem Weg hierher hatte Ihre Schwester einen Herzstillstand und während der Operation hätten wir sie ebenfalls beinahe verloren. Ich betone nochmals, wie kritisch Ihr Zustand ist. Einen Transport nach L.A. würde sie vermutlich nicht überleben.“

Als sie sich daraufhin von dem Arzt trennten und wenige Minuten später die Intensivstation betraten, wurden sie von einer Krankenschwester in einen separaten Raum geführt, wo sie in spezielle Kittel schlüpften. Brian versuchte sich vorzustellen, in welcher Verfassung sie Joan vorfinden würden, doch Joans Anblick stellte seine schlimmsten Vorstellungen weit in den Schatten. In einem Gewirr aus Verbänden, Schläuchen und Monitoren hätte er seine Schwester beinahe nicht wiedererkannt. Langsam, nicht ohne den Blick von Joan abzuwenden, ging Brian durch den Raum zu ihrem Bett und setzte sich auf den Hocker. Mit Tränen in den Augen betrachtete er seine jüngere Schwester, deren leichenblasses Gesicht aus dem dicken, weißen Verband heraussah. Eine lange Schürfwunde, die mittlerweile nicht mehr blutete, zierte die rechte Schläfe bis hinunter zur Wange, ihr gebrochenes Handgelenk war gestützt und in Verbände gehüllt worden. Die inneren Verletzungen waren von außen nicht ersichtlich, aber Brian wusste, dass sie einen erheblich Anteil an dem Zustand seiner Schwester beitrugen.

Brians Blick glitt zu dem Beatmungsgerät hinüber, das Joans Lungen mit dem lebenswichtigen Sauerstoff versorgten. Sein Herz verengte sich vor Schmerz... und Selbstvorwürfen. Er hatte die Verantwortung für seine Schwester gehabt. Er hatte seinen Eltern versprochen, auf sie Acht zu geben und nun lag sie mit schweren Verletzungen im Krankenhaus und kämpfte um ihr Leben. Brian schloss die tränenverschleierten Augen und ließ den Kopf auf das Laken neben Joans Hand sinken.

Rachel hatte sich bisher in den hinteren Teil des Zimmers zurückgezogen, doch als sie bemerkte, wie Brians Körper nach einem Moment kaum spürbar zuckte, trat sie zögernd hinter ihn und legte die Hand auf seine rechte Schulter.

Warum? Warum ausgerechnet sie?“, fragte er mit brüchiger Stimme.

„Ich weiß es nicht“, sagte Rachel mit Tränen in den Augen leise. „Aber sie wird es schaffen. Sie ist sehr stark.“

Brian nickte und legte seine Hand auf die ihre. Die Sorgen, die er sich Joans wegen machte, standen ihm nur allzu deutlich im Gesicht geschrieben. Er hatte furchtbare Angst, seine geliebte Schwester zu verlieren. Sein Ein und Alles - seine Seelenverwandte. Sie war ein Teil von ihm; eine Tatsache, die Rachel am Anfang ihrer Beziehung zu Brian nicht hatte akzeptieren wollen. Doch schon nach kurzer Zeit war ihr klargewesen, warum die beiden Geschwister ein so inniges Verhältnis zueinander hatten. Bereits in ihrer frühesten Kindheit hatten Brian und Joan sich einzig aufeinander und nicht auf ihre selbsternannten Freunde verlassen können, die zumeist nur aus zweierlei Gründen die Nähe der Geschwister suchten: der Ruhm und das Geld, in beides waren die Farleygeschwister hineingeboren worden. Während unzählige New Yorker Jungendliche sie darum beneideten, die einzigen Kinder - und damit Erben - von Matthew Farley, dem angesehenen Geschäftsmann und Gründer der Modekette Farleys, zu sein, sahen Brian und Joan ihr so genanntes Glück eher als unabwendbares Schicksal, dass sie ihr Leben lang begleiten würde.

Matthew Farley hatte mit einer handvoll Menschen und einem bescheidenen Budget das Modehaus Farleys in New York eröffnet und war seitdem unzähligen Steinen ausgewichen, die ihm zwischen die Füße geworfen wurden. Nun, fast dreißig Jahre später, war Farleys eines der drei größten Modehäuser in Amerika. Mit Filialen in London, Paris, Rom und Madrid waren sie in Europa noch ein Name unter vielen; ein Zustand, den Matthew Farley beabsichtigte in den nächsten Jahren zu ändern.

Bereits vor Brians Geburt gehörten Matthew und Isabelle Farley zur obersten Gesellschaft New Yorks. Die Anfangsjahre waren schwierig gewesen, da sie beide aus normalen Arbeiterfamilien stammten und sich erst in der High Society zurecht finden mussten, aber im Laufe der Zeit hatten sie sondiert, wer ihre wahren Freunde waren und wer nur hinter ihrem Geld her war. Nicht nur einmal hatte man versucht, Matthew geschäftlich auszuboten, doch er war noch heute mit dabei. Erst kürzlich wurde er von einer Journalisten eines angesehenen Magazins nach dem Grund dafür gefragt und er hatte geantwortet: "Niemand sollte den Ergeiz und das Durchhaltevermögen eines einfachen Arbeiters unterschätzen. Nur wer ein Unternehmen aufgebaut hat, die Höhen und Tiefen kennt, der weiß um die Existenz seines Lebenswerkes wirklich zu kämpfen."

Isabelle Farley hielt sich bereits seit vielen Jahren offiziell aus den Geschäften ihres Mannes heraus, beriet ihn lediglich im Hintergrund. Sie war es, die für die Presse zuständig war und somit sorgte Isabelle dafür, dass sie sich von Zeit zu Zeit auf einer der allabendlichen Partys oder Komitees sehen ließen, obwohl sie sich zumeist zu Tode langweilten. Ihr Herz gehörte ausschließlich den Benefizveranstaltungen, die die Farleys sehr gern mit ihrem Namen und einer großzügigen Spende vertraten. Dies weckte allgemein den Anschein nach einem äußerst luxuriösen Leben, doch was die wenigsten Menschen wussten, war, dass die Familie selbst eher bescheiden wohnte. Zwar besaßen sie ein Penthause mit Dachterrasse in der Fifth Avenue, das über zwei Etagen bewohnbar war, und ein Wochenendhaus in Brooklyn Heights mit direktem Blick auf den East River, doch die Einrichtungen waren längst nicht so exquisit wie es sich die meisten Leute vorstellten. Seit Jahren versuchten die hartnäckigsten Fotografen beide Domizile von innen ablichten zu können, aber Isabelles lehnte jegliche Anfragen vehement ab. Die Familie führte zwei strikt getrennte Leben und ihr Privatleben ging niemanden etwas an.

An diesem zurückgezogenen Leben, wie die Zeitungen es nannten, wollte die New Yorker Presse seit jeher teilnehmen. Vor ihrem Penthouse lauerten auch noch nach Jahren täglich Fotografen, deren Blitzlichtgewitter losging, sobald sich jemand von der Familie sehen ließ. Eine zeitlang hatte Matthew darauf bestanden, dass seine Kinder keinen Schritt ohne einen Bodyguard vor die Tür setzten, aber auch darüber gab es bald die wildesten Gerüchte. In den Klatschzeitungen erschienen die langweiligsten Bilder, dennoch erfanden die Journalisten erstaunliche Storys dazu. Unbekannterweise arbeiteten für Isabelle zwei Personen, die sich tagtäglich mit sämtlichen Zeitungen und deren Inhalt bezüglich der Familie Farley beschäftigten und wenn nötig die entsprechenden Leute zur Rechenschaft zogen. Sie waren es auch gewesen, die Isabelle vor einigen Jahren über Brians Drogenskandal unterrichtet hatten, noch ehe die Story gedruckt wurde. Es war lediglich ein getürktes Foto aufgetaucht, das Brian in einer Gruppe Junkies zeigte, und die Journalisten schrieben ihre Storys dazu, doch diese Geschichte war eine zuviel gewesen. Brian entschied sich gegen sein bisheriges Leben und beschloss sein Wirtschaftsstudium in L. A. weiterzuführen. Obwohl er seinen Eltern mit seinem Entschluss das Herz brach, mussten sie zugeben, dass sie ihren Sohn verstanden. Mit seinen zwanzig Jahren galt er als die männliche Partie New Yorks, gutaussehend und hinter seinem Namen verbürgten sich Milliarden.

Erst in Los Angeles hatte Brian wirklich zu leben begonnen. Es schien, als wäre er aus einem Käfig entflohen. Auf der anderen Seite des Landes kannte ihn niemand, sodass er nicht länger befürchten musste, von Fotografen verfolgt zu werden. Zum ersten Mal in seinem Leben konnte er tun und lassen was er wollte und es gefiel ihm. Nachdem er mit Auszeichnung sein Wirtschaftsstudium beendet hatte, bekam er im Anschluss daran bei Farleys eine Stelle. Für Matthew war seit jeher klar, dass sein Sohn eines Tages sein Lebenswerk übernehmen würde und ob er dies von New York aus oder L. A. tat, war einerlei.

Ein Jahr nach Brians Umzug an die Westküste lernte er Rachel Maldione bei einer Wohltätigkeitsveranstaltung in Los Angeles kennen. Vom ersten Moment an war er von der geborenen Italienerin fasziniert, die sich mit soviel Wärme für andere Menschen einsetzte. An jenem Abend unterhielten sie sich lange und angeregt. In den darauffolgenden Wochen sahen sie sich fast täglich, sie lernten einander kennen und lieben. Diese Liebe verband sie nun seit mehr als drei Jahren.

„Brian... Schatz?“, drang Rachels Stimme leise zu ihm durch, als er für einige Minuten seinen Erinnerungen nachgehangen hatte.

„Entschuldige“, sagte er und setzte sich in seinem Stuhl auf. „Ich dachte gerade daran, wie glücklich Joan und Steve gewesen sind... und nun so etwas.“

„In solchen Situationen wird uns wieder bewusst, wie schnell das Leben vorbei sein kann.“

Brian und Rachel blieben die ganze Nacht über im Krankenhaus. Während Rachel einige Stunden schlief, saß Brian unentwegt am Bett seiner Schwester, hielt ihre Hand und sprach leise zu ihr. Joans Zustand war nach wie vor bedenklich. In der Nacht hatte sie Fieber bekommen und man bezweifelte, dass sie überleben würde.

Nach einer zermürbenden Nacht auf der Intensivstation fand Brian am nächsten Tag endlich eine Krankenschwester, die in der Unfallnacht Dienst gehabt hatte. Er erhoffte sich, von ihr mehr Informationen zu erhalten, als das wenig Aufschlussreiche von Dr. Cooper.

„Wir haben nur sehr wenige Informationen erhalten, Sir“, sagte die junge Schwester mit Bedauern zu Brian und Rachel. „An dem Unfall waren zwei Autos beteiligt und anscheinend hat Miss Farley als einzige überlebt.“

„Wissen Sie, wer die anderen Personen waren?“, harkte Brian nach.

„Soweit ich hörte, zwei Männer. Ein etwa vierzigjähriger Mann und der junge Fahrer Ihrer Schwester, aber die Namen der Verstorbenen sind uns nicht bekannt.“

Steve...“, sagte Brian leise.

„Er muss nicht mit ihr gefahren sein“, wandte Rachel ein und dankte der Schwester, die mitfühlend nickte und sich diskret zurückzog.

„Rachel, ich kann ihn nicht erreichen. Ich habe mit Freunden von Joan und Steve telefoniert, die alle bestätigten, dass sie in der Unfallnacht gemeinsam eine Party verlassen haben.“

„Vielleicht ist er in ein anderes Krankenhaus geliefert worden“, sagte Rachel, die sich weigerte, an den Tod des Freundes zu glauben. „Wir sollten uns an die Polizei wenden.“

Ehe sie das Krankenhaus verließen, gingen sie im Schwesternzimmer vorbei und informierten die Intensivschwester darüber, dass sie vermutlich erst in einigen Stunden wiederkommen würden. „Sollte sich ihr Zustand verändern, dann rufen Sie mich bitte unter dieser Nummer an“, bat Brian und reichte der Krankenschwester seine Visitenkarte.

„Selbstverständlich, Mr. Farley.“

„Entschuldigung“, sagte der Pfleger, der soeben ins Zimmer gekommen war. „Sind Sie die Angehörigen von Mrs. Joan Farley?“

„Ja“, antwortete Rachel.

„Ist etwas mit meiner Schwester?“, fragte Brian erschrocken.

Der Pfleger zuckte mit den Schultern. „Sie möchten bitte in Dr. Coopers Büro kommen.“

Keine zwei Minuten später klopfte Brian an die Bürotür von Dr. Cooper und trat von Rachel gefolgt ins Zimmer.

„Gibt es neue Erkenntnisse was den Zustand meiner Schwester betrifft?“, fragte Brian den Arzt, ehe er sich auf dem ihn angebotenen Stuhl setzte. Rachel nahm neben Brian Platz und musterte den Arzt aufmerksam, der ihnen gegenüber hinter seinem Schreibtisch saß.

„Leider befindet sich Mrs. Farley noch immer in einem kritischen Stadium. Das Fieber konnten wir senken, doch um ehrlich zu sein...“ Er räusperte sich. „Es tut mir leid, aber ich kann Ihnen nicht viel Hoffnung machen. Die inneren Verletzungen sind schwerwiegend und der hohe Blutverlust lag weit über dem, was ein menschlicher Körper verkraften kann. Es grenzt an ein Wunder, dass Sie noch immer lebt.“

„Was soll das heißen, Doktor?“, fragte Brian mit zittriger Stimme. „Lassen Sie meine Schwester einfach so sterben?“

Dr. Cooper beugte sich auf seinem Schreibtisch vor. Die Hände verschränkt, sah er Brian eindringlich an. „Wir tun hier alles, um Ihre Schwester zurück ins Leben zu holen, aber nun sind wir an unsere Grenzen gestoßen. Ich kann nichts mehr für Sie tun. Jetzt liegt es an ihr zu kämpfen.“

„Sie sprachen davon, dass sie noch Tage im Koma liegen könnte...“

„Wir müssen sogar von Monaten oder gar Jahren ausgehen.“

Jahre...“, sagte Rachel leise.

„Angenommen sie wacht wieder auf. Wird sie dann wieder völlig gesund werden?“

„Das kann man im Einzelfall nicht genau sagen. Je länger ein Patient im Koma liegt, desto wahrscheinlicher sind Hirnschädigungen. Bei Ihrer Schwester kommt die schwere Gehirnprellung hinzu. Diese kann ohne schwerwiegende Folgen bleiben, oder aber häufige Kopfschmerzen, Gedächtnis- oder Verhaltensstörungen und schwere Lähmungen mit sich ziehen.“ Dr. Cooper sah Brian und Rachel mitfühlend an. „Sie müssen auf alles gefasst sein.“

Lähmungen, Gedächtnisausfall, Pflegefall.. Immer wieder hallten diese Worte in Brians Kopf umher, bis er aufspringen und laut schreien wollte.

„Mr. Farley...“, begann Dr. Cooper nach einem Moment des Schweigens. „Sie haben mich gestern nach Steve Baxter gefragt. Ich habe heute mit der Polizei gesprochen und erfahren, dass Mr. Baxter das Auto gefahren ist, in dem Ihre Schwester verunglückte.“

Entgeistert sah Brian den Arzt an. „Ist er schwer verletzt?“

„Diese Auskunft unterliegt meiner ärztlichen Schweigepflicht. Ich kann...“

„Er ist der Freund meiner Schwester“, fuhr Brian Dr. Cooper ins Wort. „Sie waren so gut wie verlobt.“

„Unter diesen Umständen sieht die Sache anders aus“, sagte Dr. Cooper im ruhigen Ton und rückte seine Brille auf der Nase zurecht. „Tatsächlich wurde Mr. Baxter in unser Krankenhaus gebracht, doch leider muss ich Ihnen mitteilen, dass er den Unfall nicht überlebt hat. Es tut mir sehr leid.“

„Oh Gott!“, sagte Rachel und schlug die Hand vor ihren Mund, als die Tränen ihr ins Gesicht schossen. Brian blickte geschockt und unfähig ein Wort zu sagen den Arzt an. Er konnte nicht glauben, was er soeben erfahren hatte. Er wollte nicht glauben, dass der junge Mann, mit dem er sich Morgen zum Joggen verabredet hatte, schon vor zwei Tagen gestorben war. Steve, fünfundzwanzig Jahre jung.

Wenige Minuten nach sechzehn Uhr rollte das Privatflugzeug von Matthew Farley über die Rollbahn. Die Limousine des Beverly Wilshire Hotels erwartete sie bereits. Es vergingen keine fünf Minuten, bis der Träger mit Hilfe des Chauffeurs die Koffer von Isabelle und Matthew im Kofferraum der Limousine verstaut hatten und sie sich zurzeit der Rushhour auf L.A.s volle Strassen begaben. Auf dem San Diego Freeway kamen sie nur stockend voran, sodass Isabelle ungeduldig auf ihre Armbanduhr blickte.

„Wie kannst du jetzt nur ans Geschäft denken?“, fragte Isabelle verständnislos ihren Mann, der in seinen Unterlagen las. Sie konnte nicht wissen, dass Matthew das Geschriebene drei- gar viermal lesen musste, da er sich nicht konzentrieren konnte.

„Die Arbeit lenkt mich von der Sorge um Joan ab.“ Liebevoll griff Matthew nach Isabelles unruhiger Hand, die soviel kleiner als die seine war, hob sie an seinen Mund heran und küsste ihre Fingerspitzen zärtlich. „Sie wird aus dem Koma erwachen“, sagte er davon fest überzeugt, als würde er ihre Gedanken kennen.

„Ich hoffe, du hast Recht...“

Matthew nickte und umschloss ihre Hand mit der seinen. Er wusste, wie sehr sie die Ankunft im Krankenhaus herbeisehnte. Seit Brians Anruf herrschte eine angespannte Stimmung zwischen ihnen, da Isabelle noch am selben Tag nach L. A. hatte fliegen wollen, Matthew jedoch aufgrund wichtiger Firmenverhandlungen verhindert gewesen war. So hatte Matthew ihren Flug um einen Tag verschoben. Obwohl er diesbezüglich keine andere Wahl gehabt hatte, waren seine Gedanken beinahe ununterbrochen bei Joan gewesen. Ebenso wie Isabelle sorgte Matthew sich um das Leben seiner einzigen Tochter. Gleich nach Brians Anruf hatte er im Schwesternzimmer des Krankenhauses angerufen und die Krankenschwestern angewiesen, ihn stündlich einmal telefonisch über Joans Zustand zu unterrichten.

Schwester Claire verließ mit dem neuen Verbandsmaterial gerade das Schwesternzimmer, als ihr zwei unbekannte Gesichter am Ende des Ganges entgegengelaufen kamen. Sie schätzte den hochgewachsenen, breitschultrigen Mann auf Ende Vierzig. Selbst in diesem Moment, in seiner wachsenden Sorge um einen nahen Angehörigen, sah er für sein Alter noch ungeheuer attraktiv aus; wobei sein volles, schwarzes Haar nur das I-Tüpfelchen war. Beim näher kommen sah sie, dass er einen perfekt geschnittenen schwarzen Anzug trug, der dazugehörige lange, schwarze Wintermantel hing über seinem linken Arm. An seinem anderen Arm hatte sich eine etwas kleinere Frau untergeharkt. Auch ihr sah man sofort an, dass sie nicht mit ihrem Geld sparen musste. Ihr weinrotes Kostüm war schlicht, doch allen Anschein nach nicht sehr preisgünstig gewesen. Es passte hervorragend zu ihren kurzen, braunen Haaren und rundete ihren sanftmütigen Körper ab, der über den Gang zu schweben schien. In ihrem ganzen Wesen strahlte die fremde Frau eine vertrauenswürdige, sehr warmherzige Aura aus. Sie gehörte eindeutig zu den wenigen Menschen auf dieser Welt, die man auf Anhieb sympathisch fand.

„Mr. und Mrs. Farley?“, fragte Schwester Claire, als sie einander gegenüberstanden und sah Matthew darauf kurz nicken.

„Wie geht es unserer Tochter?“, fragte er die Schwester. In seinem Blick lag etwas Seltsames, etwas, das ganz und gar nicht zu seinem Erscheinungsbild passte: Furcht. Es war der sorgenvolle Blick eines Vaters.

„Unverändert. Sie liegt auf der Intensivstation. Ich bringe Sie hin“

Schweigend folgten sie Schwester Claire den Gang hinunter zur Intensivstation. In einem Durchgangszimmer erhielten sie die grüne Schutzkleidung, dann wurden sie an geschlossenen Türen mit Glasfenstern vorbeigeführt, hinter denen die Patienten lagen. Schließlich blieb die Schwester vor einer der Türen stehen. Als Matthew und Isabelle durch die Glasscheibe ins Zimmer blickten und ihre Tochter auf dem Krankenbett inmitten der Geräte und Schläuche sahen, erschraken sie zutiefst. Die zitternde Hand vor dem Mund sah Isabelle zu ihrem Sohn auf, der am Bett saß und die Hand seiner Schwester hielt. Rachel stand etwas abseits mit dem Rücken zu ihnen am Fenster.

Schwester Claire spürte ihr zögern und ließ sie gewähren. Wenn sie sich an den Anblick gewöhnt hatten, würden sie von selbst ins Zimmer ihrer Tochter gehen. Leise öffnete Schwester Claire die Tür und trat ans Bett ihrer Patientin, um die Monitore zu überprüfen. Diesen Kontrollgang wiederholten die Schwestern alle fünf Minuten. Falls sich in der Zwischenzeit ihr Zustand veränderte, würden die Geräte sofort Alarm schlagen.

Als die Schwester das Thermometer in die Hand nahm, um Joans Temperatur abzulesen, hob Brian den Kopf und sah sie fragend an. „Es ist ein wenig gesunken“, sagte sie lächelnd und schrieb eine kurze Notiz in die Akte. Dann legte sie zwei der mitgebrachten, weißen Mullbinden auf den kleinen Tisch neben dem Bett und nahm die übrigen mit, ehe sie das Zimmer wieder verließ.

„Ich hole mir einen Kaffee. Soll ich dir eine Tasse mitbringen?“, fragte Brian seine Freundin und erhob sich von seinem Stuhl.

„Das kann ich doch machen“, erwiderte Rachel und drehte sich zu ihm um. „Bleib’ du bei...“ Sie verstummte, als sie Brians Eltern in der Tür stehen sah.

Augenblicklich wandte Brian sich um. „Mom!... Dad!“ Erleichterung stand in seinem Gesicht geschrieben. Er war froh, seine Eltern endlich in L. A. zu wissen. Hier bei ihrer Tochter, die noch immer nicht über den Berg war.

„Mom...“ Mit einer langen Umarmung begrüßte er seine Mutter, der Tränen in den Augen standen, und umarmte Matthew mit einem Schulterklopfen. „Schön, dass ihr da seid“, sagte Brian und trat näher ans Fenster, damit Rachel mit einer Umarmung und einem sachten Kuss auf die Wange seine Eltern ebenfalls begrüßen konnte.

Isabelle trat ans Bett und strich mit zittrigen Fingern über das leblose, vom Unfall gezeichnete Gesicht ihrer Tochter. Matthew stand neben seiner Frau und berührte Joans Hand.

„Die Schwester sagte, ihr Zustand sei unverändert“, kam es Matthew leise über die Lippen.

Brian nickte zustimmend. „Sie liegt noch immer im Koma.“

„Hast du mit dem Arzt sprechen können?“

„Dr. Cooper sagte, wir müssen abwarten, wie sie die nächsten Tage übersteht. Es ist ungewiss, wann sie aufwachen wird.“ Über Einzelheiten des Gesprächs mit Dr. Cooper hatte Brian seine Eltern am Telefon noch nicht aufgeklärt.

„Wird sie durchkommen?“, fragte Isabelle schluchzend.

Brian tat der kummervolle Blick seiner Mutter im Herzen weh. „Ihr Zustand ist kritisch. In der Nacht hatte sie hohes Fieber.“ Bemüht seine Fassung nicht zu verlieren, wandte Brian seinen Eltern den Rücken zu. „Ich weiß es nicht, Mom...“, sagte er mit feuchten Augen und blickte aus dem Fenster.

„Ich möchte mit dem Arzt sprechen. Ist er noch im Haus?“, wollte Matthew von seinem Sohn wissen.

Brian drehte sich zu seinem Vater um. „Soweit mir bekannt ist, ja.“ Doch er klärte ihn darüber auf, dass Dr. Coopers Zeit zumeist knapp bemessen war.

„Nun, er wird sich für mich Zeit nehmen müssen“, sagte Matthew mit bestimmter Stimme, da er nicht vorhatte, sich mit wenigen Worten abspeisen zu lassen.

„Wisst... wisst ihr schon, wie der Unfall geschehen ist“, fragte Isabelle, während sie sich die Augen mit einem Taschentuch trocken tupfte.

„Wir haben vorhin mit der Polizei gesprochen“, begann Brian. „Der Fahrer des anderen Wagens war betrunken und hat wohl immer wieder die Fahrspur gewechselt. Sie hatten keine Chance...“

Sie?“, fragte Matthew verwundert.

„Joan und Steve.“

„Steve war bei ihr im Auto?“

Brian nickte. „Die Polizisten sagten, dass er nur Sekunden zum Reagieren gehabt hätte, ehe die beiden Autos frontal aufeinander fuhren.“

„Ist er schwer verletzt?“, fragte Isabelle und bemerkte den merkwürdigenden Blick ihres Sohnes, den er mit Rachel wechselte. „Brian, wie schlimm ist es?“

„Mom“, sagte Brian leise und sah den leblosen Körper seines Freundes wieder vor sich, als er sich im Krankenhaus von ihm verabschiedet hatte. „Steve hat den Unfall nicht überlebt.“

Isabelle schloss die tränenverschleierten Augen. Unbewusst verstärkte sie den Druck auf Joans Hand, so als wollte sie ihr Kraft geben. Da spürte sie Matthews Hand auf ihrer Schulter.

Steves Verlust traf sie völlig unvorbereitet. Erst Weihnachten hatte sich die Familie, einschließlich Rachel und Steve, in New York getroffen, um die Feiertage miteinander zu verbringen. Trotz anfänglicher Abneigungen gegen die Wahl ihrer Tochter hatten Isabelle und Matthew Steve im vergangenen Jahr besser kennen gelernt und nach kurzer Zeit verstanden, warum Joan diese Wahl getroffen hatte. Steve war so ganz anders als die Männer, die sie aus New York kannte. Er lebte ein freies Leben; ein Leben, das Joan sehr schnell zu lieben lernte. Wann immer es Steves Zeit erlaubte, traf er sich mit seinen vielen Freunden oder ging abends auf deren Partys, doch dabei hatte er niemals sein Ziel, sein Medizinstudium bestmöglichst zu beenden, aus den Augen verloren. Steve, dessen Eltern ihr Leben lang für wenig Geld schwer gearbeitet hatten, kannte viele harte Seiten des Lebens und hatte sich geschworen in allen Dingen sein Bestes zu geben. Mit seinen fünfundzwanzig Jahren genoss er wie kein anderer Freund von Joan den Respekt, die Achtung und das Vertrauen von Matthew Farley. Matthew hatte Steve freundlich in die Familie aufgenommen und mit der Zeit war er zum Schwiegersohn in spe geworden.

Nachdem sie den ersten Schock über Steves Tod verkraftet hatten, ließen Matthew und Isabelle ihre Tochter ein letztes Mal in Brians Obhut, um mit dem behandelnden Arzt zu sprechen. Dr. Cooper war jedoch nicht gewillt seine Zeit mit den immergleichen Fragen einer Familie totzuschlagen. Gehetzt schüttelte er Matthew und Isabelle die Hand und informierte sie mit knappen Worten über Joans Zustand. Daraufhin wollte er sich von ihnen verabschieden, aber er hatte nicht mit einem Mann wie Matthew Farley gerechnet. Einem Mann, der es gewohnt war, dass man ihm zuhörte. Unter Geschäftsleuten galt Joans Vater als taktischer Mann, der seine Geschäfte mit viel Scharfsinn abschloss. In diesen Minuten war es jedoch die Angst in seiner Stimme, die Dr. Coopers eigentliches Vorhaben änderte.

Wie Brian einen Tag zuvor, klärte der Arzt Matthew und Isabelle ausführlich über die schweren inneren Verletzungen und den bedenklichen Zustand ihrer Tochter auf. Des Weiteren erläuterte Dr. Cooper die möglichen Folgen des Komas, hielt aber von Spekulationen abstand, die die Verfassung seiner Patientin betraf, wenn sie aufwachen sollte. Der Hoffnungsschimmer, das dies trotz Joans schlechter allgemeiner Verfassung eintrat, war schwindend gering, doch es war das Einzige, woran sie sich in diesen Stunden klammerten.

Tagelang sah Brian zu, wie Joan um ihr Leben kämpfte. Das Fieber stieg und fiel im Wechselschritt, sodass niemand mehr eine Prognose über ihre Chancen stellen wollte. „Es liegt in Gottes Hand“, hatte die afroamerikanische Krankenschwester zu Brian gesagt und zum ersten Mal in seinem Leben bereute er, dass es ihm an Gottesvertrauen fehlte.

„Ich kann mich nicht daran erinnern, wann ich zuletzt einen Angehörigen gesehen habe, der Tag und Nacht am Bett einer Komapatientin gewacht hat“, sagte Schwester Claire betrübt zu ihrer Kollegin, als sie im Beobachtungsraum standen und durch die Glasfront Brian Farley am Bett seiner Schwester sitzen sahen. „Noch dazu mit solch einem Job. Ich hörte, er sei die rechte Hand des Filialleiters von Farleys in L.A. und anscheinend gefällt es einigen Leuten nicht, dass er hier ist.“

Schwester Betty zuckte mit den Schultern. „Der PR wegen wird er es nicht tun. Seit sie bei uns ist, hat sich kein Fotograf blicken lassen.“

„Ich glaube, dafür hat er gesorgt...“

Während die Krankenschwestern gegenüber Matthew und Isabelle zumeist reserviert auftraten, waren sie zu Brian und Rachel äußerst freundlich. Die beiden Schwestern, die sich um Joan kümmerten, hatten ihnen angeboten, sich jederzeit Kaffee oder Tee aus dem Schwesternzimmer zu nehmen.

Auch nach einer Woche hatte sich Joans Zustand nicht verändert. Ihre Werte hatten sich laut Dr. Cooper zwar stabilisiert, doch sie war noch immer nicht aus dem Koma erwacht. Wie der Arzt verlauten ließ, bestand weiterhin Grund zur Hoffnung, da Joan eine Woche nach dem Unfall noch immer lebte. Das Koma war eine Schutzmaßnahme des Körpers, um zu genesen. Je nach schwere der Verletzungen konnte ein Mensch über Wochen, Monate oder gar Jahre im Koma liegen. Niemand konnte voraussagen, wie lange dieser Zustand bei Joan andauern würde.

Brian, der sich in der Vergangenheit schwer in Geduld geübt hatte, saß stundenlang am Bett seiner Schwester und dachte über das Leben nach. Er hielt Joans Hand und redete mit ihr, ungeachtet dessen, ob sich eine der Schwestern im Raum befand oder sie allein waren.

„Manchmal würde ich gern die Zeit zurückdrehen. Wir hatten früher soviel Spaß miteinander.“ Brian seufzte leise und stützte die Ellenbogen auf dem Bett ab. Den Kopf lehnte er müde dagegen. Er schwieg einige Minuten und lauschte dem leisen Piepsen, das von einem der Geräte herführte. Ansonsten war es im Zimmer still. „Erinnerst du dich...“, begann er schließlich leise. „...wie wir Mom und Dad als Kinder zu Weihnachten erschreckt haben, als über Nacht plötzlich die Geschenke unter dem Weihnachtsbaum verschwunden waren? Sie dachten, es wären Einbrecher gewesen, dabei hatten wir die Geschenke versteckt.“ In Erinnerung an jenes Weihnachtsfest aus seiner Kindheit musste Brian lächeln. „Sie haben nie wieder die Geschenke einen Tag vor Weihnachten unter den Baum gelegt.“ Er griff nach dem kleinen Behältnis mit Wasser auf dem Nachtschrank und tupfte Joan mit dem nassen Wattebausch die trockenen Lippen feucht.

„Mr. Farley, wollen Sie nicht nach Hause fahren? Es ist bereits nach Mitternacht“, sagte Schwester Claire bei ihrem nächsten Kontrollgang zu Brian.

„Nein... Ich möchte sie die Nächte über nicht alleine lassen“, antwortete Brian wie jeden Abend der vergangenen sieben Tage.

Voller Verständnis sah Claire ihn an. „Ich weiß, ich kann Sie nicht zum Gehen überreden. Aber dann lassen Sie mich wenigstens eines sagen“, bat sie ihn. „Ich finde es toll, dass Sie sich so um Ihre Schwester kümmern.“

„Wir sind Seelenverwandte. Sobald einer von uns leidet, leidet der andere mit ihm.“ Man sah ihm seinen Kummer in den traurigen Augen an. Die Sorge um seine Schwester beschäftigte ihn rund um die Uhr, sodass er nachts nur wenige Stunden Schlaf fand.

„Es gibt nicht viele Angehörige wie Sie...“

Vorsichtig hob er Joans Hand, in der eine Kanüle steckte, und führte sie dicht an seinen Mund hinauf. Liebevoll küsste er ihre Finger. „Das ist das Mindeste, was ich für sie tun kann. Bei ihr sitzen und mit ihr sprechen...“

„Es ist mehr, als die meisten Menschen in Ihrer Situation tun würden. Viele kehren in ihr eigenes Leben zurück und erinnern sich erst sehr viel später wieder an den Angehörigen“, sagte sie betrübt.

„Das ist nicht meine Art“, erwiderte Brian traurig. Niemals könnte er seine Schwester im Krankenhaus allein zurücklassen, um sein altes Leben fortzuführen. Es wäre, als würde er sie im Stich lassen, als würde er nicht mehr an ihre Genesung glauben. Er konnte sie nicht einfach so aus seinem Leben streichen, sie und ihren Zustand ignorieren und dann plötzlich wieder auftauchen, wenn sie zu sich gekommen war. Eines stand für ihn fest: Egal, wie lange Joan im Koma liegen mochte, niemand, absolut niemand würde ihn von seinen täglichen Besuchen bei ihr abhalten können.

Dennoch war ihm bewusst, dass es nicht so weiterging. Seit einer Woche saß er Tag und Nacht an Joans Bett und hatte das Krankenhaus nur verlassen, um heimzufahren, zu duschen und sich frische Kleidung anzuziehen. Außer Joan gab es für ihn nichts. Rachel beschwerte sich wegen seiner knapp bemessenen Zeit nie bei ihm, aber Brian spürte, dass sie seine nächtlichen Aufenthalte im Krankenhaus nicht mehr gern sah. Sie wollte ihn eine zeitlang für sich allein haben, selbst wenn es nur eine Stunde am Tag war.

Neben der Vernachlässigung seiner Freundin, musste Brian sich dazu zwingen an seine Verpflichtungen bei Farleys zu denken. Er konnte seinem Vorgesetzten nicht ewig mit seiner Rückkehr ins Geschäft hinhalten. Auch wenn ihm eines Tages zur Hälfte das Modehaus Farleys gehören würde, so war er wie jeder andere Mitarbeiter angestellt und konnte seinen Job verlieren.

Während Brian darüber nachdachte, wie er seine zeitaufreibende Arbeit, Rachel und die Besuche bei seiner Schwester unter einen Hut bekommen sollte, legte er den Kopf auf seinen verschränkten Armen auf die Bettdecke. In seiner Grübelei versunken, schloss er die Augen und schlief bald darauf ein.

Am Morgen darauf brach auf der Intensivstation das gewohnte Treiben aus. Inmitten des Trubels schlief Brian mit dem Oberkörper auf dem Bett. In der Nacht hatte Schwester Claire ihn schlafend vorgefunden und ihm eine Decke über den Körper gehangen.

Bei ihrem routinemäßigen Rundgang betrat Schwester Betty Joans Zimmer und wechselte leise die Infusion aus, als plötzlich lautes Piepsen den Raum erfüllte. Augenblicklich schrak Brian aus seinem Schlaf hoch und sah mit angstvoller Miene zu Joan hinüber.

„Es ist alles in Ordnung, Mr. Farley“, beruhigte die Schwester ihn sofort. „Ich habe nur die Infusion gewechselt. Tut mir leid, dass ich Sie dadurch geweckt habe.“

Müde fuhr Brian sich mit den Händen übers Gesicht. „Wie geht es ihr?“, fragte er, als die Schwester die Geräte überprüfte.

„Unverändert.“ Sie beobachtete, wie Brian sich über Joans Gesicht beugte und ihr zur morgendlichen Begrüßung einen sanften Kuss auf die Stirn gab. „Ihre Verletzungen brauchen Zeit, um zu heilen. Haben Sie Geduld mit Ihrer Schwester.“

„Geduld war bisher nicht seine Stärke“, sagte Rachel lächelnd, die soeben ins Zimmer getreten war. „Hallo Liebling“, begrüßte sie Brian mit einem zärtlichen Kuss auf den Mund, während Schwester Betty sich aus dem Zimmer zurückzog.

„Schatz, hallo. Was machst du denn so früh hier?“, fragte er verwundert.

„Mein Termin wurde abgesagt. Ich dachte, du freust dich vielleicht.“

„Das tue ich, entschuldige.“ Er lächelte und stand von dem Stuhl auf. „Setz dich und sag Joan hallo.“

„Brian... ich kann das nicht“, sagte sie zögernd.

„Was meinst du?“

„Ich bin nicht wie du. Ich kann mich nicht stundenlang an ihr Bett setzen und zu ihr sprechen. Trotz alledem was die Ärzte gesagt haben, ich glaube nicht, dass sie uns hören kann.“

„Du hältst meine Gespräche also für sinnlos?“, fragte er verletzt.

„Liebling, nein... So habe ich das nicht gemeint.“ Sie stockte, wählte ihre Worte mit Bedacht. „Wenn du davon überzeugt bist, dass deine Stimme sie zu uns zurück bringen kann, dann sprich mit ihr. Bereue es nicht später.“

„Hältst du mich für verrückt, weil ich ihr immerzu etwas erzähle?“, fragte Brian ernst.

„Im Gegenteil. Ich bewundere dich dafür.“ Zärtlichkeit lag in ihrer Stimme. „Ich bewundere deinen Optimismus, deine Hoffnung...“ Tränen stiegen in ihre Augen. „Ich würde alles dafür geben, wenn ich dasselbe empfinden könnte, aber schau sie dir an“, sagte sie mit tränenerstickter Stimme und sah zu Joan hinunter, deren Körper nach wie vor durch Schläuche mit den Geräten verbunden war. „Ohne das alles wäre sie doch längst nicht mehr bei uns...“

„Sag so etwas nicht, Rachel“, bat er mit brüchiger Stimme, worauf sie zu ihm aufblickte und in seinem Gesicht ihre eigene Verzweiflung wiedererkannte. Er trat zu ihr und zog sie wortlos in seine Arme. Minutenlang hielten sie sich mit den Armen umschlossen.

„Jetzt heule ich schon am frühen Morgen“, sagte Rachel schließlich lächelnd und schniefte in ein Taschentuch.

Brian lächelte schwach und fuhr ihr sanft über den Arm. „Kann ich etwas für dich tun?“ Erst in Rachels Armen war ihm wieder bewusst geworden, dass er in den vergangenen sieben Tagen kaum an sie gedacht hatte, so sehr war er mit Joan beschäftigt gewesen.

„Vielleicht könntest du heute Nacht in unserem Bett schlafen.“ Sie spürte, wie Brian einen Moment lang zögerte.

„Okay.“ Zärtlich küsste er ihre Stirn.

„Danke“, hauchte sie an seiner Wange. „Ich gehe mich frisch machen. Kann ich dir etwas mitbringen? Einen Kaffee vielleicht?“

„Sehr gern.“

Eine Viertelstunde später kehrte Rachel an die Tür zu Joans Zimmer zurück und klopfte gegen die Glasscheibe, damit Brian hinauskam.

„Mhm, der tut gut“, sagte Brian nach dem ersten Schluck entspannter. „Wie geht es deinen Kindern?“, fragte er Rachel, die als Psychologin in einem Heim in Los Angeles arbeitete, das sich um misshandelte und missbrauchte Kinder und Frauen kümmerte. Vor eineinhalb Jahren war sie zur Leiterin des Heims ernannt worden und somit für die Organisation von Präsentationen und Ausstellungen sowie für die Suche nach neuen Spendern zuständig. Die Organisation „Hilfe für Kinder in Not“ hatte in allen größeren Städten von Amerika ihre Einrichtungen, in Los Angeles führten die einzelnen Fäden zusammen. Ein Team um Rachel herum verwaltete die Spendengelder und prüfte, wo diese am Dringendsten benötigt wurden.

„Ich glaube, besser als dir“, sagte Rachel ehrlich, da ihr die dunklen Ringe unter seinen Augen Sorgen machten. „Ich muss dich für einige Tage allein lassen. Wir haben eine Schenkung für San Fransisco erhalten. Der Spender ist Schauspieler und möchte die Übergabe mit Presse und Fernsehen abwickeln.“

„Eine nette Geste mit persönlichen Hintergedanken“, sagte Brian spitz.

„Brian, wir sind für jeden Dollar dankbar und nicht alle Spender wollen so geheimnisvoll wie Farleys behandelt werden.“

„Mein Vater rühmt sich eben nicht gern mit seinem Geld. Für ihn sind andere Qualitäten wichtiger.“

„Und deshalb mag ich ihn“, sagte Rachel lächelnd. „Um auf meine Reise zurückzukommen. Ich hatte vor im Anschluss an San Fransisco nach Washington zu fliegen, um mir den Umbau des Hauses anzuschauen und mit den Bauleuten zu sprechen. Meinst du, du kommst solange ohne mich zurecht?“ Sie hatte Verpflichtungen, aber in diesen Tagen ließ sie Brian nur ungern allein. Wenn sie nicht da war, würde er ununterbrochen an Joans Bett sitzen und kaum etwas zu sich nehmen.

„Ich komme klar. Wann fliegst du?“, fragte er, den Blick durch die Glasscheibe auf seine Schwester gerichtet.

„Dieses Wochenende.“ Das war in drei Tagen.

Brian trank den Rest seines Kaffees und warf den Becher in den Mülleimer neben ihm.

„Liebling, vielleicht solltest du dich nachher im Geschäft melden...“, begann Rachel vorsichtig, da sie wusste, was er davon hielt. „Brenda rief mich heute Morgen an und gesagt, dass einige wichtige Termine anstehen, die du unbedingt wahrnehmen müsstest.“

„Sie ist meine Sekretärin. Sie sollte sie umlegen können...“

„Brian, sie kann nicht alles...“

„Ich weiß, Schatz“, unterbrach er Rachel und wandte den Blick von Joan ab. Liebevoll legte er seine Hände an ihre Hüfte und sah sie sanft an. „Es tut mir Leid, Liebling. Ich weiß, ich war in den vergangenen Tagen schwer zu ertragen.“

„Du sorgst dich um Joan, das ist doch verständlich.“

„Aber beinahe hätte ich dich dabei vergessen.“ Seine Hände fuhren ihren Rücken hinauf, sein Gesicht kam dem ihren näher und dann küsste er sie zärtlich. „Ich liebe dich, Rachel.“

„Ich liebe dich auch“, flüsterte sie und genoss den Moment der Zweisamkeit. Dann löste sie sich ein wenig von ihm und sah mit betrübtem Blick zu Joan hinüber. „Mach’ dir nicht so viele Sorgen um sie. Die Ärzte tun ihr Möglichstes, damit sie wieder zu uns zurückkehrt.“

„Ich frage mich die ganze Zeit, was dann sein wird“, sagte Brian unsicher. Ebenso wie er sich darauf freute, dass seine Schwester aufwachte, so hatte er auch Angst davor. Bisher war es ihm relativ gut gelungen die Gedanken an mögliche Lähmungen, Gedächtnisbeeinträchtigungen oder Veränderungen ihres Gehirns nicht an sich heranzulassen, aber von Tag zu Tag wurden gerade diese Auswirkungen des Komas immer wahrscheinlicher. Wenn Joan aufwachte und feststellte, dass sie gelähmt war... Wenn sie ganz einfache Dinge, wie essen, schreiben oder den Gang zur Toilette neu erlernen musste. Wenn sie sich nicht mehr an ihre Familie und Freunde erinnerte. Vielleicht nie wieder mit ihm lachte. Er wollte nicht darüber nachdenken. Es schmerzte zu sehr.

Mitte Januar fand der Trauergottesdienst für Steve in einer kleinen, unscheinbaren Kirche in L. A. statt. Als Brian, in seinen schwarzen Mantel gehüllt, nach seinen Eltern und Rachel in die Kirche getreten war, sah er bekümmert den braunen Sarg auf dem kleinen Altar stehen. Sein Blick glitt zu dem großen Foto davor, auf dem Steve ihnen lächelnd entgegensah. Brians Kehle verengte sich. Unwillkürlich musste er an Joan denken. Falls sie je aus dem Koma erwachte, würde sie nie die Chance bekommen sich von Steve zu verabschieden. Bemüht nicht an den möglichen Tod seiner Schwester zu denken, folgte Brian seinen Eltern und setzte sich neben Rachel in die zweite Reihe.

Alle Freunde von Steve waren gekommen. Sie saßen schweigend und unter Tränen auf den Bänken hinter den Verwandten, hielten einander an den Händen und reichten sich gegenseitig Taschentücher. Ihren jungen Gesichtern war der Verlust des Freundes anzusehen.

Vom Schmerz gezeichnet kamen Steves Eltern den Gang entlang. Mr. Baxter stützte seine Frau, als sie langsam durch die Kirche gingen und ihre Plätze in der ersten Reihe einnahmen. Voller Trauer um ihren Sohn weinte Mrs. Baxter während des gesamten Gottesdienstes. Jeder der Anwesenden hörte ihr lautes Schluchzen. Tröstend hatte ihr Mann einen Arm um sie gelegt, doch an seiner Haltung sah man, wie schwer es auch ihm fiel, seinen Sohn in dem Sarg vor ihnen liegen zu sehen. Der Tod seines einzigen Kindes traf ihn völlig unerwartet. Niemals hatte er geglaubt, dass sein Sohn vor ihnen die Welt verlassen würde.

Nachdem die letzten Töne von „Amazing Grace“ verklungen waren, wurden alle zum Altar gebeten, um von Steve Abschied zu nehmen. Nacheinander traten Steves Freunde vor, viele von ihnen weinten. Während sie ihre Blumen auf seinen Sarg legten, hörte man einige leise sagen: „Ich werde dich vermissen.“ oder „Du warst ein guter Kumpel.“ Bedrückt und mit gesengten Köpfen verließen sie die Kirche.

Schließlich standen Matthew und Isabelle auf und legten einen großen Strauß weißer Rosen zu den übrigen Blumen. Unter Tränen berührte Isabelle den Sarg und ließ sich von Matthew aus der Kirche führen. Sie hatten den Freund ihrer Tochter sehr gemocht und litten unter seinem tragischen Tod. In naher Zukunft wäre Steve ihr Schwiegersohn geworden.

„Joan hat dich sehr geliebt“, sagte Brian leise und blickte auf den mit Blumen bedeckten Sarg, indem sein Freund lag. „Egal, wo du bist, Steve... versprich mir, dass du sie nicht zu dir holst.“ Brian schloss einen Augenblick lang die Augen. Einzelne Tränen rannten über seine Wange. Als er die Augen wieder öffnete, spürte er Rachel dicht neben sich stehen. Er umschloss ihre Hand mit der seinen und wandte sich vom Altar ab. Seinen Arm um Rachels Hüfte gelegt, liefen sie schweigend den Gang entlang und traten hinaus an die frische Januarluft. Ein leichter Wind wehte über sie hinweg.

Am Rande des Parkplatzes erkannte Brian eine Gruppe junger Leute, die zuvor beim Gottesdienst gewesen waren. Manche rauchten eine Zigarette, während sie sich angeregt unterhielten. Worüber sie sprachen konnte Brian nicht verstehen, aber er vermutete richtig, dass Steve im Mittelpunkt stand. Vermutlich erzählten sie einander von ihren Erlebnissen mit ihm. Da er allgemein beliebt und für jeden Spaß zu haben gewesen war, gab es wahrscheinlich jede Menge zu erzählen.

Brian hätte sich gern zu der kleinen Gruppe gesellt, um seine Geschichten über Steve auszuplaudern und ihn so in Erinnerung zu behalten, doch Mr. und Mrs. Baxters luden sie in ein ruhig gelegenes Restaurant ganz in der Nähe des Friedhofes ein. Bei Tisch wurde kaum ein Wort gewechselt. Es gab kein passendes Thema, dazu war die Stimmung zu gedrückt.

Vom Restaurant aus fuhren Isabelle, Matthew und Brian ins Krankenhaus, um nochmals nach Joan zu sehen. Bekümmert saß Isabelle am Bett ihrer Tochter und betrachtete sie mit Tränen in den Augen. Der Besuch im Krankenhaus fiel ihr an diesem traurigen Tag besonders schwer. Sie fühlte mit Mrs. Baxter und trauerte um Steve, den sie sehr lieb gewonnen hatte.

Matthew dagegen machte die lange Warterei wahnsinnig. Er konnte nicht länger zusehen, wie seine Tochter leblos im Bett lag und darauf warten, dass sich ihr Zustand veränderte. Er wollte etwas tun. Er wollte seiner Tochter helfen. Diese sinnlose Warterei brachte ihn zum Nachdenken und je mehr er grübelte, desto schmerzhafter wurden seine Gedanken. Immer wieder stürzten dieselben Fragen auf ihn ein: Wie lange würde sie wohl noch im Koma liegen? Würde er seine Tochter ebenfalls zu Grabe tragen müssen oder hatte sie Glück und überlebte ihren schweren Unfall? Doch wenn sie überlebte, in welchem Zustand befand sie sich dann? Wie sähe ihr Leben dann aus? Gedächtnisverlust? Lähmungen? Würde sie zum Pflegefall werden? Die Reihe der unbeantworteten Fragen war endlos und ließ Matthew kaum zur Ruhe kommen. Die Grübelei ließ ihn immer verzweifelter werden.

Sichtlich unwohl ging Matthew durch den Raum zu seinem Sohn, der am Fenster stand, und legte die Hand auf dessen Schulter. „Begleitest du mich in den Park?“, bat er seinen Sohn, der darauf nickte. „Wir bleiben nicht lange, Liebling“, sagte Matthew zu seiner Frau, berührte sachte ihre Hand und folgte dann Brian auf den Gang hinaus. Schweigsam verließen sie nebeneinander die Intensivstation und gingen die Gänge des Krankenhauses entlang. Am Hinterausgang traten sie durch die doppelseitige Glastür hinaus ins Freie und folgten langsam den Sandwegen des kleinen Parks.

Es war Brian, der nach einer Weile zu erzählen begann. „Gestern Abend habe ich Joan Geschichten aus unserer Kindheit erzählt. Wir hatten soviel Spaß miteinander. Ich erinnere mich an ihr frohes Lachen, an ihre leuchtend, blauen Augen.“

Matthew lächelte. Genau diese blauen Augen waren jedes New Yorker Weihnachtsfest riesengroß geworden. Neugierig hatte sein kleines Mädchen ihre Geschenke ausgepackt. Ihre Augen hatten zu leuchten begonnen, wenn sie eine Puppe in ihre Arme schloss oder ihr erstes Fahrrad aus der Packung hüllte. Stolz hatte Matthew sie dabei beobachtet.

„Es ist sehr schwer für mich, deine Schwester dort drinnen liegen zu sehen“, gestand Matthew seinem Sohn. „Zu wissen, dass ich nichts für sie tun kann... bricht mir das Herz.“

Brian verstand nur zu gut, was sein Vater meinte. „Manchmal bedrückt mich ihr Anblick so sehr, dass ich aus ihrem Zimmer fliehen muss. Dann gehe ich hier im Park spazieren und ordne meine Gedanken.“

„Ich will sie nicht verlieren...“

„Wir werden sie nicht verlieren, Dad. Sie wird wieder aufwachen.“ Davon war Brian vollkommen überzeugt. Er bemühte sich, jegliche Gedanken, die zwangsläufig mit dem Tod seiner Schwester zusammenhingen, zu verdrängen. Für ihn stand fest, dass sie aufwachte. Es war nebensächlich, wann sie ins Leben zurückkehrte und in welchem Zustand sie sich dann befinden würde. Seine Liebe zu ihr würde nie geringer werden.

Am nächsten Tag brachte Brian seine Eltern und Rachel zum Flughafen. Sie würden fast zur selben Zeit fliegen, nur ihr Ziel war ein anderes. Zuerst verabschiedete sich Brian von Rachel, die in einigen Tagen zu ihm zurückkehren würde, dann begleitete er seine Eltern zu ihrem Flugzeug.

„Du weißt, dass wir nur ungern zurück nach New York gehen... Dr. Cooper sagte, wir können nichts für sie tun“, erklärte Isabelle mit Tränen in den Augen zu ihrem Sohn.

Enttäuscht sah Brian seine Mutter an. Er wusste von Matthews dringender Abreise, da dessen Anwesenheit in New York benötigt wurde, doch hatte er gehofft, dass zumindest seine Mutter noch eine Weile in Los Angeles bleiben würde.

„Du könntest dich zu Joan setzen und ihr etwas erzählen...“

„Schatz, ich glaube nicht, dass sie mich hören kann.“ Liebevoll strich sie ihm mit der Hand über die Wange, beugte sich zu ihm und hauchte einen Kuss auf seine Wange. „Wir telefonieren jeden Tag miteinander. Ich werde bald wiederkommen“, versprach sie ihrem Sohn. „Pass gut auf sie auf.“

„Das werde ich, Mom“, sagte er leise und umarmte seine Mutter zum Abschied ein letztes Mal. Schließlich sah er zu, wie ihr Flugzeug langsam auf das Rollfeld fuhr und kurz darauf in Richtung New York startete. Zum ersten Mal in seinem Leben fühlte Brian sich einsam und alleingelassen.

Die Tage vergingen, ehe sie richtig begonnen. Während Matthew und Isabelle mit der Sorge um ihre gemeinsame Tochter in New York bemüht waren, ihren Verpflichtungen weitgehend nachzukommen, hatte auch Brian wieder zu arbeiten begonnen. Abwechselnd verbrachte er die Nächte in ihrem Appartement in Santa Monica oder im Krankenhaus, von wo aus er zu Farleys fuhr und der Vormittag mit Besprechungen und etlichem Schriftverkehr in seinem Büro verging. Jegliche Arbeit, die er nicht zwangsweise im Büro erledigen musste, nahm Brian am Nachmittag mit ins Krankenhaus. Dort blieb er dann bis zum Abend, erzählte Joan von seinem langen Tag und arbeitete seine mitgebrachten Unterlagen durch. Unterdessen hörte Joan über den Walkman ihre Lieblingsmusik.

Nach drei Wochen schien Joans Zustand weiterhin unverändert. Ihre sichtbaren Wunden, die Abschürfungen an Armen und Beinen sowie die Platzwunde an der Stirn, verheilten sehr gut. Wie Dr. Cooper Brian mitteilte, würden noch einige Wochen verstreichen, ehe die gebrochenen Rippen und das gebrochene Handgelenk völlig geheilt waren. Er war jedoch sehr zuversichtlich, dass dies ohne Komplikationen geschehen würde. Joans Leber schien sich allmählich zu erholen, ihre Lunge aber würde wohl erst mit der Zeit ihre volle Funktionsfähigkeit zurückgewinnen. Die einzig gute Nachricht, die sie in diesen Tagen erhielten, betraf die geplante Operation des Neurochirurgen. Anscheinend war der Druck in Joans Gehirn gesunken, sodass man vorerst auf eine weitere Operation verzichten konnte.

Jeden Tag arbeitete die Physiotherapeutin eine Stunde lang mit Joan, damit deren Muskeln vom langen Liegen nicht erschlafften. Mit Fingerspitzengefühl versuchte sie die natürlichen Reize ihrer Patientin zu stimulieren, um sie somit ein Stück näher ins Leben zurückzubringen. Immer häufiger sah Brian der Physiotherapeutin zu, wie sie die Arme und Beine von Joan dehnte, bis sie ihm eines Tages auf seine Bitte hin die Übungen genau zeigte, damit auch er sie am Nachmittag bei seiner Schwester durchführen konnte.

„Sie haben eindeutig den falschen Beruf gewählt“, sagte eine bekannte Frauenstimme hinter Brians Rücken, als er am Abend die Übungen mit Joan machte, die die Therapeutin ihm gezeigt hatte.

„Lassen Sie das nicht meinen Vater hören, Schwester Claire“, sagte Brian lächelnd, bevor diese in sein Blickfeld trat und die Monitore kontrollierte. „Es gab keine Abweichung“, meinte er und deutete mit dem Kopf auf den Monitor.

Schwester Claire lächelte. „Sie machen das sehr gut, Doktor.“

„Alles, nur kein Arzt! Ich mag keine Krankenhäuser“, wehrte Brian ab. „Die netten Krankenschwestern selbstverständlich ausgenommen“, rettete er sich in letzter Sekunde.

Claire lachte. „Aber Sie hätten es auch schlechter treffen können. Ich kann nur davon träumen mir von meinem Lohn ein Kleid von Farleys zu leisten.“

„Wenn Sie das nächste Mal in der Nähe sind, Claire, schauen Sie bei mir vorbei. Ich bin sicher, wir finden etwas für Sie.“

Sie sah ihn verschreckt an. „Mr. Farley, ich wollte Sie nicht...“

Brian lächelte. „Ich weiß. Machen Sie mir trotzdem die Freude?“

„Wenn ich in der Nähe bin...“, versprach sie ihm, obwohl sie nicht daran glaubte, dass er sich dann an sie erinnern würde. „Bleiben Sie nicht zu lange. Gönnen Sie sich ein paar Stunden mehr Schlaf.“ Sie widmete ihren Blick abermals den Geräten zu und notierte etwas in der Krankenakte.

„Ich bin an wenig Schlaf gewöhnt. Ich...“ Mit einem Mal stockte Brian. Die Schwester blickte von ihren Unterlagen auf und sah, wie er auf seine Schwester hinunter starrte.

„Mr. Farley, stimmt etwas nicht?“

„Sie hat meine Hand gedrückt...“

Schwester Claire warf einen Blick auf ihre Patientin, die mit geschlossenen Augen in ihrem Bett lag. Sie sah auf die Monitore, die jedoch keine Veränderungen anzeigten. „Das war sicher nur ein Reflex“, erklärte sie.

„Sie hat meine Hand gedrückt“, beteuerte Brian diesmal mit Nachdruck. Er ließ sich nicht von Schwester Claires offensichtlichen Zweifeln beirren und wandte sich mit deutlicher Stimme an seine Schwester. „Joan, ich möchte, dass du noch einmal meine Hand drückst. Ich weiß, du schaffst es.“ Er wartete einen Moment, aber sie reagierte nicht. „Joan, du hast in den vergangenen Wochen so hart gekämpft, nun gib nicht auf! Drück’ noch einmal meine Hand. Streng dich ein klein wenig an“, ermutigte er sie und kaum hatte er seine Bitte ausgesprochen, spürte er einen leichten Druck in seiner Hand, der von ihren Fingern ausging. „Das war sehr gut!“, freute Brian sich über die Regung seiner Schwester. Tränen traten in seine Augen. Nun reagierten auch die Geräte. Gebannt beobachtete Schwester Claire Brian. „Ich weiß, Joan, ich verlange sehr viel von dir, aber jetzt möchte ich, dass du versuchst deine Augen zu öffnen.“ Gespannt blickte er in Joans Gesicht und hoffte darauf, dass sie die Augen aufschlug. „Joan, kannst du für mich ein Auge aufmachen? Oder für mich lächeln? Ich habe dein Lächeln so vermisst...“ In ihrem Gesicht zeigte sich jedoch keine Regung. Nachdem Joan minutenlang nicht auf seine unablässigen Bitten reagierte, glaubte er schon, er hätte sie wieder an den Ort verloren aus dem sie versuchte zu fliehen, doch da griff sie fester als zuvor mit ihrer Hand zu. „Das war sehr gut, Kleines. Und bestimmt sehr schwer für dich. Wir machen eine kleine Pause. Ruh dich ein wenig aus“, sagte er leise, ohne ihre Hand loszulassen. Mit feuchten Augen blickte er auf seine kleine Schwester hinunter. Diese Minuten waren so unglaublich. Plötzlich zuckten kaum merklich Joans Augenlider. „Oh mein Gott...” Brian glaubte seinen Augen nicht trauen zu können. Nach vier Wochen zwischen Leben und Tod kam Joan allmählich ins Leben zurück. Vor Freude wollte er seiner Schwester um den Hals fallen, hielt sich jedoch zurück. „Claire, haben Sie das gesehen?”

„Sprechen Sie weiter mit ihr. Ich hole einen Arzt.“ Schon eilte Schwester Claire hinaus.

„Joan, ich habe es gesehen“, sagte Brian dicht zu ihr hinunter gebeugt, damit sie ihn besser verstehen konnte. Er hielt ihre Hand, küsste überwältigt ihre Finger. „Du musst deine Augen aufmachen... bitte... versuche es, mir zuliebe...“

In dem Moment kamen Dr. Cooper und Schwester Claire ins Zimmer. Als hätte Joan auf weitere Zuschauer gewartet, öffnete sie ihre Augen einen Spalt.

„Das ist wunderbar, Jo!“, würdigte Brian ihre ungeheure Leistung. Arzt und Schwester sahen einander voller Freude an, griffen jedoch nicht ein, da beide fanden, dass Brian das hervorragend machte. „Kannst du deine Augen noch ein wenig weiter öffnen? Versuch’ mich anzuschauen“, drängte er Joan weiter, um zu verhindern, dass sie wieder einschlief. Prompt bekam er ein lautes Stöhnen als Antwort, so als wollte sie ihre Missstimmung über seine grenzenlosen Forderungen äußern. Dann schlug sie ganz plötzlich ihre Augen auf, nur um sie gleich darauf wieder zu schließen. Ihre Anstrengungen waren gewaltig. „Hallo, Kleines...“, sagte Brian durch einen Tränenschleier. „Ich bin bei dir. Du brauchst keine Angst zu haben. Ich bleibe hier...“

Da öffnete Joan erneut ihre Augen. Diesmal sah sie ihn einen Augenblick lang an und lächelte, ehe sie die Lider wieder schloss. Einen Moment darauf war sie eingeschlafen.

„Mr. Farley, Sie sollten heimfahren. Es ist sehr unwahrscheinlich, dass Ihre Schwester heute noch einmal aufwachen wird“, erklärte Dr. Cooper. „Gönnen Sie ihr etwas Ruhe.“

Ruhe? Sie hat beinahe fünf Wochen geschlafen“, sagte Brian, der seine Schwester nun nicht mehr allein lassen wollte.

„Das kommt nur uns so vor. Ihre Schwester hat diese Wochen hart gekämpft, um zu überleben. Vergleichen Sie es mit einem sehr langen Marathonlauf. Sie hat soeben erst die Hälfte geschafft.“

Was genau Dr. Cooper damit meinte, erklärte er Brian anschließend in seinem Büro. Nun, da Joan aus dem Koma erwacht war, würde sich erst das ganze Ausmaß des Unfalls erkunden lassen. Er erklärte, dass einige Untersuchungen auf Joan zukamen, die ihnen Klarheit über die Auswirkungen der Gehirnprellung und des Komas verschafften. Sollten sich diese Schäden als gering darstellen, so musste sie noch mindestens vier Wochen, vermutlich jedoch länger, im Krankenhaus bleiben und mit Hilfe einer täglichen Physiotherapie wieder zu Kräften kommen. Seit ihrer Einlieferung hatte sie fast zehn Kilo verloren und mit den Übungen, die ihre Muskeln trainierten, hatte die Physiotherapeutin erst vor knapp zwei Wochen beginnen können, sodass Joan arge Probleme beim Laufen und beim Bewegen ihrer Arme haben würde.

„Sie ist aufgewacht!“, rief Brian freudestrahlend ins Telefon.

„Wer?“, fragte Rachel am anderen Ende verwirrt. Da erst begriff sie, von wem Brian sprach. „Oh mein Gott! Joan? Sie ist aufgewacht?”

„Sie hat meine Hand gedrückt, die Augen geöffnet und mich angelächelt“, sagte er noch immer von dem Ereignis aufgeregt.

„Das ist wundervoll, Schatz. Gott hat meine Gebete erhört...“

Er hörte ihr leises Schluchzen durchs Telefon und sehnte sich danach, sie in die Arme schließen zu können, doch Rachel war für zwei Tage in San Diego.

Brian ignorierte den Rat von Dr. Cooper und verbrachte die Nacht am Bett seiner Schwester. Von den Ereignissen zu aufgewühlt, fand er keinen festen Schlaf und so betrachtete er Joan bis spät in die Nacht hinein. Schließlich übermannte ihn die Müdigkeit und als die Nachtschwester um Fünf ins Zimmer trat, schlief er mit verschränkten Armen zurückgelehnt auf seinem Stuhl.

Am nächsten Morgen wurde Brian von den gedämpften Geräuschen geweckt, die das rege Treiben auf dem Gang vor Joans Zimmer vermuten ließ. Mit geschlossenen Augen bewegte er seine Arme und die Schulter, die durch das lange Sitzen verkrampft waren. Dann erst öffnete er seine Augen und wandte den Blick zu seiner Schwester hinüber. Überrascht sah er, dass Joan ihn anschaute.

„Hey... du bist ja wach“, sagte Brian sanft. Lächelnd stand er von seinem Stuhl auf, beugte sich zu ihr hinunter und küsste liebevoll ihre Stirn. „Ich habe dich vermisst.“ Joan lächelte und nickte als Antwort. „Wie fühlst du dich? Hast du Schmerzen?“, fragte Brian besorgt, worauf Joan kaum merklich den Kopf schüttelte und plötzlich das Gesicht verzog. „Dank mir, spätestens jetzt. Tut mir leid“, sagte er mit gequältem Blick. Da erinnerte er sich an Dr. Coopers Worte am Vorabend. „Dein Arzt sagt, du brauchst viel Ruhe, um wieder völlig gesund zu werden. Möchtest du, dass ich dich allein lasse?“ Er bemerkte die plötzliche Angst in ihrem Gesicht, als sie abermals den Kopf schüttelte. Diesmal schien es ihr weniger Schmerzen zu bereiten. „Rachel wird dich heute Abend besuchen kommen. Sie hat sich sehr gefreut, als ich ihr von deinem Erwachen erzählte und lässt sich entschuldigen. Sie ist in San Diego, irgendeine Konferenz“, erklärte Brian, während er seinen Stuhl näher an ihr Bett heranzog und sich setzte. Lächelnd nahm er ihre Hand in die seine. „Ich kann dir gar nicht sagen, wie glücklich ich darüber bin, dass du wieder bei uns bist. Du hast mich ganz schön erschreckt.“ Joan öffnete ihren Mund und fuhr sich mit der Zunge über die Lippen. „Warte, ich tupfe sie dir“, sagte Brian und griff nach dem Wattebausch, um ihr gleich darauf Wasser auf die trockenen Lippen zu tupfen. Indessen wandte Joan den Blick nicht von ihm ab.

„Ich glaube, dass genügt erst einmal. Sobald die Schwester kommt, frage ich, ob du etwas Wasser trinken darfst, einverstanden?“ Joan nickte und legte ihre rechte Hand auf die von Brian. Sie öffnete ihren Mund, als wollte sie etwas sagen, doch es war nur ein sehr leises Krächzen zu hören. „Was möchtest du mir sagen, Jo?“, fragte Brian und rückte näher an ihr Gesicht, um sie besser verstehen zu können. Joan versuchte es nochmals, aber es kam kein Laut heraus. Darüber verärgert schloss sie missmutig den Mund. „Schon gut, du brauchst nichts zu sagen. Das strengt dich noch zu sehr an“, sagte Brian lächelnd und küsste ihre Finger. „Wir alle haben dich schrecklich vermisst, Schwesterchen. Mom und Dad waren hier und haben dich jeden Tag besucht.“ Er bemerkte das Fragezeichen in ihrem Blick und beantwortete ihre unausgesprochene Frage. „Sie mussten dringend nach New York zurück, aber es ist kein Tag vergangen, an dem wir nicht miteinander telefoniert haben. Gestern Abend habe ich in New York angerufen und ihnen erzählt, dass du aus dem Koma erwacht bist. Sie werden morgen hier eintreffen.“

Sie zwinkerte und öffnete abermals ihren Mund. Doch als ihr trotz sichtlicher Bemühungen die Worte wieder im Hals stecken blieben, zog Joan die Stirn kraus und sah ihren Bruder verzweifelt an.

„Versuche es mit kurzen Wörtern“, sagte er ruhig, obwohl sein Herz wild schlug. In dieser Minute gingen ihm viele Dinge durch den Kopf. All die Wochen hatte er sich nichts sehnlicher gewünscht, als das sie aufwachte. Dabei hatte es keine Rolle für ihn gespielt, wie der Zustand seiner Schwester danach sein würde. Erst jetzt machte er sich erstmals darüber Gedanken, dass durch die schwere Gehirnprellung oder das Koma geistige Schäden bei Joan entstanden sein könnten. „Lass dir etwas Zeit. Du bist gerade erst wieder aufgewacht und...“

„Br...ria...n...”, kam es mit einem Mal leise über ihre Lippen. Augenblick verstummte er und lächelte sie an. „Dan...ke...“

Brian standen Tränen in den Augen. „Wofür denn?“ Er hob ihre Hand an seinen Mund hinauf und küsste ihre Finger. „Du hast mir so unglaublich gefehlt...“

„Du... mir... au...ch...“, flüsterte sie.

Plötzlich durchbrachen seine angestauten Gefühle, seine nun ausgestandenen Ängste, das Schutzschild seines Körpers. Mit verschleiertem Blick sank sein Kopf auf die Bettdecke gegen Joans Bauch hinunter. Ihre rechte Hand fest umklammert, schloss Brian die Augen und ließ seinen Tränen freien Lauf. Da spürte er Joans verbundene Hand auf seinem Kopf, spürte, wie ihre Finger langsam über seine kurzen Haare fuhren. Es war, als wollte sie ihm zeigen, dass sie für ihn da war.

In den nächsten Tagen schlief Joan sehr viel. Zumeist war sie nicht länger als eine halbe Stunde am Stück wach, dann schlief sie erschöpft wieder ein. Doch in dieser kurzen Zeit sah sie Brian, Rachel oder ihre Eltern an, die abwechselnd an ihrem Bett saßen, und hörte ihnen zu, wenn sie über Dinge sprachen, die sie verschlafen hatte.

Vier Tage nachdem Joan aus dem Koma erwacht war, saß Brian am späten Nachmittag allein an ihrem Bett, las in seinen Unterlagen und wartete darauf, dass sie die Augen aufschlug. Seit einer Stunde war er bereits bei ihr, als sie plötzlich leise stöhnte.

Brian legte die dünne Mappe auf die Beine seiner Schwester und beugte sich zu ihr vor.

„Joan?“, fragte er leise, doch sie gab keinen Laut mehr von sich. „Hey, du hast lange genug geschlafen.“ Er beobachtete sie noch einen Moment, aber sie erwachte nicht. Schließlich widmete er sich seinen Unterlagen, doch während er dies tat, hörte er sie immer wieder leise stöhnen und sah, wie ihre Hände zuckten. „Joan, was ist denn los?“ Misstrauisch ließ er die Mappe auf seinen Schoß sinken und berührte ihre Hand. Er spürte, dass irgendetwas mit ihr nicht stimmte. Vermutlich träumte sie.

Mit einem Mal schlug Joan ihre Augen auf. Sie waren angsterfüllt, ließen Brian schaudern. Irritiert sah sie sich im Zimmer um. Sie fühlte sich nicht wohl, das sah Brian ihr an ihrer krausgezogenen Stirn an.

„Hey“, sagte er sanft. „Du hast nur schlecht geträumt. Es ist alles in Ordnung.“

„Wo... bin... ich?“, fragte sie leise.

„In einem Krankenhaus in Malibu“, erklärte Brian und nahm ihre Hand in die seine. Da hörte er, wie hinter ihm jemand die Tür öffnete und ins Zimmer trat. Er wandte den Rücken herum und sah Dr. Cooper.

„Was ist... mit mir... passiert?“, kam es mit sichtlicher Anstrengung aus Joans Mund, worauf Brian sich zu ihr drehte und sie mit besorgtem Blick ansah.

„Erinnerst du dich denn nicht?“ Joan schüttelte den Kopf und stöhnte unter den Schmerzen auf, die die plötzliche Bewegung auslösten. Ihr Kopf fühlte sich an, als hätte jemand mit einem Baseballschläger zugeschlagen.

Indessen wandte Brian den Blick zu Dr. Cooper, der am Ende des Krankenbettes stand. Seine Hände ruhten auf dem Gestänge.

„Das ist nach einem tiefen Koma nicht ungewöhnlich“, erklärte Dr. Cooper in ruhigem Ton. Ihm war Joans Problem bereits bekannt, doch die neuerlichen Untersuchungen hatten keinerlei Hinweise auf eine Beeinträchtigung des Erinnerungsvermögens gegeben. Zudem waren die ersten Tests positiv ausgefallen. Joan kannte sämtliche ihrer persönlichen Daten, konnte ihre Besucher richtig zuordnen und wusste über Ereignisse aus der ganzen Welt Bescheid. Sie konnte sich an alles erinnern, nur eben nicht an den Tag des Unfalls. „Ich bin sicher, dass die Erinnerungen in einigen Tagen zurückkehren werden“, fuhr Dr. Cooper zuversichtlich fort. „Mrs. Farley, Sie haben eine sehr lange und anstrengende Reise hinter sich. Davon hat sich ihr Gehirn noch nicht erholt. Gönnen Sie sich und Ihrem Körper etwas Ruhe.“

Für einen Moment schloss Joan ihre Augen und hörte nicht, wie der Arzt nach einem knappen Nicken zu Brian ihr Zimmer verließ. Als sie Brian wieder ansah, fiel ihm ein, dass er ihre Frage noch nicht beantwortet hatte.

„Du hattest einen schweren Unfall“, sagte Brian, während er ihre Hand fest umschlossen hielt. „Du bist ins Koma gefallen.“

„Wie... lange?“, presste sie leise hervor.

„Etwas mehr als vier Wochen.“

Joan nickte und verzog das Gesicht vor Schmerz. Sie schloss die Augen und er glaubte, sie sei wieder eingeschlafen, aber da öffnete sie die Lider und sah ihn mit sorgenvollem Blick an.

„Kleines, kann ich etwas für dich tun?“, fragte Brian leise. Er legte seine Hand an ihre Wange und streichelte sie liebevoll, als Joan den Mund öffnete. Unsicherheit stand in ihr Gesicht geschrieben. „Sag’ mir, was dir durch den Kopf geht.“

„Wo...“, kam es endlich über ihre Lippen. „...ist... Steeeve?“

Der Schreck über diese unerwartete Frage musste ihm allzu deutlich im Gesicht stehen, denn plötzlich lief ihr eine einzelne Träne aus dem rechten Auge. Brian hatte umsonst gehofft. Ihr war nicht entgangen, dass Steve kein einziges Mal an ihrem Bett gesessen hatte, wenn sie aufgewacht war.

Erwartungsvoll sah Joan ihren Bruder an, der sich überlegte, wie er die Nachricht von Steves Tod noch einige Tage hinauszögern konnte. Dr. Cooper hatte eindringlich gesagt, dass sie jegliche Aufregung von Joan fernhalten sollten. Sie brauchte absolute Ruhe. Doch der Arzt hatte vergessen ihm zu sagen, wie er Steves Tod vor ihr verbergen sollte.

„Joan, er kann nicht zu dir kommen.“

„Er... will... nicht“, sagte sie mit traurigem Blick. „Ich bin... nicht mehr... wie vorher.“

„Das hat damit absolut nichts zu tun. Wenn er könnte, würde Steve dich niemals in dieser Situation alleine lassen“, erklärte Brian von seinen Worten fest überzeugt.

Sie schöpfte neue Hoffnung. „Warum... ist er... dann... nicht... hier?“

„Jo...“, nannte er sie sanft beim Kosenamen. „...Steve saß mit dir im Auto. Ihr hattet beide den Unfall.“

„Wie...geht es... ihm?“, fragte sie mit sorgenvollem Blick. „Ist er... schwer... verletzt?“

Brian, der sich unweigerlich an Steves Beerdigung erinnerte, traten Tränen in die Augen. Er wusste nicht, wie er seiner Schwester die schreckliche Nachricht mitteilen sollte. Vielleicht wäre es das Sinnvollste, wenn er sie zu ihrem eigenen Schutz belog, ihr nichts von Steves Tod erzählte.

„Brian...“, drängte sie ihn.

„Jo...“, begann er leise. Erwartungsvoll sah sie ihn an. Als Brian zu ihr aufblickte und sie mit traurigen Augen ansah, wusste sie, was geschehen war.

Kaum merklich schüttelte sie den Kopf. „Ich habe ihn... in meinen Träumen... gesehen.“ Tränen liefen aus ihren Augen. „Wir sind den Weg... gemeinsam... gegangen. Hand... in Hand...bis zur... Gabelung. Er wollte... den dunklen Weg... gehen, aber ich hatte... Angst. Der andere Weg... war viel... heller und ich habe... dich gesehen.“ Sie schluchzte laut. „Plötzlich... war er... nicht mehr... bei mir. Warum... hat er mich... allein gelassen?“

Durch einen Tränenschleier sah Brian sie an. Er konnte sich nicht im Entferntesten vorstellen, was Steves Tod für sie bedeuten musste. Sie hatte ihn unendlich geliebt. „Ich weiß es nicht, Kleines.“

„Lass... mich... allein...“, bat sie ihn unter Tränen.

Sie träumte von Liebe

Подняться наверх