Читать книгу Sie träumte von Liebe - Christina Bartel - Страница 4

Zweites Kapitel

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Mit jedem Tag verbesserten sich Joans anfängliche Sprachprobleme zusehends. Die Worte kamen noch ein wenig holprig und verlangsamt über ihre Lippen, aber Dr. Cooper war angesichts der neuen Computertomographie sehr zuversichtlich, dass ihr Sprachvermögen vollständig zurückkehren würde. Einzig die starken Kopfschmerzen, unter denen Joan litt, schienen die Nachwirkung der Gehirnprellung zu sein.

Nach einer Woche war Joans Gesamtzustand so stabil, dass Dr. Cooper seine Patientin auf die normale Station verlegte. Noch am selben Tag begann die Physiotherapeutin mit einer für Joan abgestimmten muskelaufbauenden Therapie. Gut gelaunt plapperte sie auf ihre Patientin ein und es schien sie nicht zu stören, dass sie nie eine Antwort bekam.

Schlief Joan nicht, dann lag sie stumm in ihrem Bett, starrte an die Decke oder weinte leise in ihr Kissen. Niemand drang zu ihr durch, nicht einmal Brian, der sie täglich besuchte.

„Du hattest einen Schutzengel“, sagte Brian leise, da sie angesichts ihrer schweren Verletzungen sehr viel Glück gehabt hatte.

„Nein... ich hatte zwei. Steve hat mir seinen geliehen“, flüsterte Joan unter Tränen. Es war das erste Mal, dass sie mit jemanden sprach, seit sie von Steves Tod erfahren hatte. Langsam wandte sie den Kopf zu Brian herum und blickte ihn mit traurigen Augen an. „Es tut mir Leid. Ich wollte euch nicht verstoßen.“

„Ich weiß“, sagte er sanft und nahm ihre Hand zwischen die seinen. „Du brauchtest Zeit für dich und deine Trauer.“

„Ich vermisse ihn so...“

„Ich weiß, Kleines... ich weiß...“

Es war nicht nur Steves fröhliche Art, die sie vermisste, sondern auch seine wunderschönen, grünen Augen. Seinen liebevollen Blick, wenn er ihr sagte, dass er sie liebte. Es gab so viel, was sie ihm noch hätte sagen wollen, wofür sie ihm danken wollte, doch all ihre Gedanken endeten letztendlich in drei kleinen aber sehr bedeutungsvollen Worten. Ich liebe dich. Dafür war es nun zu spät. Steve würde ihr nie wieder zuhören und mit ihr lachen. Er hatte sie für immer verlassen.

Als Dr. Cooper am nächsten Morgen zu ihr ins Zimmer kam, fragte Joan ihn erstmals, wie ihre weitere Behandlung aussah. Vor zwei Wochen war sie aus dem Koma erwacht, doch sie hatte noch keinen Fuß aus ihrem Bett gesetzt.

„Da sowohl Ihr Handgelenk als auch Ihre gebrochenen Rippen sehr gut geheilt sind und Ihnen keine Probleme mehr bereiten, denke ich, dass die Physiotherapeutin nun mit der muskelaufbauenden Therapie beginnen kann. Sie haben sehr lange gelegen und an Gewicht verloren...“, erklärte er ihr, während er auf dem Stuhl neben ihrem Bett saß. „...deshalb werden Sie sich erst wieder Schritt für Schritt ans Laufen gewöhnen müssen.“

„Was genau bedeutet das, Doktor? Heißt das, ich kann meine Beine nicht mehr bewegen?“

„Mrs. Farley, Sie sind nicht querschnittsgelähmt“, klärte Dr. Cooper sie auf. „Denken Sie an eine Marionette, die sich nur dann bewegt, wenn ein Mensch an den Fäden zieht. Anstelle der Fäden haben wir Muskeln. Ihre Muskeln wurden jedoch in den vergangenen sechs Wochen kaum bewegt, sie sind erschlafft. Wenn Sie jetzt das Bett verließen, würden Ihre Beine unter der Last Ihres Körpers zusammenbrechen.“

„Aber durch die Physiotherapie werde ich doch wieder laufen können?“, fragte sie hoffnungsvoll.

„Anfangs werden Sie Probleme haben, aber ich versichere Ihnen, nach einigen harten Wochen Physiotherapie laufen Sie aus unserem Krankenhaus“, sagte Dr. Cooper lächelnd.

Der März verging und bei jedem seiner Besuche fiel Brian auf, wie Joan mehr und mehr zu Kräften kam. Nach kurzer Zeit waren ihre Arme so kräftig, dass sie sich mit ihrem Rollstuhl allein fortbewegen konnte – der erste Schritt in die Unabhängigkeit. Joan verschwendete keine Zeit, arbeitete hart an sich und ihrem Körper und bald stellten sich die ersten Erfolge bei der Therapie ihrer Beine ein. Mariella, Joans Physiotherapeutin, war sehr Stolz auf ihre Patientin. Nach wochenlangem Muskeltraining konnte Joan sich mit Hilfe von zwei Krücken auf ihren eigenen Füßen halten und einige Schritte gehen. Damit hatte Joan einen weiteren Pass des Berges erklommen, doch es würden noch Wochen vergehen, bis sie den Gipfel endlich erreicht hatte.

Neben der täglichen Therapie mit Mariella, traf Joan sich dreimal in der Woche mit einer Psychologin, der sie jedoch weitaus weniger Sympathien als Mariella entgegenbrachte. Anfangs hatte Joan sich ihr nur schwer öffnen können, was hauptsächlich daran lag, dass sie mit Fremden nicht gern über persönliche Dinge sprach. Dennoch überwand sie mit der Hilfe ihrer Psychologin ihre Angst vor dem Alleinsein. Ihr Lebenswille kehrte zurück, während der Hass, den sie zumeist auf sich selbst gerichtet hatte, allmählich verebbte. Nur noch selten, in besonders schweren Stunden, wünschte Joan sich, in jener Nacht mit Steve gestorben zu sein. Doch auch diese Gedanken wurden immer seltener.

Es wurde April. Der Frühling beglückte sie mit warmen Temperaturen um die fünfundzwanzig Grad Celsius, sodass Joan wann immer sich ihr die Gelegenheit bot einige Stunden im Park des Krankenhauses verbrachte. Während sie mit ihrem Rollstuhl die Sandwege entlang fuhr und dann und wann anhielt, lauschte sie dem Rauschen des Ozeans. In diesen Momenten wünschte sie sich, sie könnte einfach aufstehen, an den Strand rennen und ins Wasser springen.

Brian, der seine Schwester jeden zweiten Tag im Krankenhaus besuchte, brachte ihr jedes Mal frische Frühlingsblumen mit und stellte sie in die Vase auf ihrem Nachtschrank. Dann erzählte er Joan stundenlang alle Neuigkeiten, während sie im Park spazieren gingen oder, was nur selten vorkam, in ihrem Zimmer saßen. Beide fühlten sich an ihre gemeinsame Kindheit erinnert und genossen die Momente der Zweisamkeit.

„Haben Mum und Dad sich bei dir gemeldet?“, fragte Brian seine Schwester, als sie auf einer Bank Platz genommen hatten, damit Joan sich etwas erholen konnte. Ihre Krücken standen hinter der Bank.

„Ja, gestern“, antwortete sie und setzte sich ihre Sonnenbrille auf. „Dad erwähnte ein Angebot, das er dir unterbreitet hat. Worum geht es dabei?“, fragte sie interessiert.

„Er bietet mir an, nach Europa zu gehen - Mailand. Ich soll dort die Neueröffnung unserer Filiale überwachen und diese vorerst für ein Jahr leiten.“

„Wow! Was für ein Karrieresprung“, sagte Joan lächelnd. „Ich freue mich für dich.“ Sie wusste, dass er insgeheim immer darauf hin gearbeitet hatte, eines Tages eine der Filialen zu leiten. Einzig New York zog er dabei nicht in Betracht. Der ständige Rummel um seine Person würde ihn verrückt machen.

„Ich würde sein Angebot gern annehmen, aber...“

„Natürlich machst du das“, sagte Joan bestimmt. „Das ist gar keine Frage.“ Da traf sie den unsicheren Blick ihres Bruders und ahnte, warum er mit der Zusage zögerte. „Rachel? Sie weiß es noch nicht, oder?“, fragte sie sanft.

Brian wandte den Blick von ihr ab. „Wie kann ich darüber nachdenken?“ Er seufzte. „Wir haben in L.A. unser Leben. Rachel hat einen Job, der ihr viel bedeutet. In Mailand würde sie von vorn beginnen.“

„Vielleicht stört sie das nicht. Kam dir je in den Sinn, dass sie sich auf Italien freuen könnte? Schließlich leben ihre Eltern in Rom und sie hat sie sehr lange nicht mehr besucht.“

Joan bemerkte, wie er über ihre Worte nachdachte und überließ ihn einige Minuten seinen Gedanken. Sie sah zu einem Pärchen hinüber, das sich auf einer Decke in den Armen lag und versuchte die schmerzvollen Gedanken an Steve zu verdrängen. Die Psychologin hatte ihr gesagt, dass eine Zeit kommen würde, in der die Erinnerungen an Steve ihr nicht zwangsweise die Kehle zuschnürten. Sie würde seinen tragischen Tod überwinden und nur noch an die schönen Augenblicke mit ihm denken, doch dazu musste sie Steve erst einmal loslassen.

„Ungelegen käme es nicht“, sagte Brian plötzlich mehr zu sich selbst. Unbewusst hatte er die Worte laut ausgesprochen.

„Wie darf ich denn das verstehen?“, fragte Joan aus ihren eigenen Gedanken gerissen.

„Oh... ich habe nur laut gedacht“, versuchte Brian sie zu besänftigen, aber er hatte bereits ihre Neugier geweckt.

„Brian, was heckst du aus?“

„Nichts!“, log er und verkniff sich ein Lächeln. Er wusste, sie würde nicht Ruhe geben, ehe sie erfahren hatte, worum es ging.

Joan zwickte ihm in die Seite. „Los, erzähl’ es mir!“

„Okay, aber du hältst deinen Mund“, mahnte er seine kleine Schwester, die vor Ungeduld fast platzte.

„Mach’ es nicht so spannend!“

„Ich will Rachel bitten, meine Frau zu werden.“ Joans Mund blieb offen. Damit hatte sie nicht gerechnet. Die Beiden lebten seit Jahren zusammen und noch nie war das Wort Hochzeit zwischen ihnen gefallen. „Ich denke schon seit längerem darüber nach. Dein Unfall hat mir den entscheidenden Anstoß gegeben“, erklärte er ruhig. „Mir ist bewusst geworden, dass plötzlich alles zu Ende sein kann. Ich liebe Rachel und ich will mit ihr alt werden.“

„Ich freue mich, dass ich dein Anstoß gewesen bin“, sagte Joan lächelnd. „Wann willst du sie fragen?“

„Wenn du Recht hast und wir tatsächlich nach Mailand gehen, dann werden wir ganz sicher einen Abstecher nach Rom machen und Rachels Eltern besuchen. Dort könnte ich Rachel im Beisein ihrer Eltern bitten, meine Frau zu werden.“

„Oh mein Gott! Du willst vor ihren Eltern um ihre Hand anhalten?“

„Rachel liebt diese alten Traditionen.“

„Wie romantisch...“

„Sie ist nun einmal der wichtigste Mensch in meinem Leben. Ich will, dass sie glücklich ist.“

„Mit dir kann man nur glücklich werden, Bruderherz.“

Es war, wie Joan es vorausgesagt hatte. Mit dem Tag von Rachels Zustimmung gab es unzählige Dinge bis zu ihrer Abreise Mitte Mai zu erledigen. Sie beschlossen, ihr Appartement nicht zu verkaufen, sondern einem Freund für die Zeit ihrer Abwesenheit zu vermieten, bis dieser seine eigene Wohnung beziehen konnte. Zudem kümmerte sich Rachel um eine geeignete Vertreterin ihres Postens, den sie erst nach ihrer Rückkehr wieder wahrnehmen würde, und hatte erste Kontakte zu einer Organisation in Mailand geknüpft, die sich ebenfalls um misshandelte Kinder kümmerte.

„Hast du dir schon überlegt, was du tust, wenn du hier entlassen wirst?“, fragte Brian seine Schwester eines Aprilabends, als sie gemeinsam auf ihrem Krankenbett saßen und fernsahen.

„Ich denke, ich werde unsere Studentenbude räumen und mir eine kleinere Wohnung suchen“, sagte sie wehmütig, da sie die Bude sehr gemocht hatte. Aber ohne Steve war es einfach nicht mehr dasselbe. Während ihres Krankenhausaufenthaltes bezahlten ihre Eltern die Miete, die Steve und Joan sich vor ihrem Unfall geteilt hatten. Eine Geste, die Joan zu schätzen wusste, aber sie hatte sie nur angenommen, weil man sonst Steves und ihre Sachen vor die Tür gestellt hätte.

„Und dein Studium?“, harkte er nach.

„Ich weiß nicht... Der Gedanke ohne Steve an die Uni zu gehen...“

Verständnisvoll legte Brian seinen Arm um ihre Schulter. „Was hältst du davon, mit uns nach Mailand zu kommen?“

Joan sah zu ihrem Bruder. „Ich soll mit euch kommen?“

„Ich habe mit Rachel gesprochen und auch sie hält es für eine gute Idee. Nach allem was geschehen ist, brauchst du Abstand von L.A. und du hast mir immer von Europa vorgeschwärmt.“

„Es ist dort auch sehr schön“, sagte sie lächelnd, da er wusste, wie sehr sie Europa liebte. Seit der Reise mit einer Freundin vor einigen Jahren war sie nicht mehr dort gewesen. Joan dachte einen Moment über sein verlockendes Angebot nach, ehe sie antwortete: „Ich würde euch sehr gern begleiten.“

„Herr, dir sei dank! Sie hat ja gesagt“, sagte Brian erfreut und umarmte sie. „Mir fällt ein Stein vom Herzen. Ich hatte bedenken, dich allein in L.A. zurückzulassen - du machst allein nur Unsinn“, neckte er sie lächelnd.

„Oh, du hast Recht. Ich bin ohne dich völlig unfähig.“

„Das nenn’ ich eine Erkenntnis!“

Während Joan in den folgenden Wochen viele Stunden mit Mariella im Trainingsraum verbrachte und immer sicherer an ihren Krücken lief, kümmerten Brian und Rachel sich um die Vorbereitungen ihrer langen Reise. Brian suchte in Mailand nach einem geeigneten Haus, das er vorerst für ein Jahr mieten wollte, kündigte die Studentenbude auf dem Campus und ließ Joans und Steves Sachen einlagern. Lediglich die Kleider seiner Schwester brachte er in sein Appartement.

„Jedes Mal, wenn ich dich besuche, sehe ich deutliche Fortschritte“, sagte Brian Ende April erfreut zu ihr. Nach einem anstrengenden Tag im Büro war er am späten Abend außer Plan noch zu ihr gefahren und hatte soeben von ihren langen Rundgängen durch das Krankenhaus erfahren.

„Ich möchte dir etwas zeigen.“ Ihre Augen strahlten, als sie in grauer Trainingshose und T-Shirt das Bett verließ und noch etwas unsicher langsam im Zimmer umherlief.

„Hey, das ist ja großartig! Du brauchst deine Krücken nicht mehr“, freute Brian sich. „Seit wann kannst du so gut laufen?“

Sie grinste. „Das sollte eine Überraschung werden.“

„Die ist dir gelungen. Komm’ her, Kleines“, sagte Brian lächelnd und zog Joan in seine Arme. „Ich bin sehr Stolz auf dich.“

Sie küsste seine Wange. „Es wird Zeit, dass ich hier endlich rauskomme.“

Brian nickte zustimmend. „Mailand ist der Anfang eines neuen Lebensabschnittes.“

Wie von Dr. Cooper angesetzt wurde Joan am ersten Maifreitag aus dem Krankenhaus entlassen. Ehe sie den Ort verließ, der für vier Monate ihr Zuhause gewesen war, dankte sie besonders Dr. Cooper und Mariella für deren Hilfe. Sie wusste, wie viel diese zwei Menschen für sie getan hatten. Dem Einen verdankte sie ihr Leben, der Anderen, dass sie an diesem Tag auf ihren eigenen Beinen das Krankenhaus verlassen konnte.

„Ich habe die Wohnung wie du wolltest ausgeräumt und deine Sachen in unserem Gästezimmer untergestellt“, sagte Brian, als sie in sein Mercedescabrio stiegen. „Ich dachte, wir fahren gleich zu uns, damit du genug Zeit zum Packen hast.“ Am Sonntag würden sie bereits im Flugzeug nach Mailand sitzen.

„Brian?“

„Mhm?“ Er sah zu ihr hinüber.

„Kannst du mich vorher... zu ihm bringen?“, bat Joan ihren Bruder leise. Nun wusste er, warum er ihr den schwarzen Rock und die schwarze Bluse mitbringen sollte, die sie angezogen hatte, ehe sie losgefahren waren.

Brian legte seine Hand auf die ihre und nickte. „Natürlich.“

Auf der Fahrt nach Santa Monica nahmen sie den Pacific Coast Highway. Währenddessen blickte Joan unentwegt aus dem Seitenfenster hinaus aufs offene Meer. Ihre Gedanken glitten zu jener Nacht, in der Steve und sie viel Spaß gehabt hatten. Auf der Heimfahrt hatten sie gesungen und gelacht. In Erinnerung daran rannten Tränen über ihre Wangen.

Brian sah von Zeit zu Zeit kurz zu seiner Schwester hinüber und konzentrierte sich dann wieder auf die Strasse. Nach einer halben Stunde erreichten sie den Santa Monica Freeway, den sie wenige Minuten darauf verließen und durch ruhigere Strassen fuhren. Schließlich hielt Brian auf einem Parkplatz in unmittelbarer Nähe des Friedhofs.

„Das ist es“, sagte Brian leise, worauf Joan sich die Tränen aus den Augen fuhr, die Autotür öffnete und ausstieg.

Mit langsamen Schritten ging sie untergehakt bei ihrem Bruder über die Wiesen des Friedhofs, entlang an hunderten Gräbern. Noch nie zuvor war sie hier gewesen, sodass sie mit klopfendem Herzen die Namen auf den Grabsteinen las, die aus dem grünen Gras ragten. Auf einigen standen frische Blumen, andere waren kahl.

Plötzlich blieb Brian stehen. Joan sah erst ihn und dann den Grabstein zu ihren Füßen an. Ihre Augen waren auf den schlichten, weißen Stein gerichtet. Steve Baxter. Geliebter Sohn und Freund, las sie und ließ ihren Tränen freien Lauf. Unaufhaltsam liefen sie ihre Wangen hinunter.

Rücksichtsvoll zog Brian sich auf eine Bank in einigen Metern Entfernung zurück, damit Joan sich in aller Ruhe von Steve verabschieden konnte.

„Selbst wenn wir geahnt hätten, dass uns nur zwei Jahre miteinander bleiben, wir hätten die Zeit nicht anders verbracht...“, flüsterte Joan unter Tränen. „Es war die schönste Zeit in meinem Leben. Die wundervollsten Momente haben wir miteinander geteilt.“ Sie führte die rote Rose an ihren Mund, küsste die Blüten mit all ihrer Liebe und beugte sich hinunter. „Ich werde dich niemals vergessen, Steve. Ich liebe dich... ich werde dich immer lieben.“ Mit zittriger Hand legte sie die Rose vor Steves Grabstein auf den Rasen. Sie stand für den jungen Mann, der an einem gewöhnlichen Januarmorgen gestorben war...

Zwei Tage darauf landeten sie um achtzehn Uhr Ortszeit auf dem Flughafen Malpensa in Mailand. Der Chauffeur des Grand Hotel erwartete sie bereits und fuhr sie ohne lange Verzögerung ins Hotel, wo sie die nächsten Tage verbringen würden. Matthew Farley hatte zwei Suiten für seine Kinder reservieren lassen. Nachdem sie eingecheckt hatten, aßen sie im Restaurant des Hotels zu Abend. Die anschließenden Stunden bis zum Morgen verbrachte Joan allein in ihrer Suite, während Rachel und Brian ins Plastic tanzen gingen.

Ihr Umzug in das von Brian gemietete Haus verschob sich um einige Tage, doch eine Woche nach ihrer Ankunft in Mailand betraten sie zum ersten Mal das ruhiggelegene, im viktorianischen Stil erbaute Haus. Im Erdgeschoss befand sich das geräumige Wohnzimmer mit einer beigefarbenen Eckcouch und einem Kamin. Ein langer Esstisch für acht Personen verband das Wohnzimmer und die offene Küche. Aufgrund der hohen Fensterfront, durch die man in den großen Garten hinausblicken konnte, strömte in beide Räume sehr viel Licht.

Über eine Steintreppe am Eingang des Hauses gelangte man in den oberen Stock, der zwei Schlaf- und zwei separate Badezimmer bereithielt. Warme Braun- und Terrakottatöne verliehen dem Haus erst das richtige Flair. In dem wunderschön bepflanzten Garten gab es außerdem einen großen Pool mit Grillecke.

Die ersten Tage verließ Joan kein einziges Mal das Haus. Sie packte ihre zahlreichen Koffer aus und begnügte sich mit dem Einrichten ihres möblierten Zimmers, indem sie es mit Bildern, persönlichen Fotos und einigen Blumen verschönerte. Am Abend, wenn Brian und Rachel nach Hause kamen, wartete ein köstliches Abendessen auf sie, doch Joan aß nie mit ihnen. Brian wollte sie zu ihnen bitten, aber meistens war ihre Tür verschlossen und auf seine Bitten, sie zu öffnen, reagierte sie nicht.

Eine Woche nach ihrem Einzug klopfte Brian an die Tür zum Zimmer seiner Schwester und drückte die Klinke hinunter. Er hatte Glück, diesmal war sie nicht abgeschlossen. Sieben Tage waren vergangen und er hatte seine Schwester kaum zu Gesicht bekommen. Wenn er morgens das Haus verließ, schlief Joan noch und abends war ihre Tür schon geschlossen.

Joan saß in ihrem braunen Schaukelstuhl vor der geöffneten Balkontür und blickte in den Abendhimmel hinaus.

„Hey“, sagte Brian von der Tür aus leise. Erst da wandte Joan den Kopf zu ihm herum.

„Hallo.“

Brian schloss die Tür hinter sich und setzte sich auf ihr Doppelbett, das mit der Kopfseite an der Wand stand und mittig ins Zimmer ragte. Nur Joan wusste, dass man in den Morgenstunden aus dem Bett heraus einen herrlichen Blick durch die Balkontür auf den Sonnenaufgang hatte.

Besorgt musterte Brian seine Schwester. Ihm war das Foto mit Steves Gesicht in ihren Händen nicht entgangen. „Wie geht es dir?“, fragte er sanft.

Joan zuckte kaum merklich mit der Schulter.

„Hast du dich etwas eingelebt?“

„Es ist ruhiger... das ist schön.“

Er nickte. „Und was machst du den ganzen Tag über?“

Joan zog die Mundwinkel zu einem schmalen Lächeln hoch. „Brian, ich bin alt genug. Du brauchst nicht auf mich aufzupassen.“

„Du wirst immer meine kleine Schwester bleiben und ich habe...“ Schon einmal versagt, dachte Brian im Stillen.

„Du hättest den Unfall nicht verhindern können“, sagte Joan, als hätte sie seine Gedanken gelesen, und streckte ihm ihre Hand entgegen.

Brian hob seine Hände und umschloss Joans Hand mit den seinen. „Ich weiß, Schwesterchen...“, sagte er in Erinnerung an Steve bedrückt. Aber dann schob er die Gedanken an seinen Freund in die hinterste Ecke seines Gehirns. „Hast du nicht Lust dir Morgen mit uns das Geschäft anzusehen und anschließend einen Einkaufsbummel zu machen?“, fragte Brian seine Schwester hoffnungsvoll. Seit ihrer Ankunft vor zwei Wochen hatte sie außer dem Flughafen und dem Hotel noch nichts von Mailand gesehen.

„Brian, es ist zu früh. Ich kann noch nicht unter so viele Menschen gehen. Bitte versteh’ das.“

Er nickte. „Okay, aber du versprichst mir, dass du nicht den ganzen Tag in deinem Bett bleibst. Setz’ dich an den Pool, ließ ein Buch oder lass dich meinetwegen auch nur bräunen. Bitte!“, flehte er seine kleine Schwester an.

Joan lächelte. „Ich verspreche es dir.“

In der darauffolgenden Woche sollte Brian keine Gelegenheit bekommen, um ihr Versprechen zu überprüfen. Joans blasses Aussehen sprach jedoch für sich. Allem Anschein nach verbrachte sie den ganzen Tag im Haus.

Die Tage an denen Joan allein zu Hause war, vergingen ereignislos. Ewigkeiten schienen zwischen Tag und Nacht zu liegen. Minuten verstrichen so langsam wie Stunden. In der Nacht sehnte Joan den Tag herbei, am Tag die Nächte, in denen sie manchmal von Steve träumte. Stundenlang saß sie in ihrem Schaukelstuhl am offenen Balkon, im gemütlichen Wohnzimmer oder, was in der letzten Zeit häufiger vorkam, im Garten und wartete darauf, dass es endlich dunkel wurde und die Nacht hereinbrach.

Im Gegensatz zu Joan, konnte der Tag für Brian nicht lang genug sein. Meist war er bereits um sieben Uhr auf der Baustelle von Farleys anzutreffen, um die Arbeiten im Geschäft zu beaufsichtigen, die dank der vielen Bauleute zügig vorangingen. Während er den Vormittag im Geschäft verbrachte, telefonierte er immer wieder mit seinem italienischen Ansprechpartner Mr. Bandero, der hauptsächlich für die Einstellung des Personals zuständig war, Brian jedoch auch andere kleine Dinge abnahm, die bis zur Eröffnung am ersten Juli erledigt sein mussten. Er traf sich mit den Innenarchitekten, mit Vertretern der Werbefirma, den Geschäftspartnern des neuen Stofflieferanten, bei dem die erste Produktion ihrer Modelle beinahe abgeschlossen war, und gab den zwei bedeutendsten Zeitungen Mailands ein Interview. Als das Ereignis des Jahres wurde die Eröffnung von Farleys in Mailand angekündigt. Alle erdenklichen Leute der Modebranche und der High Society waren eingeladen worden und Brian rechnete mit regem Zulauf.

Unterdessen suchte Rachel einige Einrichtungen in Mailand auf, die sich für missbrauchte und misshandelte Kinder und Frauen einsetzten. Es gab die unterschiedlichsten Organisationen, doch sie alle hatten dasselbe Ziel: die psychologische Betreuung der Geschädigten. Rachel sprach mit den leitenden Personen, machte zahlreiche Fotos und ließ sich ausführlich über die jeweilige Einrichtung in Kenntnis setzen. Zum Schluss versprach sie jedem Einzelnen, dass sie sie bei den nächsten Spenden in Los Angeles berücksichtigen würde.

Neben diesen zeitaufreibenden Tätigkeiten sahen sich Brian und Rachel nur am Abend und diese wenigen Stunden gehörten dann nur ihnen.

„Allmählich mache ich mir Sorgen um Joan“, sagte Brian eines Juniabends nachdenklich zu Rachel, als sie mit einem Glas Wein am Pool saßen. „Wir sind seit einem Monat in Mailand und sie hat kein einziges Mal das Haus verlassen.“

„Lass ihr etwas Zeit“, sagte Rachel und schmiegte sich gegen seine Brust.

„Steve ist erst seit fünf Monaten tot und während der Rehabilitation hatte sie kaum Zeit, um zu trauern.“

„Sie sollte sich eine Beschäftigung suchen, um nicht zu viel nachzudenken“, sagte er und fuhr ihr mit den Fingern zärtlich über den nackten Arm.

Rachel zog die Augenbraue hoch. „Nicht jeder Mensch überwindet seine Trauer, in dem er bis spät in die Nacht hinein arbeitet. Jeder trauert auf seine Weise.“

„Joan entfernt sich von uns“, stellte er bekümmert fest. „Von mir...“

„Das siehst du falsch. Sie hat sich in ihre Trauer um Steve zurückgezogen, nicht von dir.“

Brian seufzte. „Früher konnten wir über alles reden, es gab keine Geheimnisse zwischen uns. Aber nun...“

„Liebling, versetz’ dich doch in ihre Lage. Was würdest du tun, wenn ich plötzlich nicht mehr da wäre?“

Entsetzt sah Brian sie an. Allein der Gedanke zerriss ihm das Herz. „Daran möchte ich gar nicht denken...“

„Joan hat Steve ebenso sehr geliebt“, gab sie zu bedenken.

„Habe ich dir heute schon gesagt, wie sehr ich dich liebe?“, fragte Brian liebevoll.

Rachel lächelte. „Das hast du ganz vergessen.“

„Dann hole ich es jetzt nach“, flüsterte er und umhüllte ihre Wangen mit seinen großen Händen. „Ich liebe dich.“ Er beugte sich zu ihr hinunter und küsste sie erst zärtlich, dann leidenschaftlicher.

Drei Tage vor der Eröffnungsfeier von Farleys überredete Brian seine Schwester, Rachel und ihn in die Stadt zu begleiten, um sich das Geschäft anzusehen. Der überwiegende Teil war fertig, nun mussten nur noch die Feinheiten erledigt werden.

Farleys befand sich inmitten des goldenen Dreiecks von Mailand, wo die exquisitesten Geschäfte der Mode- und Schmuckbranche vorzufinden waren. Neben Versace, Krizia, Armani und Valentino waren hier auch Faraone, Buccellati und Bulgari ansässig. In dem zweistöckigen Haus, das einzig die Kollektion von Farleys beherbergte, kam ihnen ein Italiener wie aus dem Buche entgegen. Der schwarzhaarige Mann im Alter ihres Vaters reichte Brian seine braungebrannte Hand. Er trug ein weißes Hemd, dessen obere Knöpfe geöffnet waren, sodass das ebenfalls schwarze Haar seiner Brust zu sehen war. Lächelnd begrüßte er Rachel und küsste ihre Hand.

„Mr. Bandero, ich darf Ihnen meine Schwester Joan vorstellen“, machte Brian sie miteinander bekannt.

„Es freut mich, Sie endlich kennen zu lernen, Mrs. Farley“, sagte Mr. Bandero lächelnd und küsste ihr ebenfalls die Hand.

Um ein Lächeln bemüht nickte Joan ihm zu und widmete sich dann der Einrichtung und den ausgestellten Modellen. Brian, der den prüfenden Blick seiner Schwester bemerkte, schwieg und folgte ihr langsam, während er ihre Meinung abwartete. Er schätzte ihr Gespür für das gewisse Etwas und hoffte, sie würde ihm einen Tipp für den letzten Schliff geben.

„Sag mir, was ich noch tun kann“, sagte Brian hoffnungsvoll, nachdem Joan ihren Rundgang durch das zweistöckige Geschäft beendet hatte. Und tatsächlich machte sie zwei Vorschläge, die sie sich am nächsten Tag in der Umsetzung ansahen.

„Wow! Jetzt ist es perfekt.“ Erfreut legte Brian den Arm um seine Schwester und küsste ihre Wange.

Die Eröffnung von Farleys wurde tatsächlich zum Ereignis des Jahres. Neben den geladenen Prominenten und den bedeutenden Personen aus der Politik- und Filmbranche bewunderten zahlreiche Presseleute die wunderschönen Abendkleider, die die Mannequins auf der breiten Treppe zwischen den beiden Etagen vorführten.

Matthew, der nur zu diesem Anlass aus New York angereist kam, war von der Eröffnung mehr als begeistert. Voller Stolz klopfte er seinem Sohn auf die Schulter und bestaunte dessen Werk. Damit hatte Brian bewiesen, dass er nun durchaus in der Lage war, seine erste Filiale zu übernehmen.

„Schatz, du siehst wunderschön aus“, sagte Matthew leise zu seiner Tochter, die ein langes, hellblaues Seidenkleid mit tief ausgeschnittenem Rücken von Farleys trug, und küsste ihre Wange. „Du wirst deiner Mom von Tag zu Tag ähnlicher.“

Lächelnd legte Joan ihre Hand an seine rechte Wange und küsste seine linke Wange, als Matthew einen alten Freund in der Menge bemerkte.

„Da hinten steht Richard Barckley. Erinnerst du dich an meinen Londoner Freund?“, fragte Matthew seine Tochter, die plötzlich seine Hand auf ihrem nackten Rücken spürte, während er sie sachte durch die Menge in Richtung Richard Barckley schob. Nach wenigen Schritten legte Joan die Hand an den Arm ihres Vaters und blieb inmitten der Menschenmenge stehen.

„Geh’ du nur zu ihm, Dad. Mir ist heute nicht nach alten Freunden.“

„Bist du sicher?“, fragte Matthew sanft.

Joan nickte. „Lass ihn nicht weglaufen, Dad. Ihr habt euch lange nicht gesehen.“

„Das haben wir zwei auch nicht, Kleines“, wandte Matthew väterlich ein. Er hatte ihre Trübseligkeit bemerkt und ließ sie nur ungern allein.

„Geh’ schon“, drängte sie ihren Vater lächelnd, doch ihre Augen strahlten nicht mit. „Wir haben die nächsten Tage für uns, Dad. Richard ist nur heute Abend hier.“

Er nickte zustimmend. „Gib’ mir Bescheid, wenn du heim möchtest. Ich begleite dich“, sagte Matthew

An diesem Abend wurde Joan einige Male von jungen Männern angesprochen, doch sie lehnte jede Bitte um einen Tanz ab. Nach einer Weile wurde ihr die große Menschenansammlung zu viel und sie zog sich in den hinteren, ruhigeren Teil des Geschäftes mit einem Glas Champagner zurück.

„Sind Sie auch diesem Trubel entflohen?“, fragte plötzlich jemand dicht hinter ihr und Joan seufzte innerlich. Wie hatte sie nur glauben können hier vor Männern sicher zu sein?

„Verzeihen Sie meine Direktheit...“, sagte Joan, ohne sich zu dem fremden Mann umzudrehen. „...aber ich habe kein Interesse an einem Tanz mit Ihnen.“

„Gut, dann sind wir schon zwei“, sagte er gelassen und trat neben sie.

Unwillkürlich musste Joan lächeln. „Sie wollen sich also nur mit mir unterhalten?“

„Dazu muss ich erst herausfinden, ob sich ein längeres Gespräch mit Ihnen lohnt“, sagte der Fremde, während seine Augen auf die Gäste des Abends gerichtet waren. Er spürte jedoch ihren fragenden Seitenblick an sich heften. „Diese Frauen dort drüben zum Beispiel sind auf Männerjagd.“ Er deutete zu zwei blonden Frauen in knappen Kleidern hinüber, die mit mehreren Männern gleichzeitig Blicke tauschten.

„Was ist daran so schlimm?“

„Dass sie nicht nach ihrem Herzen, sondern nach dem Geruch von Geld entscheiden.“

„Und das macht sie uninteressant?“

„Für mich ja.“ Zum ersten Mal traf sich ihr Blick und Joan sah in die braunen Augen eines jungen Italieners. Er musste etwa in ihrem Alter sein. „Ich möchte mehr von einer Frau, als das sie einem reichen Mann nachrennt und sein Geld ausgibt.“

„Dann gehören Sie zu der Kategorie Mann, die ihrer Frau eine Karriere nicht missgönnen, sondern sie dabei unterstützen?“

Er lächelte. „So etwas in der Art.“

Eine Zeitlang unterhielten sie sich über unverfängliche Themen und spotteten über die anderen Gäste. Schließlich erfuhr Joan von ihrem Gegenüber, dass er an der hiesigen Universität Modedesign studierte und so tauschten sie angeregt ihre Ansichten über die Modebranche aus.

„Nun, da wir uns besser kennen gelernt haben...“, sagte der junge Fremde nach beinahe einer Stunde. „Wie wäre es jetzt mit einem Tanz?“

„Ich dachte, Sie wollten nicht mit mir tanzen“, erinnerte Joan ihn.

„Ich fürchte, ich habe gelogen“, sagte er reumütig und hielt ihr seine Hand entgegen. „Darf ich bitten?“

Sie lächelte. „Gern, obwohl ich glaube, dass Sie das die ganze Zeit im Sinn hatten.“

„Vielleicht werden Sie die Wahrheit eines Tages erfahren.“

„Das glaube ich nicht“, sagte sie und ließ sich von ihm zu den anderen tanzenden Paaren führen. Einen Moment darauf spürte sie seine Hand auf ihrem nackten Rücken. Ein eigenartiges Kribbeln durchfuhr sie.

Nachdem Joan sich am späten Abend von dem Unbekannten verabschiedet hatte, stieg sie zu ihrem Vater auf die Rückbank der schwarzen Limousine. Während Matthews Aufenthalt in Mailand stand ihm der Chauffeur des Grand Hotels rund um die Uhr zur Verfügung, aber Matthew wollte die Vorzüge der Limousine nur bei wichtigen, öffentlichen Einladungen in Anspruch nehmen.

„Hast du dich gut mit Paolo Bandero unterhalten?“, fragte Matthew seine Tochter auf der Fahrt interessiert.

Verwundert wandte Joan den Kopf zu ihm herum. „Bandero? Ist er…“

„Der Sohn von Mr. Bandero“, führte Matthew ihren Gedanken zu Ende.

„Ich hatte keine Ahnung, wer er ist. Er hat sich mir nicht vorgestellt.“

Matthew zog die Brauen hoch. „Worüber habt ihr euch denn solange unterhalten?“

„Dad! Du sollst mich nicht immer beobachten!“, mahnte sie ihren Vater in gespielter Entrüstung.

„Du bist mein kleines Mädchen, ich werde immer ein Auge auf dich haben“, sagte er schmunzelnd, worauf sie stöhnte.

„Das sind ja schöne Aussichten.“

Matthew lächelte und nahm ihre Hand zwischen die seinen. „Wenn ich mich recht erinnere, sind es nur noch wenige Wochen, bis mein kleines Mädchen Geburtstag hat. Hast du etwas Besonderes geplant?“

Sie schüttelte den Kopf und richtete ihren Blick aus dem Seitenfenster hinaus. „Nicht dieses Jahr...“

Verständnisvoll nickte Matthew und sprach ihren Geburtstag in den nächsten drei Tagen nicht mehr an. Nach einem gemeinsamen Abendessen im La Scaletta verabschiedete Joan sich im Auto mit einer festen Umarmung von ihrem Vater, da dieser am darauffolgenden Morgen zurück nach New York fliegen würde.

Doch in den gemeinsamen drei Tagen mit ihrem Vater war sie häufiger vor der Tür gewesen, als in den Wochen seit ihrer Ankunft. Sie hatte Blut geleckt und wollte mehr von Mailand sehen. Sie wollte diese fremde Stadt kennen lernen. Brian war jedoch in seiner Arbeit so eingespannt, dass er nur wenig Zeit für seine Schwester und Rachel übrig hatte. So erkundeten Joan und Rachel die Stadt allein. Sie besichtigten den Mailänder Dom, sahen den älteren Italienern zu, wie sie auf den Bänken sitzend die Tauben auf dem Domplatz fütterten, und besuchten die Pinacoteca Ambrosiana, die eine beachtliche Gemäldesammlung bereithielt. Sie bummelten durch die Galleria Vittorio Emanuelle II, dem beliebtesten Treffpunkt der Mailänder, und aßen dort in einem der Restaurants zu Mittag. An den Abenden, an denen Brian geschäftliche Treffen wahrnehmen musste, zogen sie los, um im Navigli-Viertel das rege Nachtleben in den zahlreichen Musikkneipen kennen zu lernen. Das Viertel strahlte mit seinen engen Gassen einen Hauch Venedigs aus. Tagsüber schlenderten sie die engen Strassen entlang und überquerten die Brücken, die über die beiden Kanäle Naviglio Grande und Naviglio Pavese führten, um an weiteren kleinen Geschäften, Restaurants und Cafe’s vorbeizukommen. Immer wieder blieben sie stehen, betraten die Geschäfte und plauderten mit den Italienern.

Zu Joans Geburtstag führte Brian seine beiden Frauen ins Al Porto in der Piazza Generale Cantore aus. Anschließend gingen sie ins Plastic tanzen und ließen den Abend mit einem Glas Wein am Kamin ausklingen.

„Jetzt wo du Zweiundzwanzig bist, stelle ich dir eine sehr wichtige Frage“, sagte Brian mit ernstem Gesichtsausdruck. „Wie stellst du dir dein weiteres Leben vor?“

Joan lachte auf. „Das haben wir uns als Kinder jedes Jahr zum Geburtstag gefragt...“

„Du erinnerst dich?“, fragte er lächelnd.

„Wie könnte ich das vergessen? Dein größter Wunsch mit etwa zwölf war, ein wildechter Cowboy mit eigener Ranch zu sein.“

Sie hielt sich beschämt die Hand vor die Augen. „Erinnere mich nicht daran!“

Rachel lachte und lauschte den minutenlangen Erzählungen der beiden, als sie einander die Kindheitsträume des jeweils anderen in Erinnerung zurückriefen. Sie lachten und alberten herum, bis ihnen die Bäuche wehtaten.

„Du willst also von meinen Träumen erfahren?“, sagte Joan schließlich wieder ernster.

„Wir stehen mit beiden Beinen zu sehr in der Realität, um noch an die Verwirklichung unserer Träume zu glauben“, wandte Brian ein.

„Erst mit dem Tod eines Menschen, sterben auch dessen Träume.“

„Damit magst du Recht haben.“ Er lächelte. „Okay, dann erzähle mir von deinen Träumen, Schwesterchen. Sag mir, wie du dir das nächste Jahr vorstellst.“

„Ich wünschte, ich wäre glücklich“, sagte sie leise und sah ihn an. „Ich möchte mein Leben wieder genießen... lachen... und es nicht mit Problemen verkomplizieren. Und irgendwann lerne ich vielleicht auch einen netten Mann kennen, der Steves Stelle ersetzt.“ Tränen schimmerten in ihren Augen.

„Es wird niemals jemand kommen, der Steve ersetzt“, sagte Brian mitfühlend. „Aber du wirst mit Sicherheit wieder jemanden kennen lernen, der dich so liebt, wie Steve es getan hat.“

Unter Tränen nickte Joan ihm zu. Nur einmal in ihrem Leben wollte sie glücklich sein, mehr verlangte sie nicht. Sie hatte geglaubt mit Steve ihr Glück gefunden zu haben, aber es sollte nicht lange halten. Und wenn sie nun ehrlich zu sich war, dann musste sie sich eingestehen, dass Steve und sie in der kurzen Zeit ihrer Beziehung viele Schwierigkeiten hatten bewältigen müssen. Es war ein ständiges Auf und Ab gewesen, da sie sich selbst durch den Beschlag der Medien in ihrer Welt eingeengt gefühlt hatte. Steve, der nie viel von den Medien gehalten hatte, war nur einmal mit ihr nach New York gereist, um ihre Eltern zu besuchen. Vier Tage lang hatte er die ständige Beobachtung der Fotografen ertragen, ohne sich bei ihr zu beschweren, doch dann erschien ein Artikel über seine Vergangenheit, sein bisher langweiliges Leben, in der Zeitung und sie waren noch am selben Tag nach Los Angeles zurückgeflogen. Danach hatte er sie kein einziges Mal mehr nach New York begleitet.

Schaute Joan nun aber in die Zukunft, dann wollte sie mit einem Mann ihr Glück finden, ohne das sie stets um ihre Liebe kämpfen musste. Das war ihr größter Wunsch - ihr Traum.

Nach wochenlangen Versuchen gelang es Rachel im August endlich, Kontakt zu der Oberen eines Klosters aufzunehmen, das sich eine Autostunde außerhalb von Mailand befand. Seit Jahren war das Kloster, das sich um misshandelte Kinder kümmerte, in Los Angeles allen bekannt, doch niemand hatte es bisher besucht.

Mit ihrer Kamera ausgerüstet, begleitete Joan Rachel erstmals bei einer ihrer Touren und hielt sich während der Fahrt genau an den Zettel, auf dem der Weg zum Kloster von einer Nonne geschrieben worden war. Die Fahrt führte sie in eine einsame Gegend, in der marode Bauernhäuser und verlassene Höfe an die Anfänge von Mailand erinnerten. Inmitten dieser Ruhe fuhren sie die einzige Strasse entlang, die vermutlich einst die Verbindungsstrasse unter den einzelnen Gehöften gewesen war.

Als sie nach einer Fahrt ins scheinbar Endlose bereits dachten, sich völlig verfahren zu haben, erblickten sie zwischen dichtbewachsenen Bäumen ein großes, altertümliches Kloster, das von einem hohen Zaun umgeben war.

„Meinst du, wir sind hier richtig?“, fragte Joan ihre Freundin skeptisch und stieg aus dem Auto. Gefolgt von Rachel trat sie an das hohe Eisentor und spähte durch den rostigen Zaun hindurch.

„Es würde zu der Beschreibung der Nonnen passen“, erklärte Rachel selbst verwundert, da das Grundstück nicht wie ein Zufluchtsort für misshandelte Kinder und Frauen aussah. Das graue Gemäuer schien heruntergekommen und seit Jahren nicht mehr betreten worden zu sein. Überall wucherten große Sträucher und Bäume ineinander, sodass der Blick auf das Haus fast unmöglich war.

„Wir sollten umkehren und irgendjemanden nach dem richtigen Weg fragen“, sagte Joan und wandte sich zum Gehen um. Als sie nur noch wenige Schritte vom Auto entfernt war, rief Rachel sie leise beim Namen und Joan drehte sich zu ihrer Freundin um. Da sah auch Joan die Nonne hinter dem Zaun, die aus dem Nichts aufgetaucht war. In ihrer schwarzen Tracht kam sie langsam den schmalen Sandweg entlanggelaufen und blieb Rachel gegenüber auf der anderen Seite des Tores stehen.

„Kann ich Ihnen helfen?“, fragte sie freundlich, doch das Tor blieb geschlossen.

„Ich bin Rachel Maldione...“, stellte Rachel sich auf Italienisch vor und deutete lächelnd auf Joan, die inzwischen neben sie getreten war. „... und das ist Joan Farley.“

„Ci. Bitte kommen Sie“, sagte die Nonne und öffnete mit einem alten Schlüsselbund das schwere Eisentor. Kaum das Joan und Rachel das Grundstück betreten hatten, fiel das Tor krachend ins Schloss zurück. Schweigend schlossen sie sich der Frau an, die Joan auf Ende sechzig schätzte. Ihr Gang war schleppend und an ihrer leicht gebeugten Körperhaltung war zu erkennen, dass sie ihr Leben mit schwerer körperlicher Arbeit verbracht hatte. Während sie dem schmalen Sandweg durch die herunterhängenden Äste der Bäume folgten, war Joans Blick auf das Kloster gerichtet, das nur von weitem heruntergekommen wirkte. Je näher sie dem alten Gemäuer kamen, desto schöner fand Joan es. Der erste Blick hatte sie getäuscht und in den folgenden Stunden sollten sie von der Oberen erfahren, dass genau dies beabsichtigt wurde. In Mailand selbst wusste kaum jemand von der Existenz des Klosters, was ein entscheidender Vorteil war, um die Kinder und Frauen vor denjenigen zu schützen, vor denen sie geflohen waren.

Die Rückseite des Klosters, die vom Tor nicht zu erkennen gewesen war, offenbarte ihnen den vollen Glanz des Hauses. Auf Anhieb gefiel ihnen, was sie sahen. Der Sandweg endete und ging zu einer riesigen Rasenfläche über, auf der unzählige Hühner laut gackerten und einige Jungen mit einem Ball spielten.

„Schwester Evelyn wird Sie gleich empfangen“, sagte die alte Nonne und lief die breiten Steinstufen der Treppe hinauf. Dann war sie im Haus verschwunden.

Lächelnd warf Rachel ihrer Freundin einen Blick zu. „Es ist schön hier.“

Neugierig sahen sie sich von ihrem Platz aus um. Neben dem Kloster grenzten die ebenso alten Ställe an, die noch immer fünf Pferde und zwölf Kühe beherbergten. Die Nonnen melkten die Kühe jeden Tag selbst, obwohl keine von ihnen je zuvor auf einem Bauernhof gelebt hatte. Diese und viele andere Aufgaben hatten sie sich mit der Zeit selbst angeeignet, um sich und ihren Gästen ein angemessenes Leben zu sichern. Hier draußen gab es keine Männer, die ihnen bei den schweren Arbeiten halfen.

„Guten Tag“, sagte plötzlich hinter ihnen eine Frauenstimme in perfektem Englisch. Joan und Rachel wandten sich erschrocken um und standen einer jungen Nonne in schwarzer Tracht gegenüber. In ihren Augen lag ein freundlicher Ausdruck, als sie ihre Gäste anlächelte und die Stufen hinunterstieg. „Willkommen im St. Christoph’s. Ich bin Schwester Evelyn.“ Sie streckte ihnen lächelnd die Hand entgegen, worauf sie sich ihr vorstellten.

Wie sie nach einigen Minuten von Schwester Evelyn erfuhren, war sie Amerikanerin und lebte seit ihrer Geburt im Kloster. Seit vier Jahren war sie in Mailand und verbrachte ihre Zeit im St. Christoph’s. Vor kurzem erst hatte sie ihren siebenundzwanzigsten Geburtstag gefeiert.

„Mich haben die Erzählungen über das St. Christoph’s hergeführt. Ich wollte helfen“, erklärte sie ihnen.

„Was ist so besonderes an diesem Zufluchtsort?“, fragte Joan verwundert, während Rachel Schwester Evelyn verstand.

„Was die Nonnen hier erschaffen haben, wäre in Los Angeles niemals möglich. Schau’ dich um, dann verstehst du es“, sagte Rachel beeindruckt und Schwester Evelyn lächelte. Sie erinnerte sich an ihren ersten Tag, an den Anblick des Klosters, der sie sofort in seinen Bann gezogen hatte. Etwas Magisches, Geheimnisvolles ging von dem alten Gemäuer aus. Auch nach vier Jahren war sie gern hier, sie hatte ihre Entscheidung, Amerika zu verlassen, nie bereut. Hunderte von Kindern und Frauen waren seit ihrer Ankunft gekommen und wieder gegangen, aber der Schmerz in ihren Augen war immer derselbe. Die verlorenen Kinderaugen verbargen weder den körperlichen Schmerz, noch die Angst.

„Wir sind auf Hilfe von Außen angewiesen“, erklärte Schwester Evelyn ihnen, während sie hinüber zu den Ställen gingen. „Derzeit leben fast dreißig Mädchen und Jungen und fünfzehn Frauen bei uns“, fuhr sie fort.

„Wie viele Nonnen und Schwester kümmern sich um all das hier?“, fragte Rachel interessiert und ließ den Blick über die endlosen Felder hinter den Stallungen schweifen. Sie konnte sehen, dass darauf noch immer Obst und Gemüse angebaut wurde.

„Siebzehn“, antwortete Schwester Evelyn in belanglosem Ton.

Rachel blieb der Mund offen stehen. „Siebzehn Frauen bewirtschaften diese Felder, versorgen die Tiere und kümmern sich um fast fünfzig misshandelte Kinder und Frauen?“, fragte sie fassungslos. Ihre Bewunderung für die Nonnen stieg ins Unermessliche. „Das ist unglaublich.“

An diesem Abend verließen sie erst nach sieben Uhr das St. Christoph’s. Rachel hatte die Oberin persönlich kennen lernen dürfen und ein sehr langes und interessantes Gespräch mit ihr geführt. Sie war davon überzeugt, ebenfalls helfen zu können, indem sie speziell für das Kloster eine Wohltätigkeitsveranstaltung mit Fotos und Gesprächssaussagen in Los Angeles organisierte. Dabei bekämen dann mögliche Spender erstmals einen näheren Einblick in die Arbeit einer Hilfsorganisation außerhalb Amerikas. Dankbar für jede Unterstützung willigte die Oberin ein und freute sich über die beiden jungen Frauen, die sie von nun an jeden Tag besuchen kämen.

„Du begleitest Rachel?“, fragte Brian beim Abendessen seine Schwester überrascht, da sie nie zuvor sonderliches Interesse an Rachels Arbeit gezeigt hatte.

„Ich möchte helfen“, erklärte Joan.

Er lächelte. „Das finde ich gut.“

Der Sommer verging mit ihren täglichen Besuchen im Kloster viel zu schnell. Obwohl ein Tag dem anderen glich, langweilten sie sich niemals in der Gesellschaft der Kinder und Frauen des St. Christoph’s. Morgens brachen Rachel und Joan zu ihrer einstündigen Autofahrt auf, verbrachten den Tag mit Gesprächen und Spielen im Kloster und fuhren am späten Nachmittag wieder heim, wo sie mit Brian zu Abend aßen.

Im September brachte ein alter Mann zwei völlig verängstigte Mädchen ins Kloster. Er vermutete, dass sie sich tagelang auf seinem Hof versteckt hielten, ehe er die abgemagerten Mädchen entdeckt hatte. Ihre kleinen Körper waren mit Narben und frischen, noch blutenden Schrammen überseht, als der Mann sie zu ihnen brachte. Beim Anblick der ausdruckslosen Augen verkrampfte sich Joans Herz. Noch nie zuvor hatte sie etwas so grauenvolles gesehen.

In den nächsten Wochen versuchten die Nonnen und auch Rachel den Mädchen, die vermutlich Schwestern waren, in Gespräche zu verwickeln, doch keine der Frauen brachte sie zum Sprechen, was vermuten ließ, wie tief die Angst der Mädchen saß.

Als Joan eines Tages mit einer der Stuten über die Wiese gelaufen kam, sah sie, wie die Mädchen sie von der untersten Steinstufe des Klosters beobachteten. Langsam überquerte sie die Wiese weiter in Richtung der Stallungen und überlegte, ob sie zu den Schwestern hinüber gehen sollte. Irgendetwas schien die Mädchen an ihrem Anblick zu interessieren, denn noch nie zuvor hatten sie die Köpfe in der Gegenwart eines Erwachsenen erhoben. Selbst zu den anderen Kindern hatten sie keinen Kontakt aufgenommen, sie lebten für sich, zurückgezogen und immer auf der Hut.

„Möchtet ihr eine Runde auf ihr reiten?“, fragte Joan die Mädchen aus einigen Metern Entfernung, ehe sie sich bewusst wurde, was sie da tat, denn sie hatte keinerlei Erfahrung mit misshandelten Kindern. Rachel war die Expertin, sie dagegen war nur mitgekommen, um die Kinder zu beschäftigen. „Traut euch ruhig, sie beißt nicht“, sagte Joan unsicher. Die Mädchen tauschten einen Blick und sahen Joan scheu an, die nun lächelte. „Ich verspreche euch, ich beiße auch nicht.“ Da standen die Schwestern in ihren weißen Kleidern tatsächlich von der Stufe auf. Die Jüngere der Beiden hielt sich dicht an ihre Schwester, die wiederum ihre Hand hielt. Mit langsamen Schritten kamen sie über den Rasen zu Joan und dem Pferd gelaufen.

„Sie ist ganz zahm“, sagte Joan und streichelte der Stute über die lange Mähne. „Ihr könnt sie auch streicheln, wenn ihr wollt“, bot sie ihnen mit sanfter Stimme an und beobachtete, wie die Ältere der Schwestern die Hand ihrer Schwester losließ und näher an die Stute herantrat. Mit ausdruckslosem Gesicht berührte sie das Fell am Bauch der Stute und streichelte sie mit ihrer flachen Hand. „Das gefällt ihr“, sagte Joan lächelnd und das Mädchen schien sich in ihrer Gegenwart ein wenig zu entkrampfen. Sie schien zu spüren, dass von Joan keine Gefahr ausging. „Ich bin Joan“, stellte sie sich im beiläufigen Ton vor, während sie mit der Hand über die Nüstern der Stute fuhr. „Verrätst du mir eure Namen?“

Das Mädchen hielt inne und sah sie scheu an. In ihrem Blick lag tiefe Angst. Wovor sie Angst hatte, wusste Joan nicht, doch sie hatte sie bei beiden Mädchen bemerkt, sobald sich ihnen jemand näherte. „Laila“, sagte die Ältere plötzlich und sah ihre Schwester an. „Das ist Celia.“

„Ihr habt sehr hübsche Namen.“ Sie lächelte, als sie bemerkte, wie geschickt nun auch Celia mit der Stute umging. „Du machst das wunderbar, Celia. Woher könnt ihr das so gut? Lebt ihr auf einem Bauernhof?“

Laila zögerte, dann nickte sie und nahm die Hand ihrer Schwester.

„Ich muss die Stute zurück in den Stall bringen, aber wenn ihr möchtet, könnt ihr noch eine Weile bei ihr bleiben“, schlug Joan ihnen vor. Als sie keine Antwort bekam, setzte sie sich mit der Stute langsam in Bewegung. Nach wenigen Schritten bemerkte sie, dass die Schwestern ihr folgten.

Mit jedem weiteren Tag drang Joan auf ihre eigene Art zu den Mädchen durch und erfuhr aus den wenigen Worten, die die Schwestern sprachen, dass sie dreizehn und elf Jahre alt waren. Nach einigen Wochen erzählte Laila unter Tränen von ihrer geliebten Mutter, die vor vier Jahren gestorben war. Mit dem tragischen Tod der Mutter hatte sich das Leben der Mädchen von Grund auf verändert. Von einem zum anderen Tag war der streng erziehende Vater mit seinen beiden Töchtern allein. Er hatte schon immer die Hand gegen sie erhoben, wenn sie Unfug angestellt hatten, doch nun ließ er seine Wut über den Tod seiner Frau bei jeder Kleinigkeit, jedem Widerspruch an Laila und Celia aus. Laila erzählte Joan, wie sie ihre kleine Schwester wieder und wieder vor der strafenden Hand des Vaters geschützt und dafür doppelte Prügel von ihm bekommen hatte. Nicht nur einmal schlug er sie bis zur Bewusstlosigkeit und brach ihr etliche Male die Rippen. Dennoch musste Laila unter schlimmen Schmerzen auf dem Bauernhof weiterarbeiten. In diesen Wochen glaubte sie die schrecklichste Zeit ihres Lebens zu durchleben, doch als ihr Vater eines Tages in ihr Zimmer kam und sie bat, lieb zu ihm zu sein, wurde sie eines Bes-seren belehrt. Seither verging er sich regelmäßig an ihr. Monate darauf hatte sich auch Celias Blick verändert.

Im September und Oktober bekam das Kloster soviel Zulauf wie noch nie zuvor. Immer öfter kamen junge Frauen zu ihnen, die jahrelang misshandelt worden waren. Verzweifelte Mütter gaben ihre Kinder in der Hoffnung auf ein besseres Leben in die Obhut der Nonnen und kehrten zu ihren Männern zurück. Meistens hörten diese Kinder nie wieder etwas von ihren Eltern, doch Joan dachte, dass dies vielleicht so besser war. Sie waren der Hölle entkommen und hatten nun zum ersten Mal die Chance auf ein normales Leben. Ein Leben ohne Gewalt.

Neben dem großen Ansturm auf das Kloster, bemerkte Joan, dass die körperlichen Verletzungen ihrer Schützlinge zunehmend schlimmer wurden. Längst blieb es nicht mehr bei Schlägen und Vergewaltigungen. Zu ihnen kamen Frauen, deren Gesicht durch die harten Schläge kaum mehr erkenntlich war. Hinter tiefen Narben, Blutergüssen und geschwollenen Augen schien es niemanden mehr zu geben. Um ein Haar wären sie zu Tode geprügelt worden. Blickte man in die Augen der Frauen, dann sah man bei den meisten, dass es Momente gegeben hatte an denen sie sich nichts sehnlicher als ihren Tod gewünscht hatten. Unter den Mädchen und jüngeren Frauen gab es etliche, die zur Prostitution gezwungen worden waren. Bei einigen von ihnen stellte der Arzt so schwere Verletzungen im Intimbereich fest, die erkennen ließen, dass sie niemals eigene Kinder bekommen würden könnten. Viele von ihnen waren nicht älter als fünfzehn Jahre.

Eines Nachmittags, als Joan mit Laila und Celia bei den Pferdeställen stand und die Pferde mit Futter versorgten, hielt ein roter Kleinwagen vor dem großen Eisentor des Geländes und begann laut zu Hupen. Erschrocken zuckten alle drei zusammen.

„Ihr bleibt beide hier bei den Pferden“, sagte Joan zu den Mädchen und folgte der jungen Nonne, die über den Rasen gelaufen kam. Mit schnellem Schritt rannten sie den schmalen von Ästen verhangenen Weg entlang und nur das Eisentor trennte sie von dem aufgebrachten jungen Mann, dessen weißes Hemd mit Blut durchtränkt war.

„Helfen Sie mir!“, rief er ihnen aus der geöffneten Beifahrertür zu. Ein Blick ins Wageninnere zeigte ihnen eine dunkelhaarige, junge Frau.

Augenblicklich schloss die Nonne das Tor auf und rannte um den Wagen herum. Was sie darin erblickte, verschlug ihr die Sprache. Die junge Frau, kaum älter als sie selbst, saß bewusstlos auf dem Beifahrersitz. Der Oberkörper war voller Blut. Jemand hatte ihr mit einem Messer die Brust aufgeschlitzt.

„Sie muss ins Krankenhaus!“, sagte Joan, die gegen ihren Brechreiz ankämpfte.

„Dort kann sie nicht hin“, sagte der Junge, der das Mädchen offensichtlich hatte beschützen wollen, denn an seinem Arm rann ebenfalls Blut hinunter.

„Kommen Sie... helfen Sie uns!“, forderte die Schwester ihn auf und packte die Arme des Mädchens an.

Mit Hilfe des jungen Mannes trugen sie die Verletzte ins Kloster und brachten sie in das Behandlungszimmer, wo Schwester Ruth zu ihnen stieß, die früher als Krankenschwester gearbeitet hatte.

„Wir haben hier nicht die Möglichkeiten, sie zu behandeln. Sie wird verbluten“, entgegnete Joan aufgeregt, da sie die Blutung nicht stoppen konnten.

„Informieren sie den Doktor. Er muss sofort herkommen“, wies Schwester Ruth die andere Schwester an, die sogleich aus dem Zimmer eilte.

Keine zehn Minuten später kam der alternde Arzt mit seiner Arzttasche ins Zimmer gerannt, der für jegliche ärztliche Maßnahmen gerufen wurde, und beurteilte die Schwere der Verletzung.

„Es sieht schlimmer aus, als es ist“, sagte der Arzt und sah zu den beiden jungen Frauen auf. „Ich brauche Sie beide. Ich muss die Wunde nähen.“

„Ich habe so etwas noch nie gemacht“, platzte Joan hervor.

„Keine Angst, Sie werden Schwester Ruth und mir nur die Instrumente reichen. Schwester, gehen Sie sich die Hände waschen“, wandte er sich darauf an Schwester Ruth, die nickte und für einen Moment verschwand.

„Wird Sie durchkommen?“, fragte Joan den Arzt, als sie allein waren. „Sie hat sehr viel Blut verloren...“

„Wir werden unser Möglichstes tun“, antwortete der Arzt völlig ruhig, während er dem Mädchen ein Narkotikum spritzte. Er sah kurz zu Joan auf. „Ziehen Sie sich die Handschuhe über“, wies er sie an.

Nachdem Schwester Ruth zu ihnen zurückgekehrt war, verdrängte Joan jegliche Gedanken an den Umstand der Verletzung und konzentrierte sich einzig auf die Anweisungen des Arztes und der Schwester.

Auf ihrer einstündigen Heimfahrt schwiegen Joan und Rachel. Sie dachten beide an das junge Mädchen, das nach der Operation noch nicht aufgewacht war. Der Arzt hatte jedoch gemeint, dass sie es schaffen würde.

„Du solltest dich umziehen gehen“, sagte Rachel, als sie das Auto vor dem

Haus abstellte und einen Blick auf ihre Freundin warf. An Joans Kleidung klebte das Blut des Mädchens.

„Oh Gott! Was ist passiert?“, fragte Brian von ihrem Anblick schockiert. „Ist euch etwas zugestoßen?“

„Uns geht es gut, Liebling“, beruhigte Rachel ihn. „Es gab einen Zwischenfall im Kloster.“

„Von wem ist das Blut?“

„Es ist nicht meins, Brian“, sagte Joan und flüchtete die Treppe hinauf in ihr Zimmer. Dort zog sie sich ihre Kleidung aus und stieg unter die Dusche.

Rachel“, sagte er mit fester Stimme. „Was ist passiert?“

Da erzählte Rachel ihm von dem Ereignis im Kloster, Joans Einsatz bei der Operation und das das Mädchen noch nicht zu sich gekommen war.

„Ihr werdet nicht mehr ins Kloster fahren. Es ist zu gefährlich“, erklärte er in Sorge um sie entschieden, doch als sich ihre Blicke trafen, wusste er, dass Rachel seiner Aufforderung nicht folgen würde. Sie war sich der ständigen Gefahr bewusst, der sie sich als Helferin aussetzte, aber es war nicht nur ihr Job, sondern vielmehr der innere Drang diese Frauen und Kinder vor ihren Peinigern zu beschützen. „Sei wenigstens vorsichtig“, bat Brian seine Freundin besorgt.

„Das verspreche ich dir. Ich setze mich keiner unnötigen Gefahr aus.“

In dieser Nacht schlief Joan kaum. Sie wurde die Bilder nicht los, sah das blutüberströmte Mädchen wieder auf dem Beifahrersitz liegen. Immer wieder sah sie das viele Blut vor sich. Es klebte an ihrer Kleidung... ihren Händen... und ihrem Gesicht. Zum wiederholten Male wachte Joan schwitzend auf und schaltete das schwache Licht der Nachttischlampe an, um so zurück in die Wirklichkeit zu gelangen.

Der Morgen schien wie jeder andere zu sein. Nachdem Joan ihre Kleidung in den Müll geworfen hatte, wusch sie sich abermals die Hände und setzte sich zu Brian und Rachel an den Frühstückstisch.

„Begleitest du Rachel wieder ins Kloster?“, fragte Brian seine Schwester in der Hoffnung, sie würde seine Frage verneinen.

Joan aber nickte. „Ich möchte nach dem Mädchen sehen.“

Brian schüttelte den Kopf und sah zu Rachel. „Nach dem gestrigen Tag, kennst du meine Meinung. Fährst du dennoch?“

„Ich muss, Brian... Bitte versteh’ das.“

„Tut mir leid, aber das kann ich nicht“, sagte er verdrossen, schob mit einem lauten Knarren seinen Stuhl zurück und eilte aus der Küche.

„Briiaan!“, rief Rachel ihm nach. Da hörten sie, wie die Eingangstür ins Schloss fiel.

„Was hat er denn?“, fragte Joan und begann den Tisch abzuräumen.

„Er ist um uns besorgt.“

Joan lächelte. „Brian macht sich immer um uns Sorgen.“

Als sie eineinhalb Stunden darauf im Kloster eintrafen, wurden sie bereits von Schwester Evelyn erwartet. Lächelnd kam sie von den Pferdeställen zu ihnen herübergelaufen.

„Laila und Celia werden morgen von ihrer Großmutter abgeholt. Sie hat die Verantwortung für beide übertragen bekommen“, teilte sie ihnen erfreut mit.

Joan lächelte. „Endlich eine gute Nachricht“, sagte sie, obwohl sie die Mädchen vermissen würde. In den vergangenen Monaten waren sie Freundinnen geworden. „Und was ist mit ihrem Vater? Ist er im Gefängnis?“, fragte sie hoffnungsvoll.

„Er hatte einen Unfall“, sagte Schwester Evelyn leise. „Er war auf dem Weg zu uns, als er betrunken von der Strasse abkam und gegen einen Baum fuhr. Man konnte ihm nicht mehr helfen.“ Die Schwester senkte den Blick und gedachte dem Mann. Für Joan und Rachel war er ein Schwein, das nicht annähernd seine gerechte Strafe bekommen hatte.

Am nächsten Tag fuhren Joan und Rachel eher als üblich ins Kloster. Joan wollte die Stunden vor der Abreise der Mädchen mit ihnen verbringen. Laila und Celia waren aufgeregt, da sie ihre Großmutter vor Jahren zuletzt gesehen hatten und sie kaum kannten. Als schließlich das kleine, blaue Auto vorfuhr, fielen die Mädchen in Joans Arme. Tränen liefen über ihre Wangen, während sie einander ein letztes Mal fest drückten.

„Es wird euch an nichts fehlen“, flüsterte Joan.

Du wirst uns fehlen“, sagte Laila mit Tränen in den Augen.

„Ihr werdet mir auch fehlen.“ Abermals zog Joan sie in ihre Arme und beobachtete Minuten darauf, wie die beiden in das Auto ihrer Großmutter stiegen. Vom Tor aus winkten die Nonnen sowie Rachel und Joan ihnen nach. „Sie werden bei ihr ein besseres Leben haben“, sagte Joan leise.

An den darauffolgenden sieben Tagen kümmerte Joan sich ausschließlich um das verwundete Mädchen, das die meiste Zeit über schlief. Täglich wechselte sie den Verband und als sich der Arzt die Wunde erneut ansah, schien er zufrieden zu sein. Er hatte einen Großteil des Gewebes entfernen müssen, sodass die Brust nun sehr viel kleiner als die andere war, doch ihm genügte, dass das Mädchen überhaupt noch lebte.

Einige Tage darauf hatte sie sich von dem Blutverlust weitgehend erholt und sah sich in Joans Beisein zum ersten Mal nackt im Spiegel an. Tränen rannten aus ihren Augen, als sie ihren Oberkörper schnell wieder bedeckte. In ihrer Verzweiflung zerschlug sie bei der nächsten Gelegenheit den Spiegel in ihrem Zimmer und schnitt sich die Pulsadern an den Handgelenken auf. Joan fand sie in ihrem Bett, die Arme voller Blut... Es war bereits zu spät. Der letzte Hauch Leben hatte diesen misshandelten Körper verlassen.

Der Schock über den Selbstmord saß bei allen tief. Die Kinder lachten noch weniger als sonst, sprachen nur wenig miteinander und unterließen das Spielen tagelang ganz. Alle dachten an das Mädchen, das als erste hinter den Stallungen beerdigt wurde.

Der unerwartete Tod des Mädchens traf Joan so schwer, dass sie Rachel zwei Tage darauf mitteilte, sie nun nicht mehr ins Kloster zu begleiten. Sie hatte sich überwiegend allein um das Mädchen gekümmert, lange Gespräche mit ihr geführt und von ihr erfahren, was an jenem Tag geschehen war. Zu niemandem verlor Joan darüber ein Wort. Allein dem Mädchen bei ihren Erzählungen zuzuhören, hatte sie viel Überwindung gekostet. Sie konnte sich nicht vorstellen, wie sie derartige Qualen so lange überlebt hatte.

Die Misshandlungen wurden tagtäglich schlimmer und Joan konnte dies nicht länger ertragen. Das schreckliche Leid der Mädchen und Jungen erdrückte sie, schnürte ihr die Kehle zu... nahm ihr den Atem...

Der Dezember verging und während Joan die Weihnachtsfeiertage in Gesellschaft von Brian und Rachel auf einigen Partys verbrachte, vermisste sie Steves aufheiternde Art mehr denn je. Oftmals war es nur ihm gelungen, dass sie solch langweilige Veranstaltungen einigermaßen amüsant überstanden hatte.

„Darf ich Sie um den nächsten Tanz bitten?“, fragte nach einer Weile, in der sie allein an der Bar gestanden hatte, plötzlich eine ihr bekannte Männerstimme hinter ihr.

Mit einem Lächeln im Gesicht wandte Joan sich zu Paolo Bandero um. „Diesmal sind Sie also ehrlich und fragen mich gleich.“

„Nachdem ich beobachten konnte, wie Sie zahlreiche Männer abgewiesen haben, wollte ich eigentlich gehen.“

„Und was hat Sie veranlasst, dennoch zu mir herüber zu kommen?“

„Sie“, sagte er sanft. Ihre Blicke begegneten sich. „Sie sahen einsam aus.“

Das stimmte vermutlich sogar, dachte Joan, wandte den Blick von ihm ab und nippte an ihrem Champagnerglas. „Sie haben mich also beobachtet...“

„Vielmehr Ihr bezauberndes Kleid, Mrs. ... Oh, ich kenne Ihren Namen noch gar nicht.“ Sein Lächeln war umwerfend.

„Joan Farley“, stellte sie sich vor und reichte ihm die Hand.

Die Überraschung über ihren Namen stand Paolo ins Gesicht geschrieben, als er ihre Hand nahm und ihre Finger küsste. „Sie müssen verzeihen, dass ich Sie nicht sofort erkannt habe, Mrs. Farley.“

„Joan - wenn es Ihnen recht ist. Im Übrigen bin ich sehr froh, dass man mich nicht überall erkennt.“

Er nickte verständnisvoll, aber Joan glaubte nicht, dass er eine Ahnung davon hatte, was sie meinte. „Es freut mich, Sie wiederzusehen, Joan. Ich bin Paolo Bandero.“

„Ich weiß. Man hat es mir zugetragen“, sagte sie lächelnd. „Möchten Sie jetzt vielleicht tanzen?“

„Einer Aufforderung von Ihnen sollte man ohne zu zögern nachkommen, sonst bietet einem vielleicht nie wieder diese Gelegenheit.“

„So schrecklich bin ich gar nicht“, sagte Joan beiläufig, als sie zu den anderen tanzenden Paaren hinübergingen.

„Dann täuscht mich mein Eindruck von Ihnen nicht. Obwohl, ich bin der Ansicht, dass nur die besten Freunde einen Menschen wirklich beurteilen können“, sagte er und legte seine Hand knapp oberhalb ihres Po’s.

„Und dazu zählen Sie sich?“

„Das wäre eine Anmaßung!“ Er drehte sie herum. „Aber ich würde mich sehr freuen, wenn wir uns besser kennen lernen würden, Joan.“

Im Laufe der nächsten Monate trafen Joan und Paolo sich mehrmals wöchentlich zum Lunch und verbrachten immer häufiger den Nachmittag miteinander. In kürzester Zeit wurden sie gute Freunde, die einander sehr ähnlich waren. Paolo zeigte Joan alle interessanten Sehenswürdigkeiten von Mailand, schleppte sie zum Schoppen ins goldene Dreieck zu Versace, Krizia oder Valentino und schenkte ihr eine wunderschöne Muschelkette aus einem Geschäft im Navigli-Viertel. Nachdem er seine Touristenführung beendet hatte, führte er sie schließlich in seine Welt ein. Er stellte sie seinen zahlreichen Freunden vor und ging mit Joan am Abend auf deren Partys.

Eines Abends im März folgte Paolo ihrer Einladung und kam zu ihnen nach Hause zum Essen, zu dem die drei ihn eingeladen hatten. Es wurde Zeit, dass sie sich besser kennen lernten, hatte Brian gesagt, und führte ein langes, aufschlussreiches Gespräch mit Paolo. Nachdem Mr. Bandero ihm einige Entwürfe seines Sohnes gezeigt hatte, erfuhr Brian nun von Paolos leibhaftiger Liebe zur Mode. Er musste zugeben, dass ihn nicht nur Paolos bisherige Zeichnungen beeindruckt hatten, sondern auch dessen frische Ideen, die ihm noch im Kopf herumschwirrten. Aus diesen Gründen sicherte er Paolo eine Stelle als Designer bei Farleys zu, sobald er sein Studium beendet hatte.

„Das müssen wir ausgiebig feiern!“, sagte Paolo enthusiastisch, als sie allein am Pool saßen. „Was hältst du von einem Wochenende in Rom?“

„Du willst mit mir nach Rom?“

„Du sagst das in einem Ton, als würde ich dich dort heiraten wollen“, meinte er lächelnd und legte seine Hand auf die ihre. „Keine Angst, das habe ich nicht vor.“

Joan hob die Augenbraue. „Mir graut es davor, was du alles anstellst, wenn wir zwei allein in einer fremden Stadt sind.“ Zum ersten Mal dachte sie daran, dass sie nicht nur sehr gute Freunde, sondern auch Mann und Frau waren. Sie hatte Paolo nie Hoffnungen gemacht, sich ihm nie auf leidenschaftliche Art genähert. Für Joan war es seit jeher eine rein freundschaftliche Beziehung zwischen ihnen, doch seit einiger Zeit hatte sie den Eindruck, dass Paolo durchaus an mehr als Freundschaft interessiert war. „Ich weiß nicht, Paolo...“

„Komm schon, Joan. Du schwärmst mir seit langem vor, wie sehr dir Rom damals auf deiner Europatour gefallen hat und nun bekommst du die Gelegenheit noch einmal dorthin zu fahren.“

Sie zögerte mit ihrer Entscheidung, während er ihr minutenlang alle erdenklichen Ausflüchte ausredete, die ihr durch den Kopf gingen.

„Okay, okay ich komme mit“, ließ sie sich schließlich von ihm überreden.

„Du wirst es nicht bereuen“, sagte er erfreut und umarmte sie.

Am Freitagabend, drei Tage darauf, trat Brian in die geöffnete Zimmertür von Joans Zimmer und sah ihr einen Moment schweigend zu, wie sie mit dem Rücken zu ihm ihren Koffer packte, der weitgeöffnet auf ihrem Bett lag.

„Was läuft da zwischen dir und Paolo?“, fragte Brian schließlich.

Joan wandte den Kopf zu ihm herum und sah ihn mit verschränkten Armen gegen den Rahmen ihrer Tür lehnen. „Wir haben viel Spaß miteinander. Er zeigt mir Mailand, wir gehen essen, unterhalten uns und gehen abends auf die Partys seiner Freunde“, erklärte sie ihrem Bruder nüchtern.

„Mehr nicht?“, harkte er nach.

„Nein, Brian... mehr ist da nicht.“ Ihr Blick begegnete dem ihres Bruders und da erkannte er, dass ihr Herz noch immer an Steve hing. Obwohl sie seinen Tod überwunden hatte, waren die Gefühle für ihn nicht mit ihm gestorben.

„Versprichst du mir etwas, Schwesterchen? Wenn der Richtige kommt, dann gib’ ihm eine Chance.“

„Okay.“

„Hey, ich meine es ernst.“

„Ich weiß, aber dafür ist es noch zu früh. Ich bin noch nicht soweit.“

Am späten Abend stiegen Joan und Paolo auf dem Flughafen Leonardo da Vinci aus ihrem Flugzeug und ließen sich von einem der Taxis zu ihrem Hotel fahren, das sich unmittelbar an der Spanischen Treppe befand. Von der Dachterrasse aus betrachtet, lag ihnen Rom zu Füßen.

Paolo hatte ihnen zwei getrennte Zimmer gebucht, die durch eine Tür miteinander verbunden waren.

„Bist du zu müde, um mit mir noch in eine Diskothek zu gehen?“, rief Paolo durch die geöffnete Zwischentür zu ihr hinüber.

„Ich gehe mich frisch machen und ziehe mir etwas Passendes an“, rief Joan zurück und verschwand in ihrem Badezimmer.

Eine Viertelstunde darauf stand sie in einem zartrosafarbenen Spaghettikleid und Pumps vor ihm. Die Haare trug sie offen über der Schulter.

„Wow!“, stieß Paolo bei ihrem Anblick aus. „Du kannst dich durchaus zeigen lassen“, sagte er lächelnd.

Bis in den frühen Morgenstunden tanzten sie ausgelassen im Loft. Erst um drei Uhr ließen sie sich von einem Taxi zurück ins Hotel fahren, wo sie außer dem Portier und der Empfangsdame niemanden begegneten. Auf eine Äußerung von Paolo betraten sie lachend den Fahrstuhl und stiegen zwei Stockwerke höher noch immer lachend aus.

„Ich bin zu aufgekratzt, um schlafen zu gehen“, sagte Paolo, als er sein Zimmertür aufschloss. „Kommt du noch auf ein Glas Champagner mit zu mir?“

„Aber nur eines, dann habe ich wirklich genug.“ Sie folgte ihm in sein Zimmer und setzte sich auf das Doppelbett. Ihre Handtasche legte sie neben sich ab und nahm das Glas Champagner, das Paolo ihr reichte.

„Auf deinen Bruder, der mich bei Farleys einstellt.“

„Auf dich und deine hervorragenden Entwürfe.“

„Mein Gott, Joan! Farleys!“, sagte er noch immer ungläubig. „Niemals hätte ich damit gerechnet, gleich nach meinem Studium unter so einem bedeutenden Namen arbeiten zu dürfen. Ist dir bewusst, wie bekannt ihr in Mailand innerhalb der letzten Monate geworden seid?“

„Leider“, flüsterte Joan.

Paolo, der vor ihr stand, blickte verwundert zu ihr hinunter. „Warum?“

„Weil ich nur wenige Jahre von meinem Leben ohne Bodyguards, Fotografen und Journalisten verbracht habe“, erklärte sie nüchtern. „Ich habe es gehasst überall fotografiert zu werden. In ganz New York gab es nur unser Appartement, mein Zimmer, in dem ich für mich sein konnte.“ Nachdenklich sah sie an ihm vorbei und blickte aus dem Fenster. „Ich hatte viele Freunde, aber keiner von ihnen kannte mich so, wie du mich kennst. Die Meisten wollten mit mir gesehen werden, es interessierte sie nicht, wer ich wirklich war.“

Paolo setzte sich neben sie aufs Bett und berührte ihre Hand, die auf ihrem Schenkel lag, mit der seinen. Langsam wandte sie den Kopf zu ihm herum.

„Würdest du so ein Leben führen wollen?“

„Die meisten Menschen würden jetzt wohl mit ja antworten, aber wenn ich es mir recht überlege, dann ist mir meine uneingeschränkte Freiheit lieber, als alles Geld der Welt.“

„Ich hatte nie die Wahl.“ Doch wenn sie an ihre Kindheit dachte, wurden ihr all die schönen Erinnerungen wieder bewusst. Ihre Eltern waren immer für sie da gewesen.

Paolo bemerkte den traurigen Ausdruck in ihren Augen, beugte sich zu ihr und küsste zärtlich ihre Wange. „Hey, ich ertrage es nicht, wenn die Frau, die ich liebe, traurig ist...“, flüsterte er in ihr Ohr. Joan wich zurück und sah ihn verwirrt an. „Schau’ nicht so überrascht. Du musst es gespürt haben“, sagte er sanft. Paolo verlor sich in ihren Augen, als seine Lippen die ihren zärtlich berührten. Anfang war sie wie erstarrt, doch dann erwiderte Joan seinen leidenschaftlichen Kuss. „Ich habe mich in dich verliebt, Joan“, sagte er leise und küsste sie abermals. Voller Leidenschaft drückte er sie in die Kissen hinunter und fuhr mit seiner Hand ihren Rücken entlang. Ein Kribbeln durchfuhr Joan.

„Wir sollten das nicht tun“, sagte sie unter seinen Küssen.

„Sag mir, dass ich aufhören soll“, raunte er an ihrem Hals. „Joan... oh Gott...“ Er begehrte sie wie keine andere Frau vor ihr, doch würde er nichts tun, was sie nicht auch wollte.

„Wir zerstören unsere Freundschaft... Paolo...“ Den Mund noch an dem seinen, schob sie seinen Körper sachte mit den Händen fort. „Ich kann nicht.“ Verwirrt stand sie von seinem Bett auf und strich sich ihr Kleid glatt.

„Es tut mir leid. Ich war zu schnell“, sagte er mit sanfter Stimme.

„Schon okay. Ich sollte jetzt gehen. Bis Morgen“, sagte sie ohne ihn anzusehen, lief in ihr Zimmer hinüber und schloss die Tür hinter sich.

Mit einem Kribbeln im Bauch sank sie auf ihr Bett und musste sich eingestehen, dass sie seine Zärtlichkeiten genossen hatte. Dennoch war es eine Dummheit gewesen. Sie hätte es niemals soweit kommen lassen dürfen. Paolo liebte sie, daran gab es nun keine Zweifel mehr, doch sie wurde durch ganz andere Gefühle geleitet. Sie wusste, dass es jeder Mann hätte sein können. Nach so langer Zeit hatte sie einem Mann nur wieder einmal nahe sein wollen.

Zurück in Mailand unternahm Paolo noch einige Annäherungsversuche, Joan aber ging nie wieder darauf ein. Der Mai kam und obwohl es Paolo schwer viel, konnten sie ihr ungezwungenes, freundschaftliches Verhältnis wieder aufbauen. Für Joan waren sie wie Bruder und Schwester, die sich in der Stadt zum Kaffee trinken trafen und sich über alles unterhielten. Sie gingen gemeinsam auf Partys, doch sobald Joan von Paolos Freunden zum Tanz aufgefordert wurde, war es Paolo selbst, der ihnen einen eindeutigen Korb gab. Bald darauf wurde gemunkelt, dass sie ein Paar wären und er sie für sich allein wollte. Hätten sie sich zu einer anderen Zeit gekannt, dann würde sie Paolo übel nehmen, dass er ihre Verehrer reihenweise abblockte. Doch noch war sie nicht an einer neuen Beziehung interessiert und weinte deshalb den Männern nicht nach. Zum ersten Mal seit Steves Tod war sie wieder glücklich. Ihr Leben war völlig ungezwungen, frei von Sorgen und Ängsten. Sie brauchte keinen Mann in ihrem Leben, ihr genügte Paolos nette Gesellschaft.

„Ich werde Anfang Juni zurück nach Los Angeles fliegen“, erklärte Joan beim Frühstück Rachel und Brian, nachdem sie einige Tage darüber nachgedacht hatte. „Sobald das Semester beginnt, möchte ich mein Studium fortsetzen. Mir fehlt noch ein Jahr.“

Überrascht wechselten Brian und Rachel einen Blick. „Bis dahin sind es noch einige Monate“, erklärte Brian enttäuscht. Er hatte geglaubt, sie würde noch zwei, vielleicht drei Monate in Mailand bleiben und erst dann zurückfliegen. „Was willst du in der Zwischenzeit tun?“

„Ich werde Theo fragen, ob er meine Hilfe im Cafe benötigt und wenn das nicht klappt, finde ich einen anderen Job.“ Steve und sie hatten neben ihrem Studium in dem Strandcafe des Vierzigjährigen als Kellner gearbeitet, um ihre Miete bezahlen zu können.

„Und wo willst du wohnen? Die Zimmer im Studentenwohnheim sind längst vermietet.“

„Ich suche mir ein kleines Appartement“, beruhigte sie ihren Bruder.

„Bis du etwas Geeignetes gefunden hast, kannst du in unserem Gästezimmer wohnen“, schlug Rachel vor und ignorierte den Blick, den Brian ihr zuwarf. Es war an der Zeit, dass er seinen Beschützerinstinkt zurückschraubte und seine Schwester losließ. Sie war alt genug, um ihr Leben selbst in die Hand zu nehmen.

Joan buchte ihren Flug für den zweiten Juni und verbrachte die verbleibende Zeit überwiegend mit Paolo, der über ihre Pläne, Mailand den Rücken zu kehren, tief betrübt war. Selbst wenn er ihr Herz niemals für sich gewinnen konnte, so wollte er Joan zumindest als Freundin nicht verlieren.

„Du musst mich unbedingt in L.A. besuchen kommen, Paolo. Dann zeige ich dir meine Stadt und du lernst meine Freunde kennen.“

Ihr Vorschlag erstaunte ihn. „Hast du keine Angst, dass ich eines Tages tatsächlich vor deiner Tür stehen könnte?“

„Warum sollte ich?“, fragte sie verwundert. „Du bist mein bester Freund und ich werde dich in L.A. schrecklich vermissen.“

„Was hältst du davon, wenn ich meine Stelle bei Farleys in L.A. antrete?“

„Du würdest irgendwann deine Heimat, deine Familie und deine Freunde vermissen. Mir geht es jetzt so“, sagte sie leise.

Während Joan ihre Abreise plante, stand Brian mit seinem Vater in ständigem Kontakt, was Rachels und seine Zukunft betraf. Da Brian den Anlauf der neuen Kollektion abwarten wollte, würden sie mindestens bis Anfang September in Mailand blieben. Wenn alles zu seiner Zufriedenheit verlief, würde er sein Baby, wie Rachel das Geschäft gern nannte, verlassen und Mr. Bandero die Geschäftsleitung anvertrauen. Im Anschluss daran versprach er Rachel mit ihr mindestens zwei Wochen bei ihren Eltern in Rom Urlaub zu verbringen, wo Brian ihren Vater um die Hand seiner Tochter bitten wollte.

Mitte Mai stiegen die Temperaturen bereits über dreißig Grad Celsius und nach einer langen Einkaufstour mit Paolo sehnte Joan sich nach einer Abkühlung im Pool.

„Wohin gehen wir heute Abend?“, fragte Joan ihn, als sie auf den Liegestühlen lagen und sich sonnten. Dann und wann blinzelte Paolo und betrachtete ihren wunderschönen Körper, der für ihn unerreichbar schien. Seine einzigste Beruhigung lag darin, dass Joan auch an keinem anderen Mann Interesse zeigte. Sie hatte das Thema immer gemieden, aber er vermutete, dass sie tief verletzt worden war und einige Zeit für sich allein brauchte.

„Raphael hat Morgen Geburtstag. Du erinnerst dich bestimmt an ihn, du hast ihn vor zwei Monaten auf Maxims Party kennen gelernt“, sagte er und sah zu ihr hinüber.

„Der gut gebaute Kerl mit dem verführerischen Lächeln?“, fragte sie mit geschlossenen Augen grinsend, als sie sich an die schmachtenden Blicke der anderen Frauen erinnerte.

Paolo stöhnte. „Die Party beginnt heute Nacht und wird vermutlich bis zum Mittag andauern.“

„Klingt gut. Ich bin dabei“, erklärte Joan.

Wenige Stunden später mischten sie sich bereits unter Raphaels Gäste, die in dem großen Haus seiner Eltern kaum Platz fanden. Paolos Erzählungen zufolge verbrachte sein Freund seine Zeit auf allen erdenklichen Partys in ganz Europa. Oftmals war er wochenlang weg, ohne das einer seiner vielen Freunde in Mailand wusste, wo er sich gerade aufhielt. Paolo hatte sich daran gewöhnt und wann immer Raphael in der Stadt war, machten die beiden einen Drauf.

„Raphaels Vater ist einer der bedeutendsten Geschäftsmänner“, sagte Paolo ihr, während sie an der Bar auf ihren Cocktail warteten. „Niemand kann genau sagen, für wie viele Generationen er in seiner Familie ausgesorgt hat, Raphael wird jedenfalls niemals arbeiten müssen. Ihm gefällt seine Art das Leben zu leben, er liebt es mit Champagner und wechselnden Frauen zu feiern.“

Gerade als Joan antworten wollte, erblickte sie Raphael inmitten seiner Gäste. Ihre Blicke begegneten sich einen Moment. Selbst aus dieser Entfernung konnte Joan bestätigen, was Frauen an seinen durchdringenden Augen so faszinierte. Er schien jede Einzelne im Raum zu verzaubern. Doch auch der Rest an ihm war nicht außer Acht zu lassen. Raphael hatte kurz geschnittene rabenschwarze Haare und seine stark gebräunte Haut stach deutlich unter allen Anwesenden hervor. Sobald er die Hand eines Freundes fester drückte, spannten sich unter seinem schwarzen Hemd die durchtrainierten Muskeln seiner Oberarme.

Raphael benötigte einige Minuten, bis er durch die Menge seiner zahlreichen Freunde gelangte und zu ihnen hinüber kam. Mit einem Schulterklopfen begrüßte er Paolo und sah dann zu Joan.

„Du erinnerst dich sicher an Joan“, sagte Paolo, die Hand an Joans Rücken.

„Wie könnte ich so eine schöne Signorina vergessen“, erwiderte Raphael lächelnd, hob ihre Hand und küsste zärtlich ihre Finger. „Darf ich um den nächsten Tanz bitten?“, fragte er mit einem umwerfenden Lächeln.

„Sehr gern“, sagte sie und ließ sich von Raphael durch die Gästemenge zur Tanzfläche leiten. In dem Moment begann ein Cha-Cha-Cha und Joan hielt inne. „Oh - den habe ich seit Jahren nicht mehr getanzt. Vielleicht sollten wir lieber aussetzen...“

„Einen Cha-Cha-Cha verlernt man nicht“, erwiderte Raphael, ihre Hand noch immer festhaltend, und begann mit den ersten Schritten. Joan war überrascht, wie gut er sie führte, sodass die erlernten Tanzschritte dank ihm bald zurückkehrten.

Diesem Tanz folgten zwei weitere mit schnellem Rhythmus, danach wurde ein langsameres Stück angespielt und Raphael zog Joan sachte an seinen Körper. Sie spürte seine Hand knapp oberhalb ihres Pos, wollte jedoch erst einlenken, wenn er mehr wagte.

„Läuft zwischen euch etwas?“, fragte Raphael später seinen Freund beiläufig, als Joan sich an der Bar einen Drink besorgte.

„Lass die Finger von ihr!“, warnte Paolo ihn.

Raphael grinste nur. „Glückwunsch, mein Freund. Scheint etwas Ernstes zu sein.“

„Zwischen uns läuft nichts“, klärte Paolo ihn innerlich zerknirscht auf. „Trotzdem ist Joan für dich absolut tabu. Sie ist eine sehr gute Freundin und ich werde nicht zulassen, dass du sie für eine Nacht benutzt.“

Raphael grinste. „Es könnten gern auch zwei werden.“

„Such’ dir eine andere“, sagte Paolo eindringlich und sein Blick verriet, wie ernst er seine Worte meinte.

Wenige Minuten nach halb Vier wurde das Licht im unteren Wohnbereich des Hauses gelöscht, es blieb jedoch genügend Licht, um die zwei Jungen zu erkennen, die etwas Großes, das unter einem Tuch verborgen war, ins Wohnzimmer schoben. Ein Mädchen folgte ihnen und stellte die Geburtstagstorte auf den Tisch.

„Raphael, wo steckst du?“, rief sie laut in den Raum. „Trau’ dich zu mir“, sagte sie, worauf Paolo seinen Freund grinsend anstieß.

„Hast du eine Ahnung, was sie mit mir vorhat?“, fragte Raphael leise.

„Nein - aber wenn du nicht freiwillig gehst, dann verrate ich dich“, antwortete Paolo.

„Und das nennt sich Freund.“

Joan, die das flüsternde Gespräch der Beiden mit angehört hatte, lächelte.

„Ich bin hier, Michaela“, sagte Raphael nun lauter als zuvor und ging in Richtung der vielen Kerzen. Lächelnd bedankte er sich bei seiner guten Freundin mit einem Wangenkuss und sagte nach genauerem zählen: „Du weißt aber schon, dass du zu viele Kerzen angezündet hast, oder?“

„Ehrlich? Das tut mir sehr leid, Raphael.“

„Warum nur glaube ich dir kein Wort?“

Als seine Freunde schließlich ihr Geschenk, eine blonde Gummipuppe, enthüllten, schwor Raphael, sich bei ihnen zu revanchieren.

„Wir denken an die Zeit, in der dir keine Frau mehr hinterherlaufen wird“, sagte einer der Jungen. „Und das, wenn du erlaubst zu sagen, ist nicht mehr allzu lang hin.“ Raphael, der selbst ähnliche Geschenke machte, nahm es wie erwartet mit Humor.

„Da hast du ja das Passende bekommen“, sagte Paolo grinsend. Joan, die neben ihm stand, nippte lächelnd an ihrem Cocktail.

„Noch habe ich so etwas nicht nötig“, entgegnete Raphael und warf Joan einen vielsagenden Blick zu. „Wollen wir tanzen?“

„Tut mir leid, Paolo hat sich gerade verpflichtet.“ Joan stellte ihr halbleeres Glas auf den Tisch und griff nach Paolos Hand.

„Wie war das? Noch habe ich so etwas nicht nötig? Das, mein Freund, war gerade dein erster Korb“, sagte Paolo lachend und lief mit Joan auf die Tanzfläche.

„Ich bekomme immer, was ich will“, sagte Raphael leise und beobachtete

die Beiden, wie sie engumschlungen tanzten. Plötzlich legte Joan ihre Hand an Paolos Wange und küsste ihn leidenschaftlich. Innerlich triumphierend wandte Raphael den Blick ab und trank aus seinem speziellen Cocktail.

„Ist alles okay mit dir?“, fragte Paolo sie verwundert. Seit Rom war sie auf Distanz gegangen und nun küsste sie ihn mit einem Verlangen, dass er Mühe hatte, sich zu beherrschen.

„Mir geht es wunderbar. Ich komme mir wie ein Vogel vor. Endlich bin ich frei.“ Kichernd ließ sie sich in seine Arme fallen. „Ich kann fliegen...“

Paolo lachte. „Du bist betrunken!“

„Stimmt nicht!“ Stürmisch küsste sie ihn wieder, doch diesmal hielt Paolo sie an den Armen fest und drückte sie zurück.

„Hey, das bist nicht du, Joan“, sagte er sanft und fragte sich, wann sie so viel getrunken hatte. „Wenn ich zulasse, was du vorhast, dann wirst du mich Morgen dafür hassen.“

„Ich treffe meine Entscheidungen selbst!“, maulte sie ihn an.

„Nicht in diesem Zustand. Ich bringe dich nach Hause.“

„Nein“, wiedersprach sie. „Es ist so schön hier... außerdem habe ich Hunger.“

Paolo seufzte. „Okay, ich hole dir etwas. Aber essen wirst du im Auto“, sagte er bestimmt und führte sie zu einem Stuhl. „Du bleibst hier sitzen, bis ich wiederkomme.“

„Ja, Dad“, sagte sie grinsend.

Paolo eilte durch die Menge hindurch, die sich trotz der Morgenstunden kaum verkleinert hatte, und verschwand aus ihrem Blickfeld.

„Hey, Joan“, sprach sie nur einen Moment darauf jemand an. Joan wandte den Kopf herum und erkannte Raphael. „Willst du einen Schluck?“, fragte er und hielt ihr eine geöffnete Champagnerflasche entgegen.

Sie nickte und trank einen kräftigen Schluck aus der Flasche. „Danke.“

„Paolo hat einen Freund von früher getroffen, den er lange nicht gesehen

hat. Er bat mich, dich heim zu fahren. Ich hoffe, dass ist dir recht?“ Er reichte ihr abermals die Flasche.

„Hm... ist gut“, antwortete sie und stand auf. Mit der Flasche in der rechten Hand folgte sie Raphael vor die Tür und stieg in dessen roten Ferrari. Während Raphael die Strasse entlang fuhr und dabei aus der Flasche trank, spürte Joan bereits die Wirkung des Champagners. Ihr wurde schwindlig und dann und wann schwanden ihr die Sinne. Schließlich schlief sie auf dem Beifahrersitz ein.

Benommen wandte Joan sich. Sie stöhnte leise, da ihr Kopf schmerzte. Als sie schließlich zu sich kam und die Augen öffnete, sah sie, dass sie im Bett eines ihr unbekannten Schlafzimmers lag. Sie fühlte sich elend und bei jeder Bewegung drehte sich das Zimmer. Trotz des Schmerzes in ihrem Kopf versuchte sie aufzustehen, aber irgendetwas schnürte ihren Arm ab. Verwirrt wandte sie den Blick zu ihrem Arm hinauf und stellte erschrocken fest, dass sie mit einer Fessel am Bettgestänge angebunden war. Da durchfuhr ein heftiger Schmerz ihren Kopf. Mit den zittrigen Fingern der freien Hand berührte sie unsicher die schmerzende Stelle an ihrem Hinterkopf. Ängstlich zog sie die Hand zurück und sah Blut daran kleben.

Verschwommen erinnerte Joan sich an die Party zu der sie mit Paolo gegangen war. Sie hatten getanzt und gelacht... und viel getrunken. Doch sie konnte sich nicht entsinnen, wann und vor allem mit wem sie die Party verlassen hatte. Dies war jedenfalls weder Paolos Wohnung, noch ihr eigenes Bett und ihr aufgeschlagener Hinterkopf und ihre Bewusstlosigkeit verhießen nichts Gutes. Schlagartig blickte sie an sich hinunter und sah bestürzt, dass sie nur mehr ihren Slip und ihre geöffnete Bluse trug. Der Panik nahe, riss sie wild mit der angebundenen Hand an der Fessel, doch sie löste sich nicht. Auch ihre Versuche, sie mit der freien Hand zu lockern, schlugen fehl. Schließlich gab sie nach einigen Minuten auf und schloss mit zittrigen Fingern die Knöpfe ihrer Bluse. Verzweifelt versuchte sie sich daran zu erinnern, wie sie in dieses Bett gekommen war, als sie im Nebenzimmer Schritte wahrnahm. Plötzlich stand Raphael nur in seiner Boxershorts lächelnd in der Tür.

Verächtlich sah Joan ihn an. „Was hast du mit mir gemacht?“, fragte sie mit zittriger Stimme.

„Baby, du warst großartig...“

„Du hast mich vergewaltigt!“, stieß sie erschüttert hervor. Ihr wurde übel.

„Davon kann keine Rede. Schließlich hast du dich nicht gewehrt“, sagte er grinsend und durchquerte den Raum.

„Ich war bewusstlos! Du hast mich vergewaltigt.“

Mit wenigen Schritten war Raphael bei ihr, griff grob in ihre Haare und zog sie zu sich hoch. „Wage es nicht, mich zu beschuldigen“, sagte er mit hasserfülltem Blick. „Ich habe dich nicht gegen deinen Willen angerührt.“ Doch Joan wusste es besser. Sie hätte niemals freiwillig mit ihm geschlafen.

„Du bist krank!“

„Nein, verrückt nach dir.“

Sie saß vor ihm, als er ihr Gesicht mit beiden Händen umfasste und sie verlangend küsste. Angeekelt riss Joan erneut an der Fessel, die sich keinen Millimeter löste. Mit dem linken Arm versuchte sie Raphael abzuwehren, aber er war stärker und drückte sie zurück auf die Matratze. Hilflos schlug sie um sich, bis er ihr wütend eine harte Ohrfeige verpasste. Ihre Schläfe platzte auf. Blut rann in ihr Auge und die Wange hinunter.

Hastig zog er ihren Slip hinunter, schob trotz ihrer Abwehr ihre Beine mit den Knien auseinander und leckte sie dazwischen. „Baby, du machst mich heiß!“, raunte er und schob mehrere Finger in sie. Schmerzlich zuckte Joan zusammen. Durch ihr blutunterlaufendes Auge sah sie, wie er ein kleines Röhrchen aus dem Nachttisch nahm und den weißen Inhalt auf ihrem Bauch verteilte. Während er seine Finger tiefer in sie schob, zog er das weiße Pulver durch die Nase ein. „Das turnt mich an!“ Abrupt zog er die Finger aus ihrer Vagina und versuchte ihren Mund zu öffnen, um ihr eine Pille hineinzudrücken. Joan aber wehrte sich vehement unter ihm. „Wie du willst. Wir können es auch auf die harte Tour machen.“

„Lass mich gehen... bitte...“, flehte sie halb benommen. Durch seine Schläge war ihr linkes Auge geschwollen, sodass sie ihn nur durch einen Schleier sah.

„Jetzt fängt der Spaß doch erst richtig an“, sagte er und entledigte sich seiner Hose. Im nächsten Moment biss er ihr in die Brustwarze und drang grob in sie ein. Joan schrie auf und wand sich unter ihm. Er stieß tiefer in sie, wollte ihr zeigen, dass sie ihm gehörte. Er stöhnte laut zwischen ihren Brüsten, als plötzlich im Nebenzimmer sein Handy zu klingeln begann.

„Verdammt“, keuchte er und entzog sich ihr. Noch immer erregt verließ er das Zimmer und schloss bis auf einen Spalt die Tür.

Ängstlich lauschte Joan seinen Worten. Es war vielleicht ihre einzige Chance, um Hilfe herbeizuholen. Sie musste es wagen. Unter Schmerzen rollte sie sich auf ihre linke Körperseite, berührte mit der freien Hand den Nachttisch neben dem Bett und tastete halb blind darüber. Schließlich fand sie, was sie suchte. Sie hatte das Telefon entdeckt, als Raphael vorhin nach dem Röhrchen gegriffen hatte. Vorsichtig hob sie den Hörer ab und gab eine Telefonnummer ein.

„Farley“, meldete sich Brian augenblicklich. In Sorge um seine Schwester hatte er das Telefon fortwährend bei sich getragen. Seit Stunden telefonierten sie herum. Wie Paolo ihnen erzählt hatte, war Joan bei seiner Rückkehr mit dem Essen nicht mehr an ihrem Platz gewesen. Vergeblich hatte er sie auf der Party gesucht, doch nicht gefunden.

„Brian, hilf mir...“, stammelte Joan leise.

„Oh Gott... Joan! Wo steckst du?“ Sofort kam Rachel zu ihm gelaufen.

„Ich bin bei Raphael...“ Es knackte in der Leitung und Brian dachte bereits, sie hätte aufgelegt, doch da hörte er seine Schwester leise weinen. „Brian... er tut mir weh...“ Da tutete es in der Leitung. Sie ist unterbrochen worden.

„Mit wem hast du gesprochen?“, schrie Raphael sie an. „Wütend griff er nach ihrer Hand und band auch diese mit einer Fessel am Bettgestänge fest.

„Sie werden mich finden“, brachte Joan schluchzend hervor. Ihre geschwollenen Augen schmerzten so sehr, dass Joan sie nicht öffnete.

Sein Schlag traf sie unerwartet, doch mit voller Wucht. „Freu’ dich nicht zu früh!“, sagte er boshaft. Er grinste und drückte abermals ihre Beine auseinander. Joan versuchte sich verzweifelt zu wehren, doch da spürte sie sein Glied an ihrem Bein. Er begehrte sie wieder und stieß in sie - schmerzhafter als zuvor. Er wollte sie immerfort. Sie erregte ihn...

Während Joan sich in Raphaels Gewalt befand, telefonierte Brian mit Paolo und erzählte ihm von Joans Anruf. Als er Raphaels Namen erwähnte, wandte Paolo ein. „Das glaube ich nicht. Ich kenne ihn.“

„Wo könnte er sie hingebracht haben?“, drängte Brian ihn, da sie keine Zeit verlieren durften. Er ahnte, dass dieser Kerl die Leitung unterbrochen hatte.

„Es kommt nur seine Wohnung in Frage“, sagte Paolo und teilte Brian die Adresse mit. Es war bereits nach elf Uhr morgens. Bei dem Verkehr auf den Strassen würden sie mindestens eine halbe Stunde benötigen. Brian mochte sich nicht vorstellen, was dieser Kerl bis dahin mit Joan angestellt hatte.

Seit sechs Stunden war Joan in Raphaels Gewalt und er schien nicht genug von ihrem Körper zu bekommen. Fortwährend stillte er seine sexuelle Lust an ihr und strafte ihre Abwehr mit Schlägen, die sie allmählich betäubten. Ihr ganzer Körper tat ihr weh, es gab keine Stelle, die Raphael verschonte. Bei jeder seiner Berührung zuckte sie schmerzlich zusammen und wünschte sich nichts sehnlicher, als ihren Tod.

Halb benommen spürte Joan, wie Raphael sie unsanft auf die Seite drehte, wobei sich die Fesseln tief in ihre Handgelenke schnürten. Mit wachsendem Verlangen lag er hinter ihr und berührte ihre Brustwarzen, die von seinen groben Händen und seinem Mund schmerzten. Kaum dass sie seine erneute Erregung wahrgenommen hatte, rollte Raphael sie hastig auf den Bauch herum, schob ihre Beine auseinander und stieß unerbittlich in sie hinein. Joan riss ihre schmerzverzehrten, vom Blut verschleierten Augen auf.

In diesem Moment kam Brian die Treppe hinaufgelaufen, die zu dem offenen Schlafzimmer führte, und schreckte vor dem Anblick der beiden Nackten zurück. Nur Sekunden verharrte er am Treppenansatz, dann stürmte er zum Bett und packte Raphael an den Schultern.

„Du mieses Schwein!“, schrie er wutentbrannt und zerrte Raphael von Joan hinunter und aus dem Bett. Unbarmherzig schlug Brian auf seinen nackten, vom Koks beeinträchtigten Gegner ein, ehe dieser munter wurde und sich ebenfalls zur Wehr setzte. Wild schlugen sie aufeinander ein, rangelten miteinander und rissen zahlreiche Gegenstände mit sich, ehe sie auf den kleinen Glastisch stürzten, der unter ihrem Gewicht zerbrach. Brian rappelte sich auf und ballte dicht vor dem Gesicht seines Gegners die Hand zur Faust um zuzuschlagen, doch Raphael, der blutverschmiert auf den Trümmern des Glastisches lag, regte sich nicht mehr.

Erst da ließ Brian von ihm und wandte den Blick zum Bett hinüber, auf dem Joan noch immer splitternackt lag. Mit zwei Schritten war er bei ihr und löste die festen Knoten ihrer Fesseln, die einen blutenden Abdruck in ihren Handgelenken hinterließen.

„Nein... lass mich...“, kam es flüsternd über ihre Lippen.

Zaghaft berührte Brian ihren Arm, doch Joan erkannte ihn durch ihre geschwollenen Augen nicht. „Jo... ich bin es... Brian“, sagte er mit Tränen in den Augen, da sein Kopf nicht begreifen wollte, was ihr dieser Kerl über Stunden angetan hatte. Fassungslos wagte Brian einen raschen Blick auf ihren mit Blut und blauen Flecken bedeckten Körper, zog eilig sein Hemd aus und legte es über ihren nackten Körper. „Joan, hörst du mich?“, fragte er sorgenvoll, da sie sich nicht mehr rührte, und sah in das geschundene Gesicht seiner Schwester.

Plötzlich öffnete sie einen Spalt weit ihre Augen. „Brian...“, entrang es ihr.

„Kleines, ich bin bei dir. Es ist vorüber“, flüsterte er und streichelte zärtlich ihre Stirn. „Ich bringe dich von hier fort, aber du musst mir helfen...“ Da sah er, wie ihre Augen zufielen und ihr Kopf zur Seite sackte. „Komm schon, Jo! Bleib’ bei mir!“, flehte Brian und schlug ihr mit der flachen Hand gegen die Wange, um sie wach zu halten, doch langsam glitt sie in ein schwarzes Nichts hinüber.

Sie träumte von Liebe

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