Читать книгу Sie träumte von Liebe - Christina Bartel - Страница 5

Drittes Kapitel

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Raphael sah ihr mit einem breiten Grinsen in die Augen, dann beugte er sich zu ihr hinunter und versuchte sie zu küssen, aber Joan drehte ihren Kopf immer wieder von ihm weg. Da packte er ihren Kiefer fest mit der Hand und zwang sie zu einem Kuss... leise raunte er an ihrem Ohr, wie sehr er sie begehrte und zugleich spürte sie seine Lust.

Joans Schrei drang durch das ganze Haus und riss Brian und Rachel aus dem Schlaf. Sofort sprang Brian auf, rannte zum Zimmer seiner Schwester hinüber und eilte an ihr Bett, in dem Joan zusammengekrümmt lag. Sie weinte fürchterlich und stieß ihn immerzu von sich. Dabei entging ihm nicht, dass sie bei jeder seiner Berührungen zuckte.

Verzweifelt saß er neben ihrem Bett am Boden und während Tränen über seine Wangen liefen, hörte er seine Schwester leise weinen. Brian blieb bei ihr, selbst als er seine Fassung zurückgewonnen hatte. Irgendwann verstummte schließlich ihr Schluchzen. Müde wandte Brian sich zu ihr um und sah, dass sie eingeschlafen war. Mit zittriger Hand berührte er sachte Joans Wange.

Dieser kurzen Nacht folgten drei weitere, in denen Joan von Albträumen heimgesucht wurde, sodass sie kaum schlief. Tagsüber lag sie wie in Trance in ihrem Bett und konnte stundenlang auf ein und dieselbe Stelle starren, doch in den Nächten quälten die Erinnerungen sie wieder und wieder.

Vier Tage waren vergangen und Joan hatte kein einziges Wort mit ihnen gewechselt. Sie lag in ihrem Bett, weinte und schlief abwechselnd und ließ sich weder von Brian noch von Rachel anfassen, die sich um ihre geschwollenen Augen kümmern wollte.

„Was können wir tun?“, fragte Brian seine Freundin, nachdem Joan sie abermals abgewiesen hatte.

„Sie will unsere Hilfe, unsere Nähe nicht“, sagte Rachel traurig. „Wir können ihr nur zeigen, dass wir für sie da sind. Ich fürchte, wir müssen warten, bis sie auf uns zukommt.“

Brian nickte, obwohl Geduld nicht zu seinen Stärken zählte. „Wird sie es schaffen? Ich meine...“ Er suchte nach den richtigen Worten. „Kommt sie allein damit zurecht?“

„Ich weiß es nicht, Schatz. Sie ist unglaublich stark, aber...“ Schluchzend fiel sie in seine Arme. „Sie muss mit jemandem darüber sprechen.“

„Ich weiß, Liebling.“ Bekümmert fuhr er ihr durch die Haare. Nur mit Mühe konnte Brian seinen abgrundtiefen Hass verbergen. Seine unglaubliche Wut, die in ihm brodelte.

Am nächsten Morgen telefonierte Brian mit dem zuständigen Polizisten, der sich um den Fall kümmerte. Noch im Krankenhaus hatte er Brians Anzeige gegen Raphael aufgenommen. Die Fotos, die eine Krankenschwester von Joans unzähligen, blauen Flecken und ihrem Gesicht gemacht hatte, genügten, um ihn auch ohne Joans Aussage zur Fahndung auszuschreiben. Doch was Brian erfuhr, war alles andere als erfreulich. Die Polizei suchte Raphael in ganz Mailand, aber anscheinend war er untergetaucht. Der Polizist ließ vermuten, dass Raphael sich nicht mehr in Mailand aufhielt.

„Ich will, dass dieses Schwein für das, was er meiner Schwester angetan hat, büßt“, sagte Brian verärgert, da dieser Kerl nicht ungestraft davonkommen durfte.

„Das wollen wir auch, aber leider kann ich Ihnen derzeit nicht viel Hoffnung auf eine baldige Verhaftung machen. Es tut mir sehr leid, Signor.“

„Sagen Sie das der Frau, die sein nächstes Opfer wird“, antwortete Brian verärgert und beendete das Gespräch. „Verflucht noch mal!“, rief er wütend und warf das Telefon auf die Couch. „Dieser Mistkerl ist untergetaucht!“, klärte er Rachel auf, die soeben von Joan kam. „Er wird sich auf irgendeiner Insel sonnen, Champagner trinken und sich mit seinen Freunden amüsieren...“

Als Paolo später zu ihnen kam, konnte auch er von keinen Ergebnissen berichten. Seit Tagen fragte er bei all seinen Freunden nach Raphael, doch niemand hatte ihn seit seiner Geburtstagsparty mehr gesehen.

„Wie geht es ihr?“, fragte Paolo leise und sah zu Brian, der an der geschlossenen Terrassentür stand und hinaus in den Garten blickte.

„Ich weiß es nicht“, gestand Brian sich selbst ein und wandte sich zur Couch um, auf der Paolo Platz genommen hatte. „Sie spricht nicht mit uns.“

„Selbst mit Rachel nicht?“

Brian schüttelte den Kopf. „Und ich werde sie nicht dazu bewegen können, zu einem Psychologen zu gehen. Paolo, ich weiß nicht, was ich tun soll. Mit der Anzeige habe ich mich weiter gewagt, als gut für uns ist. Wenn die Presse davon erfährt...“

„Das wäre für Raphaels Familie ebenso unangenehm. Sein Vater wird alles dafür tun, dass die Vergewaltigung nicht öffentlich bekannt wird. Vermutlich hat er Raphael eine so schnelle Flucht ermöglicht.“

„Dann haben wir wenigstens vorerst von der Presse nichts zu befürchten“, sagte Brian erleichtert, da er sich vorstellen konnte, wie die Journalisten über Joan herfallen würden. Die Vergewaltigung würde der Skandal sein, nachdem die Klatschpresse seit Jahren vergeblich suchte.

„Hast du mit euren Eltern darüber gesprochen?“

„Wie soll ich ihnen erklären, was dieser Kerl mit Joan angestellt hat? Ich kann den Gedanken daran selbst kaum ertragen und unsere Eltern würden sich bis an ihr Lebensende schreckliche Vorwürfe machen, weil sie das Jahr in Mailand vorgeschlagen haben.“ Brian sah ihn direkt an. „Ich würde ihnen das Herz brechen...“

„Und das wirst du nicht tun“, sagte Joan plötzlich mit entschlossener Stimme.

Erschrocken wandten Brian und Paolo sich zur Treppe um, auf der Joan in ihrem Morgenmantel stand. Paolo, der sie seit jener Nacht zum ersten Mal wiedersah, verspürte beim Anblick ihrer geschwollenen, blauen Augen dieselbe Wut wie Brian. Zugleich standen sie von der Couch auf und waren sich unschlüssig, ob sie dort verharren oder zu Joan gehen sollten. Der Drang, sie in ihre Arme zu schließen, war bei beiden gewaltig.

„Ich kann nicht ändern, was geschehen ist, aber ich kann meine Zukunft wieder in meine Hände nehmen. Deshalb werde ich morgen zurück nach L.A. fliegen“, sagte Joan entschieden, als auch Rachel zu ihnen stieß. „Wenn Celia und die anderen es geschafft haben, dann werde auch ich damit leben können“, erklärte sie leise und wandte sich von ihnen ab. Langsam lief sie die Treppe hinauf und schloss ihre Tür hinter sich.

Am nächsten Tag fuhren Brian und Rachel sie nach dem Frühstück zum Flughafen und begleiteten sie zum Schalter, wo sie sich voneinander verabschiedeten. Während Rachel und Brian in ihr Auto stiegen, startete über ihnen die Maschine nach Los Angeles. Mit Tränen in den Augen sah Joan aus dem Fenster und dachte an das hinter ihr liegende Jahr in Mailand zurück. Ein Jahr, das nicht schöner und zugleich so schrecklich sein konnte. Es war das erste Jahr nach Steves Tod gewesen. Damals war sie nach Mailand geflüchtet, um den Verlust zu verwinden und nun floh sie nach Los Angeles zurück, um zu vergessen...

Nachdem der Arzt im Mailänder Krankenhaus Joan gründlich untersucht und ihr Blut abgenommen hatte, stellte sie heraus, wie Raphael sie gegen ihren Willen in seine Wohnung hatte bringen können. Bereits während der Party musste er Joan unbemerkt Drogen in ihren Cocktail gegeben haben, sodass sie sich an kaum etwas erinnern konnte, was vor ihrem Erwachen in seiner Wohnung geschehen war. Bevor Joan entlassen wurde, hatte der Arzt ihr nahegelegt, sich in den nächsten Wochen bei ihrer Ärztin in Los Angeles vorzustellen, damit diese die Heilung ihrer Wunde beobachtete. Durch den ständigen Kampf mit Raphael hatte Joan etliche Verletzungen in der Vagina davongetragen, die der Arzt hatte nähen müssen. Er versicherte Brian und Rachel jedoch, dass eine Schwangerschaft in einigen Jahren grundsätzlich nicht ausgeschlossen war, doch ob je eine normale Entbindung in Frage käme, wollte er zu diesem Zeitpunkt nicht sagen. Zuerst musste die Wunde ohne Probleme verheilen und dazu war die Überwachung ihrer Ärztin notwendig.

Die erste Woche verbrachte Joan weitgehend in Brian und Rachels Appartement in der Ocean Avenue. Mit der Ausrede, sie sei krank, bat sie Bob, dem Portier des Appartementhauses, ihr einige Lebensmittel zu besorgen und ins Appartement hinauf zu schicken. Erst nachdem die Prellungen an Armen und Beinen und die Schwellung ihrer Augen nicht mehr zu sehen waren, traute sie sich wieder hinaus. Ihre Ausflüge an die frische Luft blieben jedoch kurz. Zumeist eilte sie zum nächsten Supermarkt, kaufte das Notwendigste ein und kehrte wieder ins Appartement zurück, wo sie den restlichen Tag überwiegend im Bett des Gästezimmers verbrachte.

Das Telefon klingelte. Joan stöhnte laute. Es läutete erneut, doch erst beim vierten Klingeln öffnete sie verschlafen die Augen und tastete mit der Hand zum Telefon, das auf dem Nachttisch lag.

„Ja?“, fragte sie gähnend.

„Joan? Bist du das?“, erkannte sie die Stimme ihres Bruders.

Brian, was willst du denn so früh von mir?“ Sie stöhnte und rollte sich auf den Rücken herum. „Wie spät ist es?“, fragte sie leise.

„Bei dir elf Uhr“, antwortete Brian von seinem Büro aus. Bei ihm war es bereits später Nachmittag. „Jo, was ist los? Fühlst du dich nicht gut?“

„Es ist alles okay, Brian.“

„Hey“, sagte er sanft. „Ich spüre doch, dass mit dir etwas nicht stimmt. Willst du mir nicht sagen, was los ist?“

„Ich bin nur müde. Die Nacht war sehr kurz.“

Während er mit der linken Hand den Hörer hielt, stützte er sich mit dem Ellenbogen des rechten Arms auf seinen Schreibtisch auf und fuhr sich mit Daumen und Zeigefinger das Nasenbein hinauf. „Hast du nach wie vor Albträume?“

Joan zögerte einen Moment und dachte an die Nächte seit jenem Tag, in denen sie immer wieder aus dem Schlaf hochgeschreckt war. „Kaum noch“, log sie, obwohl die Albträume sie noch immer jede Nacht begleiteten. Doch sie hatte zu lange gezögert; Brian kannte sie gut genug, um die Wahrheit aus ihren wenigen Worten herauszuhören.

„Ich habe mit Dad telefoniert“, wechselte er das Thema.

Schweigen am anderen Ende der Leitung. Joan schloss die Augen und zog die Bettdecke bis an die Brust hinauf. „Was... was hast du ihm erzählt?“, hörte er sie schließlich fragen.

„Nichts. Ich dachte...“ Er stockte, als seine Sekretärin in sein Büro trat. Schnell winkte er sie hinaus. „Ich dachte, du solltest es ihnen selbst sagen.“

Tränen brannten in ihren Augen. „Warum? Was nützt es ihnen, wenn sie davon wissen?“

„Sie sind unsere Eltern“, erklärte Brian ruhig.

„Warum sollten sie sich auch noch Vorwürfe machen? Brian, es war weder deine noch ihre Schuld. Wann begreifst du das endlich?“

Brian erstarrte hinter seinem Schreibtisch. Er hatte nicht gewusst, dass seine Gefühle so offensichtlich gewesen waren. Immerzu hatte er versucht, sie vor ihr zu verbergen.

„Es betrifft allein mich, also lass mich auch allein damit fertig werden“, sagte sie mit feuchten Augen und legte den Hörer auf. Obwohl er ihr gegenüber nie eine Anmerkung gemacht hatte, wusste sie von seinen Selbstvorwürfen und Schuldgefühlen. Beides konnte sie nicht länger ertragen.

Als es gleich darauf erneut klingelte, hob Joan nicht ab. Stattdessen verließ sie das Bett und ging ins Badezimmer, wo sie sich unter die Dusche stellte und das Wasser andrehte.

In den nächsten Stunden läutete immer wieder ihr Telefon. Es war Brian, der sie über den Anrufbeantworter bat, ans Telefon zu gehen, aber während sie auf der Couch saß und seinen Worten lauschte, folgte sie seiner Bitte kein einziges Mal.

Am Abend dann ertönte der Summer ihrer Sprechanlage. Joan, die im Bademantel im Sessel saß, stellte die Musik leiser, stand auf und ging zur Eingangstür. „Bob, was gibt es?“, fragte sie den Portier freundlich durch die Sprechanlage.

„Verzeihen Sie die Störung, Mrs. Farley. Bei mir ist Mr. Nicholas Blake. Er lässt anfragen, ob er sie einige Minuten sprechen könnte?“

Joan seufzte. Ein Freund Brians, der sich sicher auf dessen Drängen hin nach ihrem Wohlbefinden erkundigen sollte. „Bob, sagen Sie ihm, dass es mir gut geht.“

„Das ist alles, Mrs. Farley?“

„Ja. Danke, Bob“, sagte sie und hängte den Hörer in die Anlage zurück.

Nach einer weiteren von Albträumen geplagten Nacht, in der sie mehrmals schweißgebadet aufgeschreckt war, sah Joan am Morgen in den Spiegel im Badezimmer und bedauerte die junge Frau, die sie darin erblickte. Wo war die Stärke geblieben, die sie all die Jahre so deutlich gezeigt hatte? Steves Tod, den schweren Unfall und die Rehabilitation hatte sie überwunden und überstanden, also würde sie diesen Abschnitt ihres Lebens auch bewältigen.

„Nimm’ dich endlich zusammen, Joan Farley“, sagte sie zu ihrem Spiegelbild. „Es ist an der Zeit, dass ich mein Leben wieder in die Hand nehme.“

Sie war fest entschlossen, sofort damit zu beginnen. Sobald sie geduscht und ausgiebig gefrühstückt hatte, zog Joan sich ihr zartrosafarbenes, geblümtes Trägerkleid an und verließ das Appartement. Ihr Weg führte sie geradewegs zu dem kleinen Friedhof. Als Joan nach so langer Zeit wieder vor Steves Grab trat, sich hinunterbeugte und die Rose vor den weißen Stein legte, verspürte sie zum ersten Mal in ihrem Leben Seelenfrieden. Die Sehnsucht nach Steve und das erdrückende, schmerzende Gefühl in ihrer Brust, wenn sie an die gemeinsame Vergangenheit dachte, waren endgültig verschwunden. Sie hatte sich von ihm gelöst und sie konnte nicht sagen, was ihr mehr Angst einjagte: der fremde, doch angenehme Seelenfrieden oder die Tatsache, dass sie keinen Schmerz mehr empfand, wenn sie an Steve dachte.

Nach ihrem Besuch auf dem Friedhof schrieb Joan sich für das kommende Semester an der University of California at Los Angeles ein. Ab September wollte sie ihr Marketingstudium wieder aufnehmen.

Mittlerweile war Joan seit vier Wochen in Los Angeles. Ende Juni stiegen die Temperaturen weit über die dreißig Grad Grenze. Nach wochenlanger Trockenheit gab es keine Stelle, an der die Erde nicht ausgedorrt war und förmlich nach Wasser schrie. Die Strände entlang des Pazifiks waren dicht belegt. Jeder der die Möglichkeit hatte, stürzte sich in die hohen Wellen.

Joan lief barfuss den Sandstrand hinunter und lächelte, als sie von weitem das Strandcafe sah, in dem sie bis zu ihrem Unfall mit Steve gearbeitet hatte. Das Theos war das einzige Cafe weit und breit, das einen direkten Zugang zum Strand von Santa Monica hatte. Die meisten Gäste kamen in Badehose und Bikini und wählten einen Platz an den Tischen mit den Korbstühlen, die auch draußen im Sand standen.

„Joan!“, rief ihr die Kellnerin lächelnd entgegen und wartete mit einem vollen Tablett in der Hand, bis Joan zu ihr herankam.

„Hey, Julie“, sagte Joan und umarmte sie kurz.

„Seit wann bist du wieder in L.A.?“

„Seit ein paar Wochen“, antwortete Joan und folgte ihr durch die besetzten Tische hindurch.

„Und da kommst du erst jetzt zu uns!“ Julie drehte den Kopf zu ihr herum. „Sag’ das bloß nicht Theo. Er wird ausflippen.“

„Ist er da?“

Julie nickte. „Klar. Der alte Bursche steht wie eh und je hinter der Theke.“

Joan lächelte. Das alles hatte sie in Mailand vermisst. Das Meer, den Strand, das Theos und ihre Freunde.

Von der Tür bis zur Theke wartete eine lange Schlange, doch ungeachtet dessen ging Joan an den Wartenden vorbei und erblickte Theo hinter der Theke. Er hatte sich kein bisschen verändert. Wie immer trug er Shorts und Badeschlappen, sein kräftiger Oberkörper war jedoch wie üblich unbekleidet. Obwohl er inzwischen die Vierzig überschritten hatte, sah man ihm sein Alter nicht an. Jeden Abend, nachdem er das Cafe geschlossen hatte, ging er ins Fitnessstudio, um sich fit zu halten und am Morgen verbrachte er mindestens eine Stunde auf seinem Surfbrett.

Gerade als Theo seinen Gästen den Rücken zugedreht hatte, trat Joan hinter die Theke, stellte ihre Tasche auf den Boden und wandte sich an ein junges Mädchen.

„Was darf es für dich sein?“ Sogleich hörte sie sich die Bestellung an.

„Jo!“ Überrascht sah Theo sie an. Er strahlte. „Ich dachte, du bist in Mailand!“

„Ich habe deine Hilfeschreie bis dorthin gehört.“ Lachend umarmte er sie, aber Joan löste sich schnell aus seinen Armen. „Unterhalten wir uns später. Sag’ mir einfach, wo ich dir am Besten helfen kann.“

Dankend nahm Theo ihre Hilfe an, da ihm seit einigen Tagen zwei Kellnerinnen fehlten. Julie und das andere Mädchen liefen sich die Hacken ab. Seit ihrer Öffnung am Mittag hatte es nicht fünf Minuten gegeben, in denen sie sich einen Moment hatten ausruhen können.

„Erst sind sie alle heiß auf den Job“, erklärte Theo ihr nach einigen Minuten. „... dann merken sie wie hart die Arbeit ist und sind nach zwei Tagen wieder weg. Jeden Morgen bete ich dafür, dass ich nicht eines Tages alleine hier stehe.“ Er reichte seinem Gast zwei Gläser und kassierte ab.

„Ich würde gern wieder bei dir arbeiten, Theo“, sagte Joan, während sie den Cocktail für ihren Kunden mixte.

„Wirklich?“

„Ich könnte schon morgen anfangen. Ich will mein Studium wieder aufnehmen. Alles wie beim Alten“, fügte sie leichthin hinzu. Da streifte ihr Blick eines der vielen Bilder an der Wand. Drei Menschen waren darauf zu erkennen. Theo, Steve und sie.

„Wir waren ein eingespieltes Team“, sagte Theo, der ihren verstohlenen Blick bemerkt hatte. „Auf euch war immer Verlass...“

Nach Feierabend fand Theo sie gedankenverloren an einem der Tische vor. Sie saß am Eingang in einem der Korbstühle, den Blick auf dem Foto von Theo, Steve und ihr gerichtet. Zum ersten Mal erlebte er sie nicht fröhlich, lachend oder lächelnd. Diese Seite, diese Trübseligkeit war ungewöhnlich für sie und doch hatte Theo sich längst gefragt, wie es in ihrem Herzen aussehen möge.

„Du vermisst ihn, hm?“ Erledigt setzte Theo sich in den Stuhl neben sie. Joan wandte den Kopf zu ihm und lächelte schwach.

„Es tut nicht mehr so weh, wenn ich an ihn denke“, sagte sie leise und verdrängte die aufsteigenden Tränen. „Aber ja... ich vermisse ihn.“

„Ich bin da, wenn du jemanden zum Reden brauchst. Obgleich ich nicht so aussehe, ich bin ein guter Zuhörer.“ Er lächelte.

„Ich weiß, Theo. Danke.“ Sie beugte sich hinüber und küsste seine Wange.

Im Laufe der darauffolgenden Woche besichtigte Joan vor ihrem Dienst im Theos drei Wohnungen, dessen Anzeige sie in der Zeitung gelesen hatte. Die ersten zwei waren in jeder Hinsicht ein Desaster. In beiden stank es, als hätte ein Toter über Monate darin gelegen. Joan wusste, dass sie aufgrund ihres kleinen Einkommens keine große Auswahl hatte, doch deshalb wollte sie nicht in solch einem Loch wohnen.

„Sag mir wie viel du für eine bessere Wohnung benötigst und ich gebe dir das Geld“, bot Brian ihr an, als sie ihm von der Enttäuschung erzählt hatte.

„Ich nehme dein Geld nicht an, Brian. Ich schaffe es allein.“

„Warum bist du nur so stur?“

Joan lächelte. Vielleicht hatte er Recht und sie war stur. Sie aber sah es aus einer anderen Sicht. Sie wollte ohne den Rückhalt ihrer Eltern oder Brian ihr eigenes Leben führen. Und dazu gehörte auch, dass sie für sich selbst sorgte.

Nach etwas Geduld fand Joan schließlich eine Wohnung in Venice, die ihr auf Anhieb gefiel. Sie besaß eine kleine, gemütliche Küche und ein ebenso kleines Badezimmer, das anstelle der Badewanne nur eine Dusche enthielt. Joan, die sehr gern badete, ging diesen Kompromiss ein. Das geräumige Schlaf- und Wohnzimmer dagegen besaß einen Balkon.

Nachdem Joan den Mietvertrag unterzeichnet hatte, strich sie neben ihrer Arbeit im Cafe das einzige Zimmer ihrer Wohnung und begann es einzurichten. Zwischendurch fuhr sie immer wieder ihre Sachen, die Brian in Kartons verstaut hatte, mit dem Auto ihres Bruders in ihre erste eigene Wohnung.

Im Juli verbrachte Joan ihren vierundzwanzigsten Geburtstag zurückgezogen in ihrer Wohnung. Im Nachthemd saß sie auf dem Bett und pustete die einzelne Kerze auf der kleinen Torte aus, die sie sich selbst am Vortag gekauft hatte. Es war das erste Mal seit Jahren, dass es keine große Feier für sie gab. Noch vor Tagen hatte sie sich vor ihrem Geburtstag gefürchtet, aber nun störte sie das Alleinsein nicht so sehr, wie sie angenommen hatte.

„Wie geht es dir, Schwesterchen?“, fragte Brian sie, nachdem er ihr zum Geburtstag gratuliert hatte.

„Ich fühle mich gut“, antwortete Joan lächelnd und zum ersten Mal glaubte Brian ihr. Bereits bei ihrem letzten Telefonat war ihm ihre bessere Stimmung aufgefallen. Ihre Stimme hatte glücklicher geklungen, sodass Rachel und er auf Joans Drängen hin beschlossen hatten, doch bis Anfang September in Mailand zu bleiben und anschließend nach Rom zu fliegen. Ab ersten Oktober würde Brian dann die Leitung der Filiale in Los Angeles übernehmen.

Der August verflog wie im Wind, die hohen Temperaturen blieben ihnen jedoch standhaft erhalten. Während des heftigsten Waldbrandes in der Umgebung von Los Angeles, den Tausende Feuerwehrmänner beinahe drei Wochen lang ununterbrochen bekämpften, verloren sieben Menschen in Leben. Darunter befanden sich auch zwei Kinder, die im Wald gespielt hatten und vom Feuer eingeschlossen worden waren. Bei dem Versuch, sie aus der Flammenhölle zu retten, starben zwei Feuerwehrmänner. Als Joan in den Sechs-Uhr-Nachrichten davon erfuhr und die schrecklichen Bilder der Zerstörung im Fernsehen sah, wurde ihr übel. Sie rannte ins Badezimmer und übergab sich.

„Obwohl es fürs Geschäft gut ist, habe ich diese Hitze allmählich satt“, stöhnte Theo, wischte sich die feuchte Stirn ab und griff nach seiner Wasserflasche.

Joan lächelte ihn an. „Ruh’ dich aus, alter Mann. Ich übernehme die Bestellung für dich.“ Sie befüllte drei Gläser mit Orangensaft, steckte jeweils einen Strohhalm hinein und ging mit dem Tablett nach draußen. Von dort kam sie einige Minuten später mit einem befüllten Tablett zurück und erreichte gerade noch rechtzeitig die Theke, ehe sie schwankte und Theo sie augenblicklich stützte.

„Komm’ setz dich“, sagte er im väterlichen Ton und führte sie zu einem Stuhl, auf den Joan sich wiederwillig setzte.

„Es geht schon wieder“, beruhigte sie ihn und nahm das Glas Wasser, das Theo ihr daraufhin reichte. „Das kommt von der Hitze...“

„Du bleibst hier sitzen, bist du wieder Farbe im Gesicht hast“, ordnete Theo an, obwohl es ihr anscheinend wirklich besser ging. „Wehe du stehst vorher auf“, sagte er und drohte ihr mit seinem Zeigefinger, worauf sie lächelte.

In der Woche nach dem Labor Day, den sie ausgiebig im Theos gefeiert hatten, begann Joan das erste Semester nach ihrer einjährigen Pause an der Universität in Los Angeles. Mit viel Freude stürzte sie sich in ihr Studium und ließ keine einzige Lesung ausfallen. Sobald ihr Tag als Studentin zu Ende war, fuhr sie mit dem Fahrrad zum Cafe, um dort zu arbeiten, bis Theo die Türen schloss. An den Wochenenden arbeitete sie sogar von früh bis abends im Cafe, da sie nur so am Monatsende genügend Geld für ihre Miete zusammen bekam.

„Wenn du so weiter machst, gehst du daran zu Grunde“, warnte Theo sie eines Abends, als er die Tür abschloss. Seit Tagen schon bemerkte er, wie angespannt und entkräftet sie war und nach dem heutigen Tag wollte er nicht länger zusehen. Am Morgen hatte er zufällig mit angehört, wie Joan sich in der kleinen Toilette übergeben hatte, nachdem sie einem Gast eine extra Portion Majonäse zu seinem Sandwich serviert hatte.

„Du hast ja Recht, Theo. Im Moment habe ich ziemlich viel Stress, aber das legt sich bestimmt wieder“, war Joan sich sicher.

Theo sah sie mit besorgtem Blick an und brummte zerknirscht, da er wusste, welch ein Sturkopf sie sein konnte. Wenn er zu diesem Zeitpunkt jedoch eine Ahnung davon gehabt hätte, dass sie sich seit zwei Wochen regelmäßig übergeben musste, dann hätte er Joan persönlich zu einem Arzt gebracht.

An besonders heißen Tagen sehnte Joan sich den Abend regelrecht herbei, da diese letzten Stunden des Tages ihr allein gehörten. Sobald das Theos schloss, rannte sie ins kalte Wasser des Pazifiks und schwamm eine Weile, um ihre Füße und Arme zu entspannen, die von der schweren Arbeit im Cafe schmerzten. Immer häufiger fühlte sie sich schlapp und ausgepowert und die tägliche Übelkeit ließ ebenfalls nicht von ihr. Beides schob sie auf den Virus, den sie sich anscheinend vor einigen Wochen eingefangen und noch nicht überstanden hatte. Doch trotz dieser spürbaren Veränderungen ihres Körpers verringerte sie weder ihr Lernpensum noch die Stunden im Cafe. Sie stürzte sich in beide Arbeiten, bis sie schließlich im Theos zusammenbrach.

„Du siehst nicht gut aus, Joan“, sagte Theo, nachdem sie wieder zu sich gekommen war und er sie zu einem Stuhl in der Küche geführt hatte, und betrachtete bekümmert das blasse Gesicht seiner jungen Freundin.

Sie lächelte schwach. „Ein nettes Kompliment.“

„Ich meine es ernst, Jo. Du solltest dich gründlich durchchecken lassen“, meinte er mit väterlich besorgter Stimme.

„Ich habe mir einen Virus eingefangen, der mich etwas schwächt“, tat sie ihren Zusammenbruch leichthin ab.

„Dein Virus ist sehr hartnäckig“, gab er jedoch zu bedenken, da die ersten Anzeichen beinahe vier Wochen zurücklagen. „Du solltest das von einem Arzt abklären lassen.“

„Okay, ich lasse mir einen Termin geben.“

„Und lässt damit Wochen verstreichen? Nein, du gehst sofort zum Arzt und wartest dort, bis man dich untersucht. Vorher will ich dich hier nicht sehen.“

„Aber...“

„Kein aber!“, sagte Theo entschieden und duldete keinen Widerspruch.

Noch am selben Nachmittag saß Joan im vollen Wartezimmer ihrer Gynäkologin und wartete darauf, dass sie endlich aufgerufen wurde. Als dann schließlich ihr Name durch die Sprechanlage drang, stand sie auf und betrat das Untersuchungszimmer, wo Dr. Smith sie lächelnd begrüßte.

„Hallo Joan. Du warst lange nicht mehr bei mir“, sagte die hochgewachsene, schwarzhaarige Frau, die die Vierzig erst knapp hinter sich hatte, und schloss hinter ihnen die Tür.

„Ich war in Europa“, erklärte Joan und nahm auf dem angebotenen Stuhl auf der anderen Seite des Schreibtisches Platz. Seit ihrem Umzug nach L. A. war Dr. Smith nicht nur ihre Frauenärztin, sondern auch die erste Ansprechpartnerin bei allen anderen medizinischen Problemen.

„Ich war vor einigen Jahren in Europa, Paris. Es war wunderbar“, sagte die Ärztin in Erinnerung daran lächelnd und klappte die Akte ihrer Patientin auf. „Nun, was führt dich zu mir? Die üblichen Untersuchungen?“

„Ich fühle mich seit einigen Wochen zunehmend schwächer. Eine Zeitlang war mir regelmäßig übel und heute bin ich ohnmächtig geworden“, zählte Joan der Ärztin ihre Beschwerden auf. „Ich habe wahrscheinlich nur zu viel um die Ohren. Ich studiere wieder an der UCLA und arbeite nebenbei in dem kleinen Cafe am Strand.“

„Das Theos?“

„Ja, genau. Waren Sie schon einmal dort?“

„Ein einziges Mal.“ Dr. Smith lächelte. „Ich habe zu wenig Zeit.“

„Die sollten Sie sich aber nehmen.“

„Das versuche ich, aber es funktioniert nicht.“ Sie klappte die Patientenakte zu und bat Joan, sich auf die Liege zu setzen. Nachdem die Ärztin ihr Blut abgenommen hatte, führte sie die gynäkologische Untersuchung durch und wurde merkwürdig still.

Joans Lächeln verschwand und wurde durch ein ausdrucksloses Gesicht ersetzt. Sie nahm weder die tickende Uhr an der Wand, noch den Lärm auf der Strasse wahr. „Dr. Smith, ist es etwas Ernstes?“, fragte sie nach einem Moment argwöhnisch.

„Joan, wie soll ich sagen...“ Langsam rollte die Ärztin mit ihrem Hocker an ihre Seite. Bei der Untersuchung waren ihr sofort die zahlreichen Narben in der Vagina ihrer Patientin aufgefallen, die erst unlängst genäht worden waren. Da derartige Wunden bei einem normalen Geschlechtsverkehr niemals entstehen konnten, deutete alles auf eine brutale Vergewaltigung hin. „Dir hat jemand sehr weh getan, nicht wahr?“, fragte Dr. Smith behutsam.

Joan, die noch immer auf dem gynäkologischen Stuhl saß, wandte den Blick von ihrer Ärztin ab. Bisher war sie jedem Gespräch über diese Nacht erfolgreich ausgewichen. Sie hatte geglaubt, das Geschehene längst verarbeitet zu haben, doch erst jetzt bemerkte sie, dass dem nicht so war. Zurückblickend erkannte sie, dass sie in den vergangenen Wochen jegliche Gedanken an die Vergewaltigung mit aller Gewalt verdrängt hatte, ehe die Erinnerungen daran sie wieder zerfressen konnten.

„Joan, ich denke, du bist schwanger“, sagte Dr. Smith vorsichtig.

Augenblicklich riss Joan den Kopf herum. „Das ist unmöglich!“, sagte sie fassungslos und sah ihre Ärztin an, die ihr einen mitfühlenden Blick zuwarf.

„Deine Übelkeit, die Schwächeanfälle, das Schlappheitsgefühl. Wir sollten eine Ultraschalluntersuchung machen, damit wir Gewissheit haben“, erklärte Dr. Smith ruhig, da sie sich dem Schockzustand ihrer Patientin gewahr wurde.

Ungläubig schüttelte Joan den Kopf. „Das kann nicht sein...“

„Wir werden es gleich herausfinden, Joan“, sagte Dr. Smith und zog das Ultraschallgerät neben den Untersuchungsstuhl. „Jetzt wird es auf deinem Bauch etwas kalt werden“, bereitete sie Joan auf das Gel vor, das sie ihr sogleich auf den Bauch schmierte.

Während die Ärztin ihr mit der Sonde langsam über den Bauch fuhr, hatte Joan die Augen geschlossen. Tränen standen darin, die nur auf den Augenblick warteten, sich ihren Weg hinauszubahnen. Sie bekamen ihre Chance, als Dr. Smith Joan die Schwangerschaft bestätigte.

„Ich kann es nicht bekommen! Nicht von diesem Kerl...“, sagte Joan völlig aufgelöst, nachdem sie sich wieder angezogen hatte. Ihre Gedanken spielten Achterbahn. Ihre Gefühle überschlugen sich. Mit einem Mal kehrten die Erinnerungen an Raphael so deutlich in ihr Gedächtnis zurück, dass Joan glaubte, an dem Schmerz und die Scham zu ersticken. „Was ist mit einem Abbruch?“, fragte sie mit tränenverschleiertem Blick ihre Ärztin.

„Im Gegensatz zu vielen meiner Kollegen würde ich in deinem Fall einen Abbruch sogar befürworten, aber...“ Sie sah Joan mitfühlend an. „... da du bereits in der vierzehnten Woche bist, ist es dafür zu spät.“ Dr. Smith hielt es für überflüssig, ihre Patientin zu fragen, warum sie nicht schon eher zu ihr gekommen war. So wie sie die Situation auffasste, hatte Joan die Vergewaltigung aus ihrem Kopf verbannt, statt sie zu verarbeiten. „Joan?“, begann die Ärztin erneut. „Du warst doch sicher anschließend im Krankenhaus. Hat man denn dort keine Ausschabung vorgenommen?“

„Ich weiß nicht...“

„Hattest du nachher wieder sexuellen Kontakt?“ Sofort schüttelte Joan den Kopf. „Warum nimmst du denn die Pille nicht mehr?“, erkundigte Dr. Smith sich, als Joan ihre Tränen mit der Hand wegwischte.

„Ich habe sie nie gut vertragen und nach Steves Tod... Es gab keinen Grund mehr.“

Dr. Smith nickte verständnisvoll. „Wenn du jemandem zum Reden brauchst, ich bin jederzeit für dich da.“ Sie wusste, dass sie ihre Patientin in dieser Situation nicht allein lassen durfte.

„Was soll ich jetzt tun?“

„So grausam es für dich klingen mag - zuerst einmal dein Baby zur Welt bringen“, sagte die Ärztin mit weicher Stimme. „Es kommt Ende März. Bis dahin wirst du dir überlegen müssen, ob du dein Leben mit deinem Baby verbringen möchtest, oder ob du es zur Adoption freigibst.“ Sie hielt einen Moment inne und sprach dann weiter. „Joan, denke immer daran, dass das Baby auch ein Teil von dir ist. Dieser kleine Mensch wird immer zu dir gehören.“

Fünf Tage darauf lag Joan gedankenverloren in ihrem Bett und starrte an die Zimmerdecke. Seit sie von der Schwangerschaft erfahren hatte, war sie weder aus ihrer Wohnung gegangen noch hatte sie das Bett verlassen. Sie wusste nicht einmal mehr, wann sie zuletzt etwas gegessen hatte.

Mit einem Mal wurde Joan aus ihren Gedanken gerissen. Ihr Telefon klingelte. Joan, die nur Theo über ihr fortbleiben informiert hatte, stöhnte genervt auf. Es konnte nur Brian, Rachel oder ihre Eltern sein - in der Universität vermisste sie niemand - und keinen von ihnen wollte sie im Moment sprechen.

„Joan... bitte geh’ ans Telefon“, hörte sie die besorgte Stimme ihrer Ärztin schließlich auf dem Anrufbeantworter. „Joan, bitte... Wenn du nicht abnimmst, lässt du mir keine Wahl. Ich werde die Polizei alarmieren, die notfalls deine Tür aufbricht.“

Da griff Joan nach dem Telefon, das auf ihrem Nachttisch lag, und meldete sich.

„Hallo“, sagte Dr. Smith erleichtert. „Wie geht es dir?“

„Ich liege im Bett und heule.“

„Und das mit Sicherheit seit fünf Tagen“, stellte die Ärztin fest. „Hast du jemanden mit dem du sprechen kannst?“

„Ich muss mir selbst erst klar werden, wie ich darüber denke...“

„Versprichst du mir, dass du zwischendurch an die frische Luft gehst? Es würde euch gut tun.“

„Uns...“, ließ Joan sich langsam durch den Kopf gehen. Es hörte sich noch immer ungewohnt an und womöglich, so dachte sie, würde sie sich nie daran gewöhnen.

Nie zuvor hatte sie sich mehr nach einem Menschen gesehnt, der sie in seine Arme schloss. Sie vermisste die Behaglichkeit, die sie als kleines Mädchen stets von ihrer Familie geboten bekommen hatte. Ihren Eltern, die sie fortwährend behütet aber nie in Watte gepackt hatten, und Brian, der ihr stundenlang hatte zuhören können. Der ihr liebste Mensch befand sich jedoch nach wie vor am anderen Ende der Welt und hatte trotz ihrer häufigen Telefonate keine Ahnung, wie einsam sie sich fühlte. Sie wusste, dass ihn ihre gespielte Fröhlichkeit täuschte, doch konnte sie Gespräche derartiger Wichtigkeit nicht am Telefon führen. So ließ Joan eine weitere Woche verstreichen, in der sie ihre Arbeit im Cafe und ihr Studium wieder aufnahm, ohne mit ihrer Familie über die Schwangerschaft gesprochen zu haben.

Am Mittwoch darauf landete Rachels und Brians Maschine auf dem Los Angeles International Airport. Angesichts ihrer offiziellen Verlobung vor Rachels Eltern, stiegen sie freudestrahlend aus dem Flugzeug und fuhren auf direktem Weg in ihr Appartement, wo sie die nächsten Stunden im Bett verbrachten. Nachdem sie sogar noch zu drei Stunden Schlaf gekommen waren, klingelten sie am Abend bei Joan, die sie eingeladen hatte. Während Brian und Rachel sich die kleine Wohnung ansahen, bestellte Joan beim Chinesen.

„Habt ihr euch schon einen Termin für eure offizielle Verlobungsfeier ausgesucht?“, fragte Joan um ein Lächeln bemüht, als sie Brian und Rachel gegenüber in dem Sessel saß und ihre Nudeln mit Stäbchen aß.

„Darüber haben wir noch nicht gesprochen“, antwortete Rachel und lächelte ihren frisch Verlobten an. Da erzählte Brian seiner Schwester ausführlich von dem zweiwöchigen Urlaub in Rom und seinem Antrag vor Rachels Eltern. Glücklich beugte er sich zu Rachel und küsste sie zärtlich.

„Ich erwarte ein Baby“, platzte Joan plötzlich heraus.

Augenblicklich sahen Brian und Rachel zu ihr hinüber. Langsam verschwand das Lächeln aus seinem Gesicht. „Seit wann gibt es wieder jemanden in deinem Leben?“, fragte er irritiert, denn ein ungutes Gefühl übermannte ihn.

Joan schüttelte den Kopf. „Es ist... von ihm.“

„Wie bitte!?“, sagte er entrüstet. „Das ist nicht dein ernst! Du kannst unmöglich das Kind von diesem Kerl bekommen. Du musst es abtreiben.“

„Ich darf mich dazu wohl gar nicht äußern“, erklärte sie nüchtern.

„Du kannst nicht das Kind von diesem Kerl bekommen“, wiederholte Brian eindringlich und setzte sich aufrecht hin.

„Ich habe keine Wahl.“

„Wie meinst du das?“, fragte er gereizt.

„Es ist zu spät für einen Abbruch. Ich bin im dritten Monat.“

„Wunderbar!“, sagte er sarkastisch und schüttelte ungläubig den Kopf. „Ich kann das nicht glauben.“

„Brian, beruhige dich“, sagte Rachel bestimmt, obwohl die Nachricht sie ebenso schockierte, und Brian stand auf. Erschüttert lief er im Zimmer hin und her und zwang sich selbst zur Ruhe. „Ich habe mit diesen Dingen wenig Erfahrung, aber ich dachte, im Krankenhaus hätte man dich untersucht“, wandte Rachel sich mit sanfter Stimme an Joan.

„Warum haben die Ärzte das nicht verhindert?“, fragte Brian außer sich. Wie konnte sie nur das Baby ihres Vergewaltigers bekommen?

„Verdammt, Brian, ich weiß es nicht!“, sagte sie verärgert. „Ich weiß nur, dass ich schwanger bin und es für eine Abtreibung zu spät ist. Ja, ich hätte die Anzeichen eher bemerkten müssen“, gab sie zu. „...aber ich habe diese Nacht aus meinem Gedächtnis verdrängt. Sie existierte für mich nicht.“ Sie sah, wie Brian wortlos die Arme vor seiner Brust verschränkte und sich mit dem Rücken zu ihr zum Fenster umdrehte. Auch wenn er sich ihnen gegenüber zurückhielt, so merkte Joan, dass er über ihre Eröffnung über alle Maßen schockiert war. Er verspürte einen ungeheuren Hass auf Raphael, wünschte, er hätte ihn damals nicht nur zusammengeschlagen. Zugleich wollte er auf liebevolle Wiese für seine Schwester da sein. Joan konnte sich vorstellen, wie Brian sich in diesem Moment fühlte. Eine Woche lang hatten dieselben Gedanken sie beschäftigt.

„Willst du für das Baby nach der Geburt sorgen?“, fragte Rachel sie nach einem Augenblick des Schweigens.

„Ich weiß es noch nicht...“

Während Joan sich in den darauffolgenden Wochen häufiger mit Rachel im Cafe oder zum Bummeln verabredete, sahen sich die Geschwister in dieser Zeit kaum. Brian benötigte einige Wochen, um den Hass auf Raphael zu zähmen und dieses Gefühl gegen seine bedingungslose Liebe zu seiner Schwester einzutauschen.

Ende Oktober leitete Brian bereits seit vier Wochen Farleys in Los Angeles, als Joan ihn mittags im Büro überraschte. Seit Brian von der Schwangerschaft erfahren hatte, waren sie einander nur zufällig begegnet oder wenn Rachel sie zusammengeführt hatte. Joan, die ihrem Bruder Zeit gelassen hatte, machte nun den ersten Schritt. Im sechsten Monat konnte sie ihre Schwangerschaft nicht mehr verbergen, der gewölbte Bauch sprach für sich. In ihrem neuen hellblauen Umstandskleid betrat Joan das Vorzimmer zu Brians Büro und begrüßte Brenda, die langjährige Sekretärin ihres Bruders.

„Oh, es hat mich getreten“, sagte Brenda lächelnd, die ihre Hand auf Joans Bauch gelegt hatte.

Just in diesem Moment trat Brian aus seinem Büro und sah sie überrascht an. „Jo, was machst du denn hier?“

Sie lächelte. „Hast du Zeit für einen gemeinsamen Lunch mit mir?“

„Brenda...“, sagte er und blickte über ihre Schulter hinweg zu seiner Sekretärin. „Habe ich Zeit für meine Schwester?“

Sie nickte. „Ihr nächster Termin ist erst in drei Stunden“, erklärte Brenda.

„Okay, warte einen Augenblick.“ Brian eilte in sein Büro und kehrte gleich darauf mit seinem Jackett zu ihr zurück. „Wenn Mr. Kofell zurückruft, erreichen Sie mich auf dem Handy“, sagte er zu Brenda und hielt seiner Schwester die Tür auf.

„Dir macht dein Job hier wirklich Spaß, oder?“, fragte Joan ihn neugierig, während sie den durch Scheiben verglasten Gang hinuntergingen zum Fahrstuhl gingen.

Brian lächelte. „Ja, er macht mir Spaß. Er ist anstrengend und sehr zeitaufwendig, aber ich liebe meine Arbeit.“

„Das sieht man dir an.“ Joan freute sich für ihn. Er hatte lange und sehr hart dafür gekämpft, um eines Tages diesen Posten zu bekommen.

„Und du?“, fragte er sanft. „Wie fühlst du dich?“

„Dick!“, antwortete sie lachend. Auch Brian lachte.

Da hielt der leere Fahrstuhl auf ihrer Etage und sie stiegen hinein. Sobald sich die Türen geschlossen hatten, legte Brian seine flache Hand auf ihren gewölbten Bauch. Über seine unvorhergesehene Zuneigung überrascht, wandte Joan den Kopf zu ihm herum.

„Ich habe euch vermisst“, sagte Brian lächelnd, worauf Tränen der Rührung in ihre Augen stiegen. Als das Baby sich mit einem kräftigen Tritt gegen die Bauchdecke bemerkbar machte, lief auch Brian eine Träne über die Wange. „Ich freue mich auf dich, kleiner Mann.“

Kleiner Mann?“

„Nur ein Mann kann so fest treten“, erklärte er, zog sie liebevoll in seine Arme und drückte ihren Kopf sachte gegen seine Brust. Mit der Zeit hatte sein Herz über seinen Verstand gesiegt. Zwar befürchtete Brian noch immer, dass sie angesichts des Babys die Vergewaltigung niemals würde vergessen können, doch mittlerweile freute er sich, Onkel zu werden.

Von diesem Tag an sahen sie sich wieder häufiger und wann immer es Brians Job zuließ, holte er seine Schwester vom Theos ab und begleitete sie barfuss im Anzug den Strand entlang nach Hause.

Farleys sollte eine Kinderabteilung bekommen“, meinte Brian bei einem ihrer abendlichen Spaziergänge beiläufig.

„Vielleicht nimmst du Umstandsmode gleich mit ins Sortiment auf. Ich könnte Probelaufen“, zog sie ihren Bruder lächelnd auf.

„Hey, ich meine es ernst!“

„Ich weiß, tut mir leid. Du führst dich nur so auf, als würdest du Vater werden.“

„Er wird schließlich vorerst keinen haben.“ Brian suchte ihren Blick, aber sie wich ihm aus.

„Wir zwei brauchen niemanden.“ Sie fuhr sich über ihren Bauch. „Wir kommen sehr gut allein zurecht.“

Irrte er sich, oder lag Einsamkeit in ihrer Stimme? „Bist du dir sicher?“, fragte er vorsichtig und fing sich einen strengen Blick von ihr ein.

„Willst du mir wieder dein Geld anbieten?“

„Wenn du es nicht geschenkt möchtest, dann kannst du es mir gern irgendwann zurückzahlen.“

„Ich komme klar, Brian.“ Sie wusste nicht, wie oft sie sein Angebot bereits abgelehnt hatte, sie zählte längst nicht mehr mit. Tatsächlich kam Joan über die Runden. Sie war nicht reich, doch bemühte sie sich monatlich eine kleine Summe von ihrem Gehalt aus dem Theos für das Baby zurückzulegen.

Mit dem Dezember begannen schließlich die Weihnachtsvorbereitungen. Joan, die nur auf Rachels Drängen hin ihre Wohnung dürftig weihnachtlich dekoriert hatte, fand zum ersten Mal in ihrem Leben wenig Gefallen an den Feiertagen. Im siebenten Monat fiel ihr die Bewegung zusehends schwerer, sodass sie im Cafe die Arbeit hinter der Theke übernommen hatte. Zudem litt sie unter Stimmungsschwankungen, die mittlerweile nicht nur ihre Nerven, sondern auch die ihrer Mitmenschen strapazierten. Sie konnte sich über Kleinigkeiten schrecklich aufregen, sich weinend dafür entschuldigen und danach wieder lächeln.

„Begleitest du uns zur Weihnachtsparty von Farleys?“, fragte Rachel sie eines abends eine Woche vor Weihnachten in der Küche ihres Appartements, als sie Joan und sich einen alkoholfreien Cocktail aus Fruchtsäften mixte.

Joan runzelte die Stirn. „Ich will euch kein Anhängsel sein.“

„Dass bist du seit deiner Geburt“, neckte Brian sie, der soeben unbemerkt zur Tür hereingekommen war.

„Hey!“ Rachel warf ihm einen strengen Blick zu, aber Brian zuckte unschuldig mit der Schulter.

„Du hast Glück, dass ich gute Laune habe“, erwiderte Joan lächelnd, worauf Brian ihr einen Kuss auf die Wange drückte. Anschließend trat er zu Rachel und gab ihr einen zärtlichen Kuss.

„Darf ich fragen, wo du uns kein Anhängsel sein willst?“, fragte Brian interessiert und trank einen Schluck vom Cocktail seiner Verlobten.

„Bei der Weihnachtsparty von Farleys“, antwortete Rachel.

„Wo ist das Problem?“, wandte Brian sich mit fragendem Blick an seine Schwester. „Du bist eine Farley...“

„Vor allem bin ich dick“, schnitt Joan ihm ins Wort.

„Daher weht der Wind. Du findest dich unattraktiv. Du denkst, weil du schwanger bist, sieht dich kein Mann mehr an.“

Joan stöhnte. „Falsch, denn es interessiert mich nicht, wer mich wie ansieht. Im Übrigen mache ich mir über Männer im Moment keine Gedanken.“

Rachel, die die Vorboten bemerkte, warf Brian einen warnenden Blick zu, den er jedoch ignorierte. „Vielleicht änderst du ja deine Meinung, schließlich wirst du in drei Monaten Mutter und mein Neffe sollte nicht ohne Vater aufwachsen.“

„Meinst du nicht, dass geht nur mich etwas an?“, fragte Joan verärgert.

Brian ging über ihre Anmerkung hinweg. „Ein sehr guter Freund von mir ist wie du Single...“

„Liebling...“, sagte Rachel und berührte sachte seinen Arm.

„... und er liebt Kinder“, schloss er ab.

„Brian, ich bin erst vor wenigen Monaten vergewaltigt worden. Es kostet mich unendlich viel Überwindung deine Berührungen zu ertragen, aber die eines anderen Mannes...“ Allein der Gedanke daran jagte ihr nach wie vor schreckliche Angst ein. „Ich bin noch nicht so weit.“

Erst da wurde ihm seine Taktlosigkeit bewusst. Er konnte sich ohrfeigen. „Jo... es tut mir leid. Ich wollte nicht...“

Joan hob abwehrend die Hand und brachte ihn damit augenblicklich zum Schweigen. „Lass es gut sein“, sagte sie, stand von ihrem Stuhl auf und griff nach ihrer Handtasche. „Ich wünsche euch einen schönen Abend.“

„Joan, warte. Ich fahre dich heim“, beeilte Brian sich zu sagen, ehe sie zur Tür hinausgehen konnte.

„Ich nehme den Bus.“

Nachdem Joan das Appartementhaus verlassen hatte, lief sie zur nächsten Bushaltestelle und stieg in einen Bus ein, der in der Nähe ihrer Wohnung halten würde. Die ihr bekannte Strecke durch die vertraute Gegend dauerte nicht lange, doch von der Haltestelle aus hatte sie ein ganzes Stück zu Fuß zu gehen und bereits nach wenigen Gehminuten wurden ihr die Beine schwer. Zwanzig Minuten später erreichte sie schließlich erschöpft das Haus, in dem sie wohnte, und trat gerade zur Tür hinein, als ihr Nachbar den Fahrstuhl verließ.

„Joan, hallo“, rief er ihr freundlich zu, eilte zum Fahrstuhl zurück und stellte sich in die Lichtschranke, damit dieser nicht ohne seine schwangere Nachbarin nach oben fuhr.

„Danke, Andrew, aber das ist nicht nötig. Seitdem er ständig stecken bleibt, nehme ich lieber die Treppe.“

„Okay, wie Sie meinen.“ Er trat aus dem Fahrstuhl und kam ihr entgegengelaufen. Unter seinem Arm klemmte ein kleines Paket.

„Sie haben es aber eilig, Andrew.“

„Ich muss zur Post - das Weihnachtspaket für meine Mutter abgeben“, meinte er bereits an der Haustür.

„Da wird sie sich freuen.“

„Ich hoffe es!“, rief er und war verschwunden. Joan wunderte sich immer wieder über ihren gleichaltrigen Nachbarn, der seine Angelegenheiten stets in letzter Minute erledigte und somit im Dauerstress war.

Erledigt ging Joan langsam zur Treppe. Beim Gedanken an die dritte Etage überlegte sie, ob sie ausnahmsweise den Fahrstuhl nehmen sollte, entschied sich jedoch dagegen. Soviel Glück wie sie hatte, blieb ausgerechnet dann der Fahrstuhl stecken, wenn sie damit fuhr. „Wir schaffen das auch so“, sagte sie leise zu ihrem Baby und fuhr sich mit der Hand über ihren gewölbten Bauch. Wie zur Bestätigung bewegte sich das Baby. Joan wartete einen Moment, dann lief sie schleppend die ersten Stufen der langen Treppe hoch. Sie nahm sich vor, nicht Halt zu machen, ehe sie den ersten Absatz geschafft hatte. Da trat das Baby sie plötzlich so arg in den Bauch, dass sie vor Schreck das Gleichgewicht verlor, taumelte und von der Stufe abrutschte, auf der sie stand. Noch bevor sie wusste, was mit ihr geschah, schlug sie mit dem Hinterkopf auf der Steintreppe auf und stürzte die Stufen bis zum Fahrstuhl hinab.

Erst einige Minuten darauf erlangte Joan das Bewusstsein zurück. Sie lag auf dem Bauch und stöhnte vor Schmerzen, die von ihrem Bauch herführten.

„Hilfe!“, rief sie so laut sie konnte, aber es war nicht laut genug. Niemand schien sie zu hören. „Es wird alles gut werden, Kleines“, versuchte sie sich und ihr Baby trotz der wiederkehrenden Schmerzen zu beruhigen. Mit größter Anstrengung stützte sie sich mit zittrigen Händen auf dem Boden ab und drehte sich langsam auf den Rücken um. „Nein! Bleib bei mir“, sagte sie mit angsterfüllten Augen, als sie das Blut zwischen ihren Beinen entdeckte. Da wurde ihr bewusst, dass die Schmerzen vorzeitige Wehen waren. „Oh mein Gott! Warum ist denn hier niemand! Hilfe!“, rief sie laut schluchzend und versuchte aufzustehen, aber vor Schmerzen konnte sie sich nicht rühren.

Eine halbe Stunde später fand Andrew sie in ihrem eigenen Blut liegend vor. Von Schmerzen gepeinigt sah Joan ihn mit angstvollem Gesicht an. Sie hatte starke Wehen.

„Halt! Da dürfen Sie nicht hinein, Sir!“, rief eine Krankenschwester und hielt Brian mit festem Griff davon ab, den Kreissaal zu betreten.

„Ich muss wissen, wie es meiner Schwester geht“, sagte er voller Sorge und ließ sich nur mühsam von der Krankenschwester und Rachel zu der Wartebank bringen, wo er sich setzte.

„Wir möchten zu Joan Farley“, sagte Rachel, die nach außen hin ruhig wirkte. „Man sagte uns, dass sie schwer gestürzt ist und in den Wehen liegt. Das Baby kommt vierzehn Wochen zu früh.“

Die Krankenschwester nickte. „Warten Sie hier. Ich werde mich erkundigen.“ Sogleich eilte sie den Gang hinunter und verschwand.

„Es ist meine Schuld“, murmelte Brian vor sich hin. „Wenn ich sie nicht unter Druck gesetzt hätte... Ich hätte darauf bestehen müssen, sie heimzufahren.“

Rachel setzte sich neben ihren Verlobten auf die Bank und ergriff seine Hand. „Liebling, suche bitte nicht die Schuld bei dir. Was auch immer geschehen ist, ich bin mir sicher, dass du es nicht hättest verhindern können.“

Als Rachel an Brian vorbeiblickte, sah sie die Krankenschwester auf sie zukommen. Diese hielt zwei Tassen Kaffee in den Händen und reichte sie ihnen.

„Der Arzt hat sich soeben zu einem Kaiserschnitt entschlossen“, erklärte die Krankenschwester ihnen mitfühlend. „Es wird eine Weile dauern, bis Sie ihn sprechen können.“

„Egal, wie lange es dauert, wir werden warten“, entschied Brian, worauf die Schwester nickte und sich abwandte.

In der darauffolgenden Stunde terrorisierte Brian die Krankenschwestern regelrecht mit seinen ständigen Fragen, wie es Joan und dem Baby erging, aber niemand gab ihm eine Auskunft. Die Warterei und die Ungewissheit machten ihn wahnsinnig. Selbst Rachel, die ebenfalls verzweifelt war, konnte ihn nicht beruhigen.

Als zum wiederholten Male die Türen zum Bereich des Kreissaals geöffnet wurden, wandten sie gespannt die Köpfe herum. Diesmal kam der Mann in grüner OP-Kleidung direkt auf sie zu und stellte sich als Joans behandelnder Arzt vor.

„Brian Farley, ich bin ihr Bruder.“ Er umklammerte Rachels Hand. „Wie geht es meiner Schwester und dem Baby, Doktor?“

„Der Kaiserschnitt ist den Umständen entsprechend gut verlaufen. Ihre Schwester hat sehr viel Blut verloren und bleibt bis auf weiteres auf der Intensivstation. Sobald sie aus der Narkose aufgewacht ist und sich ihre Werte normalisiert haben, kann sie auf Station verlegt werden“, erklärte er ihnen.

„Und das Baby?“, fragte Rachel.

Der Arzt sah sie zögernd an. „Wir konnten es leider nicht retten. Es tut mir sehr leid“, sagte er mit sichtlicher Bedauerung. Von den Worten des Arztes erschüttert, schloss Rachel die Augen. Schluchzend legte sie ihren Kopf gegen Brians Brust, der den Arzt geschockt ansah.

„Wäre Ihre Schwester eher im Krankenhaus gewesen, hätten wir das Baby per Kaiserschnitt geholt und es sofort im Brutkasten versorgt. Vielleicht hätte es überlebt, aber die Chancen waren gering“, fügte der Arzt hinzu.

Schluchzend zog Rachel ein Taschentuch hervor und schnäuzte sich die Nase.

„Können wir zu ihr?“, fragte Brian den Arzt, der die Bitte schon ablehnen und sie auf den Nachmittag vertrösten wollte. Zögernd nickte er und führte sie in einen kleinen Raum, wo sie von der diensthabenden Intensivschwester einen grünen Kittel bekamen. Nachdem sie die Kittel angezogen hatten, folgten sie dem Arzt schweigend die Gänge entlang und betraten schließlich nach ihm den Beobachtungsraum, der durch eine Glasscheibe zu Joans Zimmer getrennt war. Eine ältere Krankenschwester sah auf, als sie eintraten, und wandte sich dann wieder ihrer Arbeit zu.

Langsam traten Rachel und Brian an die Glasscheibe und sahen Joan auf der anderen Seite im Intensivbett liegen. Ihr Gesicht war durch den Blutverlust blass, der Bauch unter der Decke flach...

„Durch die Schmerzmittel wird Ihre Wahrnehmung in den nächsten Stunden beeinträchtigt sein“, erklärte der Arzt. „Wir geben ihr die Nacht über ein leichtes Schlafmittel, sodass sie erst Morgen früh zu sich kommen wird. Es sollte jemand bei ihr sein, wenn sie es erfährt.“

Noch vor der Besuchszeit am nächsten Morgen gestattete der Arzt ihnen, zu Joan ins Zimmer zu gehen. Während Joan noch immer schlief, saßen sie an ihrem Bett und hielten ihre Hand.

Als Joan von ihrem behandelnden Arzt vom Tod ihres Babys erfuhr, schloss sie die Augen, ballte ihre zittrigen Hände, bis die Knochen weiß hervortraten, und riss an der Infusion, die in ihrem Arm steckte. Sofort griff der Arzt nach ihren Armen und wies die herbeieilende Krankenschwester an, eine Spritze aufzuziehen. Nur einen Augenblick darauf injizierte er das Beruhigungsmittel, das Joan bald darauf einschliefen ließ.

Sie träumte von Liebe

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