Читать книгу Und keiner hat’s gemerkt - Christina Conradin - Страница 6
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ОглавлениеIch bin ein Mauerblümchen. Naja, oder vielleicht doch nicht? Auf alle Fälle falle ich nicht gerne auf. Nur dezent in Erscheinung treten, mit Stil. Das versuche ich zumindest. Mitstreiterinnen, damit meine ich einfach nur andere Frauen, besonders gleichaltrige, aber auch andere, denen man begegnet, fahren so schnell ihre gefühlt tötenden Blicke aus. Mir ist total unverständlich, wie viele Frauen genau diesen Blick bewusst provozieren und dann aushalten können. Eigentlich bewundere ich das! Sie stehen zu ihrem Körper, ihren Reizen und genießen die permanente Show. Für mich kommt das gar nicht in Frage. So vermeide ich neidische Blicke. Mit etwas mehr Schminke und körperbetonter Kleidung wäre das allemal drin.
Derartige Gedanken kommen mir, als ich in Unterwäsche vor dem Spiegel stehe und mich für einen Volksfestbesuch fertig machen möchte. Heute haben die großen Ferien begonnen. Meine beste Freundin, Annie, die im Reihenhaus nebenan wohnt, hat meine Mama überredet, mich heute zum Fest mitnehmen zu dürfen. Annie ist eine Seele von Mensch. Ich kann mich nicht erinnern, dass wir uns jemals gestritten haben. Irgendwie ergibt sich das Richtige mit ihr immer von selbst. Seit ich denken kann, klettern wir über den bereits sehr mitgenommenen Zaun zwischen den kleinen Gartengrundstücken. Schon klingelt es. „Klara, Besuch für dich!“, ruft Papa. Annie betritt leichten Fußes mein Zimmer. Ihre leuchtend blonden Haare hat sie zu einem Zopf zusammengebunden. Die blauen Augen schimmern vor dem hellen Teint ihres Gesichts.
Sie trägt ein Sommerkleid mit gelben Streifen und Spitzen, die ihre Oberschenkel zart bedecken.
Und ich? Für was soll ich mich nun entscheiden? Natürlich greife ich zur Hose. Ein lockeres, geblümtes Oberteil reicht als Deko. Immerhin steht mir die Farbe, hieß es irgendwann einmal.
Na, dann kann es losgehen! Annie und ich gehen Hand in Hand, Finger in Finger, versteht sich, zur Festwiese.
Entlang der Zelte und Fahrgeschäfte, drängeln wir uns durch die Menschenmenge. Vor dem Looping ist es etwas besser. „Schau mal, da gibt es Schokobananen! So eine kaufe ich mir jetzt“, meint Annie freudestrahlend. „Magst du auch eine?“
„Nein, danke!“, erwidere ich, wohl wissend, dass Annie ein Ja überrascht hätte. Allein aus Höflichkeit und Wertschätzung würde sie aber nie aufhören mich zu fragen.
Total versunken in den Genuss der Banane im Schokomantel, schlendert Annie weiter in Richtung Riesenrad. Ich folge ihr prompt, damit wir uns nicht verlieren. Bald schon greift sie wieder nach meiner Hand.
Vor der Geisterbahn treffen wir Klassenkameradinnen von Annie. Sie sind sichtlich aufgeregt, total aufgebrezelt und wirken, als hätten sie vier Gläser Placebosekt getrunken, Alkohol darin aber vermutet.
Annie scheint an den Mädels nicht so viel zu liegen, sodass wir uns bald wieder ganz freundlich verabschieden. „Die eine mit der roten Bluse, das war Manu! Jetzt hast du sie endlich auch mal gesehen“, klärt Annie mich auf. Alle anderen scheinen nicht erwähnenswert zu sein. Deshalb schlendern wir ziellos weiter.
Plötzlich macht es: Zooom! Alles dreht sich. Mein Magen kehrt sich nach innen. Die Zeit steht still. Auf wackligen Beinen blicke ich tief in die Augen eines Jungen. So schöne Augen habe ich noch nie gesehen. Ich fühle mich wie nackt vor ihm stehend. Sein anmutig lässiger Gang. Langsam schlendert er auf mich zu. Er ist cool und schön und lächelt mit den Augen. Es kommt mir vor wie in Zeitlupe. Ganz dicht geht er an mir vorbei. Galt dieses Lächeln im Vorbeigehen etwa mir? Das kann nicht sein! Nur nicht umdrehen, denke ich mir. Ich mache es doch, weil ich ihn vielleicht nie wiedersehe und jetzt schon süchtig bin nach seiner Nähe.
„Das war Max!“, erzählt Annie nebenbei, als sei es keine wichtige Information. „Er ist mit Manus Bruder befreundet.“ Ich löse die Hand und hänge mich bei Annie ein. Da erst merkt sie, dass ich total durcheinander bin. „Gefällt er dir?“ Ich kann gar nicht antworten. „Verstehe ich. An unserer Schule liegen ihm die Mädchen zu Füßen! Soweit ich weiß, ist er ein netter Kerl, halt mit Erfahrung!“, klärt Annie mich auf.
Zu Hause in meinem Bett dreht sich immer noch alles. Niemals wird so einer mit einer wie mir auch nur sprechen und wenn, dann nur aus Höflichkeit.
Ich hole ein Plakat aus meiner Schublade, auf dem ein junger Mann sein Mädchen eng umschlungen auf dem Schoß hat. Obwohl es nur ein gestelltes Plakat ist, wirkt es so, als würde er sie lieben. Wie soll ich jemals wieder klar denken können, ohne mich nach einer derartig innigen und nach Liebe strotzenden Umarmung mit dem drahtigen Körper und den schönsten Augen der Welt zu sehnen? Beim Abendessen fragt mich Mama nur, ob alles in Ordnung sei. Mein kleiner Bruder Felix ist aber so am Erzählen, dass ich mich zum Glück nicht einbringen muss.
„Komm, iss noch was! Oder magst du nichts mehr? Darum bist du so schlank. Du isst halt so wenig!“, bemerkt Mama wieder einmal. Irritiert nehme ich die Aussage zur Kenntnis. Eigentlich ist sich Mama sehr wohl ihrer Attraktivität bewusst. Die zwei bis drei Kilo, die ihr zu viel scheinen, beruhen wohl auf einem uralten Komplex.
Da und doch abwesend helfe ich den Tisch abzuräumen und verziehe mich dann schnell in mein Zimmer. „Gute Nacht!“, rufe ich in die Runde. Papa, Mama und Felix schließen sich meinem Gruß an.
Der eine Blick heute hat mich komplett auf den Kopf gestellt. Irgendwann schlafe ich, mein Kissen eng umschlungen, trotzdem ein.