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CHRISTINAS SIEBTES LEBENSJAHR – ZWEITE KLASSE
ОглавлениеDurch das Jahr ohne ihren Vater wird Christina noch selbständiger und selbstbewusster. Ihre Mutter ist meistens bei der Arbeit, so dass sie nach der Schule ihren Tag selbst einteilen kann. Ohne Angst vor dem Vater.
Zwei Schulfreundinnen wohnen in ihrer Nähe. Gudrun in der Straße „Prinzessinentrift“ und Waltraud, auch wie Christina, am „Strichweg“. Sie gehen jeden Morgen zusammen in die Schule.
Auch der gemeinsame Rückweg ist nie langweilig. Aber bevor Christina zur Schule geht, trägt sie schon Zeitungen aus. Nicht mit einem Holz-Roller. Neiiiiiiiiiiiin. Mit dem hätte sie die Zeitungen gar nicht transportieren können. Sondern mit dem neuesten Modell. Mit Gummireifen. Christina ahnt, dass ihre Mutti dafür sehr viel Geld ausgegeben hat. Aber so kann sie sich mit den zwei Zeitungs-Taschen - rechts und links am Lenkrad - schneller fort bewegen. Christina steckt die Zeitung nicht in den Briefkasten. Sie klingelt stets und läuft die Treppe hoch.
Mit einem fröhlichen „Einen wunderschönen Guten Morgen“ überreicht sie dann die Zeitung. Als „Dankeschön“ erhält sie meistens eine Süßigkeit. Die Abonnenten lieben die kleine Christina. Ihre Tour endet täglich auf einem Bauernhof, wo sie mit den Tieren schmust. Doch dafür bleibt kaum Zeit.
Denn sie muss sich jeden Morgen sehr beeilen. Vor ihrem Zuhause wartet schon Gudrun, um sie auf den Weg zur Schule abzuholen. Gemeinsam holen sie dann noch Waltraud ab, die nur ein paar Häuser weiter wohnt.
Im Winter spielt Christina bei Waltraud mit anderen Kindern auf dem Dachboden. Dort ist es immer heimelig und warm. Mit sehr viel Stroh. Zuerst erledigt sie aber immer brav ihre Schulaufgaben.
Im Sommer wird bei Waltraud im Hof Federball gespielt. Mit zwei Jungs von gegenüber, die schon älter sind. Es wird ein Seil gespannt und dadurch wird das Federballspiel noch interessanter. Aber auch das Miteinander mit Gudrun im Sommer ist ein Genuss für Christina. Gudruns Eltern besitzen einen Strandkorb am Döser Deich. Gudruns und auch ihre Eltern haben ihr erlaubt, sich dort oft mit Gudrun zu treffen. Mit schwimmen, Ball spielen, Marienkäfer in einem Glas sammeln, die Kühe und die Kurgäste beobachten und über ihre Träume sprechen, wird es ihnen nie langweilig.
Weihnachten wird Christina als Zeitungsausträgerin mit einem großen Trinkgeld belohnt. Hundert-dreißig Mark. Ein großer Schatz. Doch leider benötigt die Mutter das Geld. Sie bittet ihre Tochter um ihr Verständnis. Christina ist ein ganz klein bisschen traurig. Sie hatte sich so gewünscht, das Geld zu sparen.
Es zur Sparkasse zu bringen.
Der Vater konnte „zum Glück“ nicht zur Bescherung anreisen.
Das Jahr 1956 ist überschattet von der Angst, nun bald wieder mit dem Vater zusammenzuleben.
In der Schule wird die Tafel von den Heften abgelöst. Nun benötigen die Schüler keinen Griffel mehr. Sie dürfen jetzt mit einem Füller ihre Hausaufgaben erledigen. Der Lehrer, Herr Ühlicke, wirft immer noch mit der Kreide auf die Kinder, die nicht zuhören. Christina geht aber immer gern zur Schule. Sie ist allgemein beliebt. Wenn sie von ihren Träumen erzählt, wird sie gutmütig belächelt. Fantasie ist ja nicht das Schlechteste.
Christina ist nun auch fest davon überzeugt, dass viele Dinge, die sie als kleines Kind vermeintlich erlebt hatte, wirklich nur ihrer Fantasie entspringt. Nicht die Wirklichkeit ist. Manchmal redet Christina mit ihren Eltern über Claudia. Dann kommen in ihr viele Erinnerungen hoch, über die die Eltern nur herzhaft lachten. Die Mutter sagt dann immer zum Vater: „Carl, hörst DU das? Von wem sie wohl eine so ausgeprägte Fantasie mitbekommen hat? Es muss einmal vor über hundert Jahren ein Vorfahr von uns mit diesem Fantasie-Gen auf die Welt gekommen sein. Von uns hat sie den Gen wenigstens nicht.“ Der Vater nickt dann nur.
Warum sollte Christina ihren Eltern misstrauen?
Doch eines ist ihr festes Ziel: „Ich werde sehr schnell die Schule und meine Lehre beenden und dann nie mehr abhängig sein.“
Wieso sie diese Gewissheit hat, weiß sie zwar auch nicht mehr.
Aber dieser Gedanke ist in ihrem Gedankengut fest verankert.
Dann kommt die Nachricht. Ende September 1956 wird ihr Vater aus Schweden für immer zurückkehren. Er hatte schon einen Arbeitsvertrag als Straßenbauarbeiter unterschrieben.
Ihre Mutter verdient nun noch ein bisschen mehr Geld dazu.
Durch einen kleinen Nebenjob. Früh am Morgen trägt sie Brötchen aus. Für die Bäckerei Kunz. Dadurch bekommt sie Reste vom Vortag, meistens Kuchen, und kann Christina jeden Morgen mit einem kostenlosen Frühstück überraschen.
Nun ist der Tag „X“ gekommen. Christina und ihre Mutter stehen in Sonntags-Kleidern am Bahnhof und erwarteten den Vater. Die Mutter begrüßt ihren Mann mit bangen Gefühlen.
Sie löst sich sofort aus seiner Umarmung. Christina stellt sich angstlos vor ihre Mutter und schaut ihrem Vater tief in die Augen. „Papa, (sagt sie stolz) ich habe sehr gut auf Mutti aufgepasst. Ich wünsche mir von DIR, dass DU uns nie mehr schlägst. Dass DU nicht mehr so viel Bier trinkst. Dass DU nicht mehr so zornig wirst. Dann können wir als Familie leben.“
Christina schaut ihren Vater kritisch an. Sie wundert sich sehr.
Er wird gar nicht wütend. Sie sieht sogar Tränen in seinen Augen. Er umarmt seine Tochter und verspricht: „Ich werde mich wirklich bemühen. Glaube mir, ich bin nicht böse.“
Dann geht er zu seiner Frau und möchte sie noch einmal umarmen. Diese weicht zurück. Sie schaut ihren Mann ängstlich an. Dann meint sie mutig: „Ich bitte DICH, nie mehr Christina zu schlagen. Sie ist ein so gutes Kind. Dann bin ich bereit, noch einmal neu anzufangen.“
Als er nickt, lässt sie sich sogar von ihrem Mann küssen.
Ist nun der häusliche Friede in der Familie Schön gesichert?
Kurz vor Weihnachten klingelt es abends an der Tür. Der Vater ist noch nicht von der Arbeit zurück. Christina geht neugierig mit ihrer Mutter die Treppe hinunter. Die Haustür geht sehr schwer auf. Sie klemmt. Mit vereinten Kräften gelingt es den BEIDEN, sie einen Spalt zu öffnen. Es ist wie in einem Krimi.
Der Vater liegt lang hingestreckt vor der Tür. Die Mutter erschrickt. Sie klopft schnell an die Tür im Erdgeschoss. Zum „Glück“ öffnet Herr Kaufmann. Er ist stark genug, den Vater von der Tür wegzuschieben. Eine intensive Alkoholfahne weist darauf hin, warum der Vater wohl ohnmächtig vor der Haustür liegt. Herr Kaufmann besitzt ein Telefon. Er bestellt für diesen Notfall einen Krankenwagen. Die Mutter fährt allein mit ins Krankenhaus.
Frau Kaufmann nimmt Christina kurz in die Arme und führt sie dann mit in ihre Wohnung. Christina fragt neugierig, ob ihr Vater jetzt sterben muss. Doch Frau Kaufmann schüttelt den Kopf und entgegnet: „Nein, das glaube ich nicht. DEIN Vater ist hart im Nehmen. Ich bin überzeugt, dass er sich wieder erholt.“
Christina denkt: „Na ja, jetzt werde ich eben weiterhin auf Mutti aufpassen.“
Herr Kaufmann und Christinas Mutter kommen aus dem Krankenhaus zurück. Der Vermieter möchte auch vor der Kleinen die Wahrheit nicht verbergen: „Also, er wird es überleben. Er hatte eine Alkoholvergiftung. Aber wenn er nicht aufhört mit dem Trinken, können die Ärzte ihm keine Garantie geben, dass er ganz gesund wird.“
Da springt Christina auf und klatscht mit den Händen.
„Mutti, vielleicht hört er auf die Ärzte. Dann kommt er nicht mehr betrunken nach Hause. Wäre das nicht schön?“
Die Mutter schaut ihre Tochter zärtlich an. Atmet tief ein und tief aus. Sie antwortet: „Ja, das wäre wunderbar. Vielleicht gibt es doch einen Gott, der uns hilft. Aber wir dürfen nicht den Morgen vor dem Abend loben. Sonst werden wir enttäuscht.“
Sie wendet sich an das Paar.
„Tausend Dank, liebe Frau, lieber Herr Kaufmann. Sie sind wirklich unsere Engel, die uns Gott geschickt hat, wie es Christina immer früher gesagt hat. Wir gehen jetzt hoch. Es war für uns ein anstrengender Abend. Gute Nacht.“
Sie versucht, Christina aufzuheben.
Doch Herr Kaufmann hebt Christina zu sich hoch und begleitet die Mutter nach oben.
Christina schickt mit der Hand „Kussele“ - so nennt Christina immer Küsse - zu Frau Kaufmann und winkt ihr zu.
Das eben von ihr Gehörte beschäftigt sie stark.
Sie grübelt: „Früher habe ich also als kleines Kind gesagt, dass es Engel gibt. Wie in meinen Träumen. Also werde ich doch damals an Gott geglaubt haben. Aber warum wurde mir dieser Glaube genommen? Warum versucht meine Mutter meine Träume immer nur als Fantasie darzustellen? Sehr, sehr komisch.“
Durch die Alkoholvergiftung wurde der Vater von Christina ein kleines bisschen wachgerüttelt.