Читать книгу Die Passion Jesu im Kirchenlied - Christina Falkenroth - Страница 12
Der Erkenntnisweg
ОглавлениеDie gewonnene Selbsterkenntnis bleibt aber nicht bei sich selber stehen: Nachdem der Betrachter im Leiden des Gekreuzigten sich selbst in seiner Verfassung vor Gott erkannt hat, über sich erschrocken ist und im Gewissen leidet1, soll er von sich weg blicken, wieder hin zum Gekreuzigten, von dem her sein Blick auf sich selber gelenkt worden ist. Der erneute Blick auf Christus eröffnet weitergehendes Erkennen: Der Betrachter sieht das liebende Herz Christi, durch dieses hindurch erkennt er das Herz des Vaters, das voll Liebe ist. Nachdem am Beginn der Zorn Gottes über die Sünde stand, folgt nun die Erkenntnis Gottes als gütigen, liebenden Vater. Die Erkenntnis von Zorn und Liebe, d.h. eine doppelte Gotteserkenntnis vollzieht sich also in der Betrachtung des Gekreuzigten.
Der Zorn Gottes und seine Liebe gehören bei Luther zueinander. Schon in der Ersten Psalmenvorlesung hat er seine Christologie dargelegt, nach der im Kreuz Christi sich Zorn und Liebe als konstitutiv für das Rettungshandeln Gottes am Menschen erweisen. Das Zorngericht am Sohn ist nach seinem Verständnis das opus alienum Gottes, der darin das opus proprium verwirklicht. Durch das Gericht, das er an ihm vollzieht, führt er ihn zum Leben. So ist es sichtbar an Christus, und so gilt es für den Menschen, der sich diesem Gericht unterwirft und Gott in seinem Urteil über ihn recht gibt. Christus zieht den Menschen hinein in sein Leiden, Sterben und Auferstehen.
Es scheint, daß Luther in der Darstellung des Erkenntnisweges von den Hoheliedpredigten Bernhards herkommt. Bernhard versteht die Seitenwunde, die auf das durchbohrte Herz Jesu verweist, als Wunde, in der die Liebe Gottes sichtbar wird: „Patet arcanum cordis perforamina corporis, patet magnum illud pietas sacramentum, patent viscera misericordiae dei nostri“2. Durch nichts konnte die hier offen erkennbare Liebe deutlicher werden als durch die Wunden Christi, betont Bernhard. In dieser Tradition stehend hat Luther aus ihr doch ein eigenes christologisches Konzept entwickelt.
conformatio
Nach dem Sermon ist die Selbsterkenntnis des Betrachters des Leidens Christi letztlich der Schlüssel dazu, Christus gleichförmig zu werden.
Der Selbsterkenntnis, die durch Erschrecken vor sich selbst ausgelöst wurde, folgt der Verlust aller Zuversicht auf „creaturen“ und aller Möglichkeiten, sich vor den Folgen der Sünde zu bewahren, am Ende steht die Erfahrung der Gottverlassenheit. Das durch die Betrachtung des Gekreuzigten ausgelöste Leiden im Gewissen ist das Erleiden der Gottverlassenheit, das Christus erlitt. Durch dieses Leiden wird der Mensch christusförmig.
Dieser Prozeß des Gleichförmig-werdens ist in der Tradition verankert. Die conformatio, die in der spätmittelalterlichen Passionsbetrachtung zum allgemein verbreiteten Denkschema geworden ist, entspricht dem hier im Sermon beschriebenen Prozeß.
In der Tradition erreicht der Betrachter die conformatio dadurch, daß er sich selber in das Geschehen hineinversetzt, es mitempfindet und in der Nachfolge Christi in seinen Tugenden sich selber ihm gleichförmig macht. Der große Unterschied dazu bei Luther besteht nun darin, daß hier nicht das eigene Handeln zur Erlangung der Gleichförmigkeit führt, sondern sich das Leiden im Gewissen an dem Betrachter ereignet. Luther weist darauf hin, daß es Gott ist, der das rechte Erkennen schenkt, das zum Leiden im Gewissen führt. Es steht nicht im Bereich der Möglichkeiten des Menschen diese conformatio herbeizuführen.
So hatte es Luther schon in der Psalmen-Vorlesung entwickelt: Christus wird in seinem Leiden uns zum Exempel. Aber nicht wir bilden uns diesem Vorbild nach, sondern Gott bildet uns nach dem Bild Christi. Die Beziehung der Gleichförmigkeit liegt allein in Gottes Tat.3