Читать книгу Die Passion Jesu im Kirchenlied - Christina Falkenroth - Страница 20
2.1.1.2 Die Beziehung des Sermons zur Tradition
ОглавлениеIn mancher Hinsicht wird im Sermon Luthers die Tradition hörbar, aus der er kommt und von der sein Denken gespeist ist. So ist mit dem Bedenken der Passion das Ziel verbunden, daß daraus die Gottesliebe erwachsen soll.
In seiner Schrift „De institutione inclusarum“ gibt Aelred von Rielvaux (+ 1167) eine Anweisung, wie durch die Meditation der beneficia Christi die Gottesliebe geweckt werden soll. In zwei Formen zeigt sich die wahre dilectio dei: „affectus mentis“ und „effectus operis“, d.h. im inneren Menschen durch die Meditation und am äußeren Menschen am Handeln erkennbar. Diese zweifache Form der Liebe zu Christus hat sich zum grundlegenden Schema in der Passionsbetrachtung entwickelt und findet sich z.B. auch wieder bei Jordan von Quedlinburg und Ludolf von Sachsen.1
Es geht bei der Betrachtung der Passion auch nach der Tradition darum, daß der Einzelne ein Verhältnis zu Jesu Leiden gewinnen soll2. Diese auf den Einzelnen bezogene Sichtweise ist auch bei Gerhart Zerbolt ausgeführt, wenn er formuliert, daß Christus „… pro te solo crucifixus esset et homo factus“3. Dies bringt Luther als Voraussetzung zu Beginn des Sermons zum Ausdruck, wenn er ausführt, daß das Für-wahr-halten Gottes ohne Bedeutung ist, wenn „er dier nit eyn got ist“.
Auch das von Luther im Sermon als von zentraler Bedeutung benannte Ziel der Betrachtung, daß „der mensch zu seyns selb erkenntniß kumme“4, hat seinen Vorläufer in der zeitgenössischen mönchischen Frömmigkeit5. Dennoch versetzt er dieses Ziel durch seine Anweisung zur Betrachtung des Leidens in einen anderen Rahmen: die Selbsterkenntnis ist nicht mehr etwas, das der Mensch durch sein Handeln zu erlangen hoffen kann, sondern sie ist eine Gottesgabe, die ihm in der Betrachtung nach Gottes Willen von diesem übereignet wird.6
In mancher Denkweise und Begrifflichkeit wird die Herkunft von Luthers Denken und sein Stehen in der Tradition deutlich. Doch stellt er seinen Weg der Passionsbetrachtung in eine neue Bewegung.
Sichtbar wird dies an seiner Umformung des Verständnisses von exemplum und sacramentum.
Am Ende des Sermons, im 15. Punkt, führt Luther die Unterscheidung sacramentum – exemplum ein. Das Leiden Christi ist demnach bis dahin unter dem Aspekt des sacramentum zu verstehen: Es weist hin auf Christi Leiden und Sterben und bezeichnet damit das Leiden des Betrachters im Gewissen und sein Absterben in Bezug auf die Sünde. Es bezeichnet, was es bewirkt: Mit Sterben und Auferstehen Christi sind wir in sein Schicksal hineingezogen und dem Anspruch entzogen, den der Tod auf uns aufgrund unserer Sünde hatte. Dieses Geschehen ist allein das Wirken Christi an uns; sein Leiden ist sacramentum. Erst danach kann sein Leiden uns auch zum exemplum werden: wir folgen ihm in unserem Handeln nach, weil wir ihm gleichförmig geworden sind. Nun können wir selber wirken, seinem Exempel folgend, aber allein aus der Gottesliebe heraus, die durch die Erkenntnis seiner Liebe in uns entstanden ist.
Mit diesem Verständnis des überlieferten Unterscheidungspaares von sacramentum und exemplum verleiht Luther diesen Begriffen eine andere Bedeutung als sie von der Tradition her hatten.
Die Unterscheidung rührt von Augustin her. Christi Leiden ist dem Menschen als exemplum und sacramentum vor Augen gestellt und darin eine doppelte Handlungsaufforderung an den Menschen.
Er bezeichnet den Kreuzestod Christi als exemplum insofern, daß der äußere Mensch ihm darin in seiner Bereitschaft zum Martyrium folgen soll. Christi Tod ist sacramentum dadurch, daß er den Menschen zur Buße auffordert, durch die sich auch in ihm das Absterben der Seele vollzieht und er so der Macht der Sünde entzogen ist. Augustin hat die beiden Begriffe also jeweils auf den homo interior (Buße) und den homo exterior (Nachfolge) bezogen.7
Indem Luther die Unterscheidung im Sermon aufgegriffen hat, hat er diese Differenzierung des Menschen in den homo interior und exterior aufgehoben, sondern beide auf den ganzen Menschen bezogen. Dazu gewichtet er sie unterschiedlich: der Tod Christi als sacramentum ist eine abgeschlossenene Handlung, die keiner Folgehandlung mehr bedarf, er ist exemplum insofern, daß der innerlich gewandelte und mit der Gottesliebe ausgestattete Mensch als Folge dessen nun nach dem Exempel Christi handelt, ohne daß es ihm eine Leistung abverlangte oder als solche zu begreifen wäre.8
Darin zeigt sich auch ein anderes Verständnis des Lebens Jesu bei Luther: er sieht es nicht mehr – wie die Tradition in Nachfolge Augustins – im ganzen als Leidensgeschichte und disciplina mora, die uns zur Nachahmung aufgegeben ist, sondern es ist zuerst durch seinen Tod uns zum sacramentum geworden, in dessen Folge uns ein Handeln nach den Tugenden erwächst.
Luther bindet die Wirksamkeit des Sterbens Christi als sacramentum und exemplum an die rechte Passionsbetrachtung: Christus wird uns zum sacramentum durch das von Gott geschenkte rechte Bedenken und der darin am Betrachter bewirkten conformatio.
Er wird zum exemplum für das eigene Leben, was ebenso als Wirkung der conformatio anzusehen ist: Gott gestaltet den Menschen im rechten Betrachten zum Exemplum Christi. Gott bewirkt im Menschen, daß er die Tugenden vollzieht. Dem entspricht auch Luthers Gedanke, daß uns Christus zuvor Gabe und Geschenk (= Versöhnung) werden muß, bevor er zum Exempel wird9.