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Versöhnungslehre
ОглавлениеIn der Art und Weise, in der Luther den Zusammenhang von Zorn Gottes, Leiden Christi und Rechtfertigung des Menschen darstellt, ist erkennbar, daß die für die westliche Theologie prägende Versöhnungslehre des Anselm von Canterbury auch sein Denken geformt hat.
Ebenso deutlich wird auch, daß er Schwerpunkte neu setzt, aber indessen überhaupt nicht beabsichtigt, in seiner Anleitung zur Betrachtung des Leidens Christi eine systematisch lückenlose Darstellung eines Versöhnungskonzeptes zu bieten.
Im Vordergrund seines Interesses steht für ihn dagegen statt eines Weges, wie Gott zu versöhnen sei, der Mensch, seine Begegnung mit dem Leidenden und die Weise, auf der ihm das Leiden Christi zunutze wird.
Wesentliche Elemente von Anselms Konzept kommen zur Sprache:
Gott hegt Zorn und „unwanckelbarn“ Ernst über Sünde und Sünder. Er verlangt von seinem Sohn, der eine große, unmeslich person“ („unendlich“ im anselmschen Sprachgebrauch) ist, eine schwere Buße, „um der Sünde meines Volks willen“ (Jes 53). Das Maß, in dem aber der Sünder büßen müßte, wäre unvergleichlich höher als das der Buße Christi. (4) Christus leidet wegen der Sünde des Menschen. (5) Seine Wunden und Leiden sind meine Sünden, die er trägt und bezahlt. (13)
Das für ihn Wesentliche am Verständnis des Sterbens Jesu beschreibt er aber anhand der Formulierung in Röm 4,25, daß er gestorben sei um unserer Sünden willen, und deutet dies in zweierlei Weise: daß sein Sterben um unserer Sündenerkenntnis willen geschehen ist und daß er dadurch die Sünde erwürgt hat. Er überwindet schließlich unsre Sünden in der Auferstehung. Wenn „wir das kecklich gleuben, ßo seynd sie todt und zu nichte worden“. (13)
Den Schwerpunkt legt er in seiner Anleitung demnach nicht bei der Versöhnung Gottes, sondern bei dem Menschen, d.h. bei seinem Glauben, daß die Sünden keine Wirkung mehr haben.
Im weiteren legt er nicht die satisfactio oder den Weg der Ermöglichung der göttlichen gnädigen Annahme des Verdienstes Christi dar, sondern entfernt sich von der juristischen Rechnung Anselms. Aus dem folgenden geht hervor, daß nach seinem Denken Christus nicht den Zorn Gottes versöhnt. Der Zorn wird nicht aufgehoben, sondern er wirkt sich aus im Leiden Christi und also in unserem Leiden im Gewissen.
Gnade oder die Gerechtsprechung oder die Beseitigung der Sünden wird nicht aus der juristischen Perspektive plausibel, sondern dadurch, daß Christus die Sünden trägt und überwindet, so daß sie tot und zunichte werden. Das Wesen der Rechtfertigung liegt hier nicht in der satisfactio, sondern in der Vernichtung der Sünde.
Es scheint demnach, daß Luther den Schwerpunkt des Geschehens am Kreuz, von der anselmschen Versöhnungstheorie abweichend, verlagert: Zum Einen auf das menschliche Erkennen: die Erkenntnis seiner selbst und seiner Sünde und ebenso der Liebe Christi und Gottes, zum anderen will er den Trost vermitteln nicht dadurch, daß die juristische Unrechtslage beseitigt ist, sondern dadurch, daß die den Menschen erschreckende und ängstigende Sünde entmachtet und tot ist.