Читать книгу C'est la vie - Christina Geiselhart - Страница 4
Der Anruf
ОглавлениеHelga erzählt
Ich bin eine Frau von vierzig Jahren, dunkelhaarig, schlank und ohne nennenswerte Berufsausbildung. Hingegen verstehe ich mich darauf, den Haushalt zu führen, eine Wohnung gemütlich zu gestalten und meine zwei Kinder vernünftig zu erziehen. Jedenfalls tue ich mein Bestes. Mein Mann ist da ganz anderer Meinung. Sehr gerne hätte er meine Rolle selbst übernommen, er muss jedoch für den Lebensunterhalt sorgen, da ich es höchstens auf 450 Euro monatlich bringen würde.
Er hat so ziemlich alles studiert, angefangen bei Archäologie, der einzigen Disziplin, in der er promovierte. Seine Doktorarbeit befasste sich mit der Geschichte der Ziegelpyramide Sesostris III. Wie schon der Titel verrät, führten ihn die Ausgrabungen und Forschungen nach Ägypten, in ein Land, dessen Pyramiden er liebte, dessen Essen und Wasser er hingegen nicht vertrug. Sein Traum, dort auf Unentdecktes zu stoßen, das ihm zu einem berühmten Namen verhelfen würde, löste sich im Nebel ständiger Übelkeit auf. Und auch seine Doktorarbeit erregte kaum Aufsehen. Er versuchte einen Neuanfang und begann das Studium der Religionswissenschaften. Sämtliche Religionen faszinierten ihn, allerdings nur anfangs. Schon nach zwei Semestern kehrte sich seine Faszination in Verwunderung, nach dreien in Ärger und schließlich in Wut. Er schmiss alles hin und wählte Philosophie. Dieses Studium brach er nach zwei Jahren ab und schwenkte über zur Pädagogik. Von dort aus war der Weg nicht weit zur Psychologie. Es sei noch hinzugefügt, dass er auch Betriebswirtschaft und wenige Semester Medizin studierte. Jetzt fragt sich mancher, womit verdient der hochstudierte Mann seinen Lebensunterhalt? Nun, da er ein enormes Wissen und eine Art hat, dieses Wissen verständlich zu vermitteln, spricht er vor Kongressen, hält Konferenzen und Seminare ab. Nun mag wiederum mancher einwenden: Es gibt unzählige studierte Kapazitäten, die auf Kongressen und Konferenzen ihr Wissen breittreten und sogar mit akzeptablem Erfolg. Und es gibt Google, Wikipedia, Telekonferenzen und so weiter. Dazu kann ich nur sagen: Mein Mann, er heißt Curd, ist anders! Er ist einmalig! Er ist auf seinem Gebiet unübertroffen. Curd ähnelt auf gewisse Weise Karl Lagerfeld, den er nicht ausstehen kann, vermutlich weil er ihm ähnlich ist. Karl ist wie Curd: anders, etwas Besonderes oder, wie es ein französischer Fan von Karl ausdrückte: Karl est – Karl ist! Aus diesem Grund verdient mein Mann auch sehr gut und kann seinen Kindern und seiner berufslosen Frau, mir also, ein angenehmes Leben bieten. Ja, ich könnte zufrieden sein, wenn er nicht diesen Kontrollzwang hätte und den unbeirrbaren Glauben, er sei der Allmächtige.
Nichts auf der Welt kann ihn davon abhalten, mich täglich zur Abendstunde anzurufen. Und egal, womit ich gerade beschäftigt bin, ob ich einen Krimi anschaue oder mit einer Freundin zusammen bin: Ich muss antworten. Tu ich es nicht, ist er imstande, die Polizei zu benachrichtigen, aus Furcht, mir sei etwas zugestoßen. Alle Anrufe enden mit: »Schlaf gut, mein Schatz!«
Der heutige fängt an wie gewöhnlich: »Guten Abend, Helga. Wie geht es dir?«
»Gut!«
»Wie schön, aber nur gut ist ein bisschen wenig!«
»Es geht mir gut, das ist alles!«
»Du bist so wortkarg!«
»Entschuldige, aber ich schau gerade fern!«
»Wie? Du siehst fern, während du mit mir sprichst? Das ist nicht erfreulich.«
»Tut mir leid, aber es ist ein spannender Krimi.«
»Du willst also sagen, dass der Krimi dir mehr bedeutet als ein Gespräch mit mir?«
»So ein Quatsch!« Das ist gelogen, aber ich habe keine Wahl. Dass der Krimi mir im Moment wichtiger ist, kann ich keinesfalls zugeben, sonst kommt es zu einer Grundsatzdiskussion.
»So wirkt es aber auf mich, sonst hättest du den Ton runtergefahren.«
»Das habe ich bereits getan.«
»Ich höre aber ganz deutlich Stimmen.«
»Das sind nur meine Gedanken. Wie du ja weißt, machen sie sich hin und wieder selbstständig und werden dann besonders laut!« Mein Gott, was rede ich? Dieser Unsinn kann ihn zu einem längeren Wortwechsel verleiten, der in eine Kontroverse mündet, aus der ich nicht mehr herausfinde.
»Willst du mich veräppeln?«
»Um Himmels Willen. Wie käme ich dazu?«
»Das will ich nicht wissen. Ich will wissen, ob du mich veräppelst!«
»Hältst du mich für fähig, so etwas zu tun?« Verdammt, ich gehe zu weit.
»Schon wieder antwortest du mit einer Gegenfrage. Ein gebildeter Mensch antwortet nicht mit einer Gegenfrage auf eine Frage.«
»Oh, aber warum tust du es dann?«
»Was tue ich?«
»Nun das, was du mir vorwirfst: mit einer Frage auf eine Frage antworten. Das tun normalerweise nur Polizisten oder Jesuiten.«
»Willst du mich eigentlich auf die Palme bringen?«
»Nein, das will ich durchaus nicht!«
»Das scheint mir aber ganz und gar der Fall zu sein. Dein Verhalten heute Abend ist feindselig und streitsüchtig.«
Oh, Himmel, jetzt fühlt er sich angegriffen. Da muss man vorsichtig sein und mit Samthandschuhen weiterarbeiten. Oder sehr diplomatisch einwirken, denn solche Angriffe treiben ihn tagelang um, so dass er mich auch morgens, mittags und nachmittags anruft.
»Aber es ist doch nicht streitsüchtig, zu behaupten, dass auch du ein Mensch bist, der sich manchmal danebenbenimmt. Vielen passiert hin und wieder ein Ausrutscher!«
»Ich bin nicht Viele und ich benehme mich nie daneben!«
Das musste ja kommen: Der Allmächtige ist unfehlbar. Ich bin gezwungen einzulenken, sonst werde ich das Ende des Krimis niemals sehen. »Ganz klar! Ich habe mir einen Scherz erlaubt.«
»Zu solchen Späßen bin ich heute Abend wahrhaftig nicht aufgelegt.«
»Nimm’s mir nicht übel. Ich bin etwas durcheinander. Leicht verwirrt.«
»Da kann ich nur zustimmen. Du schließt von dir auf andere. So einfach ist das Leben nicht. Ich hätte mehr Empathie von dir erwartet. Mein Tag war hart, ich bin ausgelaugt, ausgebrannt vom vielen Reden, Diskutieren und Zuhören, doch nichts auf der Welt würde mich abhalten, täglich meine Frau anzurufen.«
»Warum schickst du nicht eine WhatsApp mit Foto? Das wäre doch schön für mich. Dann sehe ich dein Gesicht!« Unwillkürlich greife ich mir an die Stirn. Bin ich noch bei Sinnen? Wie unklug. Gleich schlägt er FaceTime vor. Es kommt jedoch anders.
»Das genügt mir nicht. Ich möchte deine Stimme hören, um zu wissen, wie es dir geht, wie es den Kindern geht, was ihr heute unternommen habt. Stattdessen verwickelst du mich in eine dumme Konversation, die uns keinen Schritt weiterbringt.«
»Ich bin eben eine dumme Kuh!« Mit dieser negativen Einschätzung meiner Person müsste ich ihn eigentlich loswerden, denke ich hoffnungsvoll.
»Das habe ich nicht gesagt!«
»Aber vermutlich gedacht!« Nein, schreit es in mir. Wie konnte ich nur diesen strategischen Fehler machen?
»Du behauptest, zu wissen, was ich denke?«
Gütiger Himmel. Lass ein Ende in Sicht kommen, denn das Ende des Krimis ist längst in Sicht. Wie soll ich es nur anstellen? Drücke ich einfach auf Aus wird er mich tagelang mit seiner Frustration darüber verfolgen. Sage ich nur einen falschen Satz, verkettet er mich in ein neues Gespräch.
»Oh, entschuldige nochmals! Natürlich kann ich nicht wissen, was du gedacht hast. Ich kann es allerdings annehmen, aber das ist vermutlich ebenso anmaßend. Wissen kann ich nur, was ich denke, und auch da habe ich manchmal meine Zweifel …«
»Helga, ich bitte dich! Hör auf, so wirr zu reden, sonst wird unser Abendplausch gänzlich unerträglich.«
Für mich ist dieser Abendplausch schon unerträglich, aber ich kann ihn nun nicht stoppen. Ich muss in dem Stil weitermachen. »Wahrscheinlich bin ich beschränkt!« Es ist amüsant, auf sich herumzutreten. Und steht nicht in der Bibel, Matthäus 23, Vers 12: Wer sich erniedrigt, wird erhöht werden?
»Das bist du nicht!«
»Geistesgestört bin ich. Hochgradig neurotisch und dumm!« Gib mir Saures.
»Schluss! Ich kann es nicht ertragen, wenn du so von dir redest.«
Das bezweifle ich. Sage es aber nicht. Da der Krimi sich seinem Ende zuneigt, lenke ich wieder ein. »In Ordnung. Dann sage mir bitte, was du noch alles wissen willst.«
»Was ist das denn für eine nutzlose Frage? Ich will wissen, wie es euch geht.«
»Das sagte ich schon: Es geht uns gut.«
»Muss ich dir jedes Wort aus der Nase ziehen?«
»Es geht uns sehr gut.«
»Himmel noch mal, Helga! Was habt ihr gemacht, dass es euch so gut geht?«
»Heute Morgen sind wir aufgestanden. Nach dem Zähneputzen und Frühstück brachte ich die Kinder im üblichen Eiltempo zur Schule. Später holte ich sie wieder ab. Danach: Essen und Schularbeiten, anschließend Computer oder Tablet.
»Willst du mich für dumm verkaufen?«
»Du hast gefragt, was wir gemacht haben, und ich habe es dir runtergespult wie fast jeden Abend.«
»Genau! Wie jeden Abend. Immer dasselbe. Langweiliges Geschwätz. Gab es denn nichts Wesentliches an diesem Tag? Eine Ausstellung?«
»Nein, gab es nicht.«
»Das glaube ich nicht. Du willst mir nichts Wesentliches berichten, weil du mich für einen geistigen Krüppel hältst.«
Was soll das nun? Fishing for compliments or what? Na, die soll er haben. »Du bist der gescheiteste Mann, der mir je über den Weg gelaufen ist.«
»Darauf brauch ich mir nichts einzubilden. Du kanntest und kennst sonst nur Trottel.«
Das kann ich nicht auf mir sitzen lassen. »Falsch! Meine gesamte männliche Verwandtschaft ist überdurchschnittlich intelligent. Wenn einer blöd ist, dann bin ich es.«
»Lenke nicht ab!«
»Das tue ich nicht. Erkennst du nicht endlich, was für eine ahnungslose Nuss ich bin? Ich kann nicht einmal auf deine Fragen antworten.«
»Dabei ist es so leicht!«
»Auch das noch! Es ist sogar leicht. Das ist ein weiterer Beweis meiner Beschränktheit. Sicherlich sehe ich nach zwölfjähriger Ehe auch noch vorsintflutlich aus.« Nun schmerzt es mich doch ein wenig, so übel von mir zu reden. Und natürlich sollte man es nicht tun, aber der kleine Teufel in mir nagt weiter.
»Das schließe ich vehement aus. Wer mit mir verheiratet ist, kann nur aufblühen. Meine Frau sieht blendend aus und hat nichts mit der gemein, von der du andauernd sprichst. Meine Frau ist verständnisvoll, geistreich und intelligent. Nicht streitsüchtig.«
»Das alles bin ich nicht. Vermutlich bin ich nicht deine Frau!«
»Man könnte es annehmen.«
»Nicht nur annehmen. Es ist so. Ich bin nicht diese Frau von der Sie sprechen, mit der Sie reden, mein Herr. Ich bin gar nicht Ihre Frau.« Das rutscht mir einfach so heraus. Auf dem Bildschirm wird der Killer gerade mit einer atemberaubenden Autofahrt gejagt.
»Wie bitte … du bist … ich meine, Sie sind nicht meine Frau?«
»Ganz richtig: Ich bin nicht Ihre Frau!«
»Aber das ist ganz ausgeschlossen. Ihre Nummer ist seit Jahren bei mir eingespeichert unter dem Namen Helgachen!«
»Wie Sie wissen, kann es leicht zu Fehlspeicherungen kommen. Ich hatte erst kürzlich mehrmals eine Freundin angerufen, um ihr zu sagen, sie möge doch besser eine Stunde später zur Verabredung kommen. Erst nach Tagen meldete sich eine Person, die sagte, sie kenne mich überhaupt nicht.«
»Das tut mir leid! Ich hätte schwören können!«
»Tun Sie es nicht.«
»Aber gestern habe ich doch diese Nummer gewählt!«, ruft er verzweifelt.
»Das kann nicht sein!«, lüge ich gnadenlos. »Mit mir haben Sie jedenfalls nicht gesprochen.«
»Aber Ihre Stimme! Ihre Stimme, Madame! Sie ist genau wie die meiner Frau.«
»Das kann vorkommen. Steigern Sie sich nicht hinein!« Verdammt, gibt er nicht endlich auf?
»Wenn das tatsächlich so ist, bitte ich vielmals um Entschuldigung. Verzeihen Sie die Störung.«
Endlich. Er hat die Austaste gedrückt. Ich erlebe noch die Überführung und Festnahme des Täters und atme auf. Ganz wohl ist mir nicht. In zwei Wochen kommt Curd zurück. Dann beginnt der Kampf. Dann kann ich mich nicht mehr vor der längst fälligen Aussprache drücken.
Fin