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No money in our coats

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Hannaerzählt

Wie hypnotisiert starre ich sie an. Starre durch sie hindurch. Sie ist nichts weiter als eine große Pfütze. Schmutziges Wasser, in dem Zigarettenkippen schwimmen und ein trostloser Himmel schaukelt. Und doch ist sie mehr. Sie ist mein gnadenloser Spiegel.

Ich lehne mich auf der Bank zurück, ziehe den Mantel fester, stecke die Hände in die Taschen. Sie sind leer. Außer den Klamotten auf dem Leib, meinen schäbigen Möbeln und ein paar Büchern besitze ich nichts mehr. Ein großer Teil der Lebensversicherung ging für das drauf, was man den Lebensunterhalt nennt. Die letzten Kröten trug ich in Eddys Bar und betrank mich mit billigem Cognac. Den Plan einer eigenen Wohnung begrub ich hinter dem Tresen.

Das bisschen Wohngeld und die Sozialhilfe erhalten mir bis jetzt meine mickrige Bleibe und machen hin und wieder ein anständiges Essen möglich. Die Kosten für die Telefonkarte kann ich auch noch berappen. Aber eigentlich brauche ich kein Handy. Es ruft mich niemand an, und zu erreichen ist von den lieben Freunden auch keiner mehr. Eine Bettlerin bin ich deshalb nicht, auch wenn es den Anschein hat. Ich nenne mich Frührentnerin und gefühlsbetont. Schon immer habe ich auf mein Gefühl gehört. Heute, weil vom Rummelplatz gegenüber der Song »Angie« tönt und mich so verdammt melancholisch stimmt. Damals, als ich an die große Liebe glaubte. Ganz aufgegeben habe ich diesen Glauben nicht. Er wird kommen, mein Held. Auch Geld wird wieder in meine Taschen fließen. »Angie, Angie ... with no money in our coats ...«

»Ich bin keine Bettlerin!«, herrsche ich die Frau an, die mir ein Sandwich in den Schoß legt. Das Wetter sei schlecht, die Luft feucht und für eine Frau in meinem Alter lebensgefährlich, sagt sie.

»Eine Frau in meinem Alter?« schreie ich sie an. »Ich bin im besten Alter, gute Frau!«

Sie habe ja nur helfen wollen, stottert sie und eilt davon. Um allen, die mich anglotzen, zu zeigen, dass ich noch beweglich bin, rutsche ich auf den Bordstein.

Mir ist nicht kalt, denn der alte Schafsfellmantel wärmt hervorragend. Ich mummele mich hinein und starre weiterhin in die Pfütze. Neben dem kalten Himmel sehe ich nun ganz deutlich mein Gesicht. Mein jetziges, mein gestriges und mein vorgestriges. Wie konnte es soweit kommen, schießt es mir wieder durch den Kopf. Es hat doch alles schön angefangen.

Im Mai 1980 habe ich meinen Helden geheiratet. Damals hieß er Robert. Heute nennt er sich Bob. Zur Hochzeit schenkten ihm seine guten Eltern ein Grundstück, auf das wir unser Häuschen bauten, wie es so die Art der bodenständigen Schwaben ist, wenn sie es sich leisten können. Da Robert aus wohlhabendem Hause stammt und als Ingenieur bei IBM ganz ordentlich verdiente, genehmigte ihm die Volksbank einen Kredit mit geschlossenen Augen. Abzuzahlen in einem Zeitraum von zwanzig Jahren. Die gehen schnell vorbei, sagte der Banker und Robert lächelte schief. Der Meinung war er nicht, und der Gedanke, in Null komma nichts fünfzig zu sein, behagte ihm ebenso wenig. Ich arbeitete als Sekretärin bei H&P. Ein Traumjob, der täglich geruhsam begann. Jeden Morgen bekam ich bei einer Tasse Kaffee von den Kolleginnen erst einmal den neuesten Klatsch serviert.

In der Pfütze erscheinen nun ein See und Schatten. Und da, da schaukelt wieder mein Gesicht. Das von Hanna, dem lüsternen Weib, das eine berühmte Sängerin sein wollte und stattdessen ein armes Schwein wurde.

Mein Ehemann soll sehr nett und liebevoll gewesen sein. Nur zu dumm, dass ich davon wenig merkte. Er gehörte zu einer keuschen Sorte Männer. Er liebte mich auf biedere Weise in routiniertem, gähnendem Rhythmus. Sehr öde auf die Dauer. Der ewig gleiche Blick an die Zimmerdecke, die trotz der höchsten Gefühle nicht schöner wurde. Ich bat ihn um diese und jene erotische Gefälligkeit, doch er zuckte zurück. Eines Tages zuckte er vor jeglicher Berührung zurück. Nachdem ich einige Jahre still darunter gelitten hatte, lernte ich den Mann meines Lebens kennen. Jedenfalls glaubte ich das. Er sah umwerfend aus, begehrte mich Tag und Nacht und verlangte sogar, dass ich nackt kochte, nackt die Wohnung aufräumte und nackt die Post aus dem Kasten holte. Das errege ihn sehr, weil ich so schön sei, sagte er und häufig unterbrach er mich beim Kochen oder Staubsaugen und liebte mich mit einer Leidenschaft, die ich nie zuvor kennengelernt hatte. Zwei Jahre lang schwebte ich im siebten Himmel.

»Es gibt ihn, den unvergleichlichen Liebhaber, der außerdem noch ein aufmerksamer Partner ist!«, erzählte ich begeistert meiner Freundin.

Von da an nannte uns meine Freundin Heloise und Abelard nach dem legendären Liebespaar.

Wir unternahmen Reisen nach Ägypten, wo ich auf einem Kamel hockte, und nach Tunesien, wo ich auf einem Esel ritt. Wir flanierten durch London und Paris. Und wir flogen sogar nach Kanada.

»Wie finanziert er eigentlich eure Ausflüge und wann arbeitet er?«, fragte meine Freundin. Ich wusste es nicht, hatte nie danach gefragt. »Er ist eben ein Lebenskünstler!«, antwortete ich hastig.

Und wurde das Geld während der Reise tatsächlich mal knapp, rief er gelassen: »Kein Problem! Wir schlafen im Auto, in Herbergen, auf den Bänken und wir kaufen nur im billigen Supermarkt ein!«

Deshalb kenne ich von Paris und London auch nur die Parkbänke und Supermärkte. Nie habe ich ein Theater von innen gesehen, was mich nicht störte, denn ich hätte ohnehin nichts verstanden.

Als allerschönste Erinnerung bleibt mir der Baggersee. Das Nacktbaden im silbrigen Mondschein. Zur nächtlichen Stunde, umgeben von Wald. Traumhaft und herrlich erotisch. Im Mondlicht glitzerte das Wasser wie von Diamanten übersät. Auch unsere nackten Körper glänzten silbern. Einen schöneren Mann als Abelard hatte ich nie zuvor gekannt. Jauchzend sprangen wir ins kühle Nass, ein paar Frösche quakten dazu, Grillen zirpten, ein Käuzchen ächzte und nach ein paar Zügen durch die dunkle Flut verlangte Abelard mehr. Es war köstlich, so begehrt zu werden. Mein frostiger Ehemann hatte solch lodernde Leidenschaft nie zustande gebracht. Abelard keuchte und stöhnte, was die Frösche zu lauterem Quaken animierte und zog mich, die ich trotz des kalten Wassers in Flammen stand, an Land, wo er mich in wilder Leidenschaft liebte. Nie hatte ich den Mond über mir so schön gesehen, nie war der siebte Himmel so nah und die elende Zimmerdecke so fern. Abelard schenkte mir den Himmel auf Erden.

Ja, das dachte ich: Dieser Held schenkt mir den Himmel auf Erden. Und deshalb verließ ich für ihn meinen Mann und meine Tochter. Nicht ohne vorher meinem Mann das Experiment einer Dreierbeziehung vorzuschlagen. Ménage à trois! Der einzige französische Ausdruck, der mir neben »Amour« und »je t’aime« geläufig ist.

Mein liebenswürdiger Mann reagierte erstaunlich lieblos. »Was? Ich soll deinen Liebhaber akzeptieren? Wir leben zu dritt unter den Augen unserer Tochter?« Er griff sich an die Stirn und fügte an: »Ich fasse es nicht!«

»Und ich verstehe dich nicht!«, rief ich erbost. »Dieser Mann nimmt dir den Teil ab, zu dem du keine Lust hast: Er geht mit mir ins Bett! Er macht mit mir, was du nicht machen willst. Aber wir, du und ich, können weiterhin gemeinsam fernsehen, gemeinsam Domino spielen, gemeinsam essen, gemeinsam ...« Ich stockte, denn Roberts Augen traten beängstigend hervor

»Du bist irre!«, schrie er mit krebsrotem Gesicht. Aufgebracht stampfte er durch das Zimmer. Kreischend verlangte er von mir, den Liebhaber entweder auf der Stelle aufzugeben oder auszuziehen.

»Aber, lieber Robert!« Ich blieb ganz ruhig. »Jetzt, nachdem ich weiß, was leidenschaftliche Liebe ist, kann ich nicht in dein kaltes Bett zurück!«

Den roten Kopf ständig schüttelnd, verließ er wankend den Raum. Am folgenden Tag reichte er die Scheidung ein.

Anfangs zog ich zu Abelard. Damals wohnte er in der vom Vater geerbten Doppelhaushälfte. Von meinem Gehalt als Sekretärin und den Einkünften meiner Gesangsauftritte sowie seinen unergründbaren Ressourcen lebten wir ein halbes Jahr wie Könige. Am Wochenende Sektfrühstück, an Sommerabenden Baggersee, jeden Tag mehrmals Sex. Eine Weile genoss ich dieses Leben. Doch selbst die schönsten Dinge können eines Tages anöden oder abstoßen. Nervtötend empfand ich sein Verlangen, meine Gesangsübungen nackt zu absolvieren. So konnte ich nicht arbeiten, musste ich doch jede Sekunde mit einer leidenschaftlichen Umarmung rechnen, die in einem wilden Ritt auf dem Boden endete. Nach einem Jahr zog ich aus.

In einem nahen Städtchen fand ich eine Zweizimmerwohnung. Wir vereinbarten, uns nur noch viermal die Woche zu sehen, um ein wenig Abstand zu gewinnen. Ich richtete mich notdürftig ein und konzentrierte mich auf meinen Job und den Gesang. Doch Abelard hielt sich nicht an die Vereinbarung. Er stand jeden Spätnachmittag und jeden Abend mit den Worten »Ich kann ohne dich nicht leben« vor meiner Tür. Ich wurde schwach und das Ganze fing von vorne an: Sekt, Sex, Baggersee!

Nach sechs Monaten bekam ich hysterische Anfälle. »Entweder wir führen ein normales Leben oder du haust ab!«, schrie ich.

»Aber das ist doch ein normales Leben!«, schrie er zurück.

Nach sechs weiteren Monaten lag meine Liebe zu ihm in den letzten Zügen und der Mann hing mir zum Halse heraus. Ich wollte ihn loswerden, doch wurde ihn nicht los. Er schlief im Auto vor dem Haus und verfolgte mich bis zur Arbeit. Er erwartete mich nach der Arbeit, folgte mir nach Hause, hockte sich vor meine Tür, klopfte, jammerte und bettelte. Als er anfing, im Treppenhaus vor meiner Tür Totengesänge zu intonieren, drohte ich, die Polizei zu verständigen. Da verschwand er.

Die Erleichterung über Abelards Verschwinden wich einige Tage später einem existenziellen Schrecken. Ich erhielt meine Kündigung. Sparmaßnahmen hieß es, aber ich wusste, dass meine neue Situation nicht salonfähig war. Ich rutschte auf der Karriereleiter. Lass dich nicht unterkriegen, sagte ich mir. Konzentriere dich auf das Singen. Schließlich bist du in Wahrheit eine Sängerin, eine Künstlerin und keine Büroangestellte.

Ich geriet in Bedrängnis. Der Ort, an dem mir Abelard nachspionierte, wurde mir unheimlich. Allerdings: Ohne Job keine andere Bleibe. In Panik forstete ich die Stellenangebote durch. Bis ich ein neues Zuhause habe, nehme ich alles an, sagte ich mir. Eines Tages können sie mich alle. Die Kleinbürger, die auf mich herabsehen. Eines Tages werde ich auf sie herabsehen. Von allen Bühnen der Welt. Ich war damals Mitte vierzig und überzeugt, es noch zu schaffen. Mae West und Morgan Freeman hatten ihre Karrieren auch ziemlich spät gestartet. Ich war auch überzeugt, in einem vorherigen Leben eine Königin gewesen zu sein. Das wollte ich wieder werden. Das war mein Ziel.

Dank meines adretten Aussehens und meiner Merkfähigkeit heuerte mich ein Gasthaus als Bedienung an. Gleich nach Vertragsabschluss suchte ich nach einer neuen Wohnung. In einer entfernten Kleinstadt wurde ich fündig. Mit einem Teil der Abfindung meines Ex-Mannes kaufte ich ein Auto. Den Rest wollte ich irgendwann in Form einer Eigentumswohnung anlegen. Vorerst mietete ich fünfzig Quadratmeter mit Küche und Bad.

Schon nach wenigen Monaten hatte ich von dem Gasthaus genug. Es entpuppte sich als üble Spelunke, in der respektlose Kerle verkehrten, die mir auf den Hintern klopften und anzügliche Bemerkungen zu meinem Brustumfang machten. Nicht mit mir! Wer bin ich denn? Eine einstige Königin! Eine Künstlerin und Sängerin! Ich ohrfeigte die Übeltäter und quittierte den Dienst.

Mein Hauswirt erfuhr davon nichts, denn innerhalb kurzer Zeit hatte ich einen schlauen Job: Kunden für American Express, Diners und andere Kreditkarten angeln. Für jeden erfolgreichen Abschluss winkte eine gute Provision. Das machst du mit Links, dachte ich. Und täuschte mich. Nach einem Jahr Beine in den Bauch stehen und dabei in die Röhre gucken, schmiss ich die undankbare Arbeit. Wer war ich denn?

Meine Gesangsübungen vergaß ich während meiner Berufs-Odyssee keinesfalls. Noch immer war ich beim Künstlerdienst unter dem Slogan: »Hanna Sanchez: das Highlight auf Silbernen, Goldenen und Diamantenen Hochzeiten« angemeldet. Besonders beliebt wurde ich bei Seniorenpartys. Herren knapp unter achtzig und jenseits der Achtzig standen auf mich. Jahrelang hielt ich mich mit solchen Gigs und anderen Jobs über Wasser. Mal stand ich an einer Hotelrezeption, dann hinter dem Tresen, auch hinter Marktständen. Die Märkte waren besonders herb für meine zarte Gesundheit. Früh aufstehen liegt mir nicht und mag ich auch kräftig aussehen, so bin ich doch eine sensible Frau.

In jener Zeit zog ich dreimal um, hatte einen dreißigjährigen Liebhaber, der mich sporadisch in der jeweiligen Bleibe beglückte, und ich bekam hin und wieder Besuch von meiner Tochter. Mein bevorzugter Song auf der Bühne war zu jener Zeit Dalidas Hit: »Er war gerade achtzehn Jahr, fast noch ein Kind mit weichem Haar, ein Mann zum Lieben!« Zu meinem Leid brachte er mir nicht mehr Erfolg ein als die anderen Songs und so rang ich mich zu einem waghalsigen Gang durch: Ich bat meinen Ex-Mann um finanzielle Unterstützung.

Robert entsetzte sich so sehr über mein Anliegen, dass er knallrot anlief und sich ans Herz griff. Kerzengerade schoss er vom Stuhl hoch und wies mir die Tür. »Du bist unglaublich unverschämt. Zuerst zerstörst du unsere Ehe und dann willst du dafür auch noch Geld von mir. Lass dich bei mir nicht mehr blicken.«

Die Jahre flossen dahin. Mein junger Liebhaber fand eine junge Frau und heiratete, die Gigs wurden seltener. Das Geld verrann. Die Chancen auf Arbeit standen aussichtslos. Ich wurde dicker und älter.

In der Pfütze spiegelt sich plötzlich eine jammervolle Figur. Sie redet auf mich ein: »Hey, du Frau, du! Deine Stimme ist schön. Hab `ne Gitarre. Wollen wir nicht gemeinsam Musik machen?«

Ich sehe auf und will wissen, woher er meine Stimme kennt.

»Na, weil ich sie höre. Seit einer Stunde singst du das Lied: ‚Er war gerade achtzehn Jahr, noch ein Kind mit weichem Haar …‘»

Ich bitte ihn, aufzuhören. Es klingt grauenvoll.

»Ich spiele sehr gut. Wir könnten zusammen berühmt werden.«

Ungläubig starre ich ihn an.

»Glotz nicht! Glaub an uns! Wir sehen so abgerissen aus, so hoffnungslos verloren, aber wir werden so schöne Musik machen, dass die Passanten glauben, sie träumen.«

Der Typ ist nicht übel, denke ich, stehe auf und schließe mich ihm an. Auf dem Weg ins Stadtzentrum folgt uns ein Hund. Wenig später gesellt sich eine Katze dazu.

»Wir sind ein Quartett!«, meint er lachend, während wir einen Platz erreichen, an dem wir uns in Szene setzen können. »Oder so was wie die Bremer Stadtmusikanten.«

Die Tiere weichen nicht von unserer Seite und jaulen mit. Ich taufe den Hund Prince und die Katze Garcia.

Wir intonieren Purple Rain. Der Gitarrenlauf, den mein neuer Begleiter hinlegt, reißt mich mit und problemlos stimme ich ein:

I never meant to cause you any sorrow

I never meant to cause you any pain …

I only wanted to see you laughing in the purple rain.

Ich bin zuversichtlich. Morgen werde ich sechzig!

Fin

C'est la vie

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