Читать книгу Ebbas Geschichte - Christina Herrström - Страница 5
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ОглавлениеAm nächsten Morgen herrscht bei der Familie Reng die übliche Hektik. Ebba sitzt in der Küche und zieht sich eilig an, während Mama herumläuft und der Familie die Sachen hinterherräumt. Didrik hält das einzige Badezimmer der Familie besetzt, und Papa tigert ruhelos davor hin und her. Er schaut unaufhörlich auf die Uhr und studiert den Plan, den er an die Badezimmertür geklebt hat.
»Jetzt verstehe ich langsam nichts mehr!« bricht es irgendwann aus ihm heraus. »Wir waren uns doch einig, daß alle sich nach dem Plan richten. Warum kann sich keiner ein bißchen anstrengen? Genau jetzt sollte Ebba schon aus dem Bad rausgehen und ich rein. Und Didrik sollte sowieso schon lange fertig sein!« Er schaut sich hilflos um.
»Man kann die Toilettengewohnheiten der Kinder schlecht planen«, ruft Mama, während sie ins Wohnzimmer flitzt, um nach Ebbas Federtasche zu suchen.
»Meine liebe Lena, in meinem Kursus wird uns gezeigt, daß man alle Probleme des Lebens, die einen stören, ganz einfach dadurch lösen kann, daß man besser plant. Und die morgendliche Badbenutzung ist etwas, das unser ganzes Familienleben durcheinanderbringt. Ich liege inzwischen die halbe Nacht wach und überlege, ob ich es überhaupt auf die Toilette schaffe, bloß weil die Kinder sie immer belagern!«
»Armer Fredrik«, sagt Mama und tätschelt ihm die Wange, während sie in die Küche rennt, um den Frühstückstisch zu decken.
»Übrigens habe ich als Hausaufgabe auf, den Bereich meines Privatlebens mit dem größten Durcheinander in Ordnung zu bringen – und das ist zweifellos der Morgen«, fährt Papa fort.
Jetzt kommt Ebba an. »Didrik, mach auf! Sonst pinkel’ ich mir in die Hose!«
Papa schüttelt den Kopf. »Hier steht es, klar und deutlich«, sagt er und zeigt auf den Plan, »daß ihr beide jetzt bereits auf dem Weg zur Schule sein solltet.«
»Didrik, mach auf!« schreit Ebba und hämmert gegen die Tür.
»Lena?« sagt Papa. »Siehst du, in diesem Augenblick wird es wirklich ganz deutlich, daß das Leben aus Planung besteht.«
»Das hier beweist eher das Gegenteil, finde ich«, ruft Mama, wobei sie versucht, das Geschirr fertig zu verteilen.
»Es sind doch so einfache und vernünftige Regeln, die wir im Kursus lernen«, spricht Papa weiter. »Es sollte eine Selbstverständlichkeit sein, nach ihnen zu leben. Ich habe jedenfalls vor, es zu tun! Und ich bin überzeugt davon, daß man alles, was man will, erreichen kann, wenn man sich erst mal darüber klar ist, welche Rolle man im Leben spielen will!«
Mama schaut ihn prüfend an. »Aber Fredrik, glaubst du denn wirklich, daß der Schlüssel zu den Geheimnissen des Lebens in deinem Mach-mehr-aus-deinem-Leben-Kurs zu finden ist?«
Papa denkt nach. »Ja.«
»Wie lange braucht ihr noch?« seufzt Mama. Da klingelt es an der Tür, und sie läuft, um zu öffnen, weil es niemand sonst tut.
»Das ist offensichtlich eine Zeitverzögerung von ein paar Minuten«, murmelt Papa und notiert es in seinem kleinen Buch.
Auf der Treppe steht Gunilla. »O nein«, japst Ebba.
»Ebba, du mußt jetzt los! Es ist schon spät«, mahnt Mama. Sie drückt Ebba die Schultasche in die Arme, schiebt und schubst sie auf die Treppe hinaus. Ebba und Gunilla starren sich an und ziehen von dannen.
Gunilla wohnt in der gleichen Straße, und Ebba und sie haben früher immer zusammen gespielt. Aber plötzlich wollte Gunilla keine Hütten mehr bauen und nicht mehr hinter Fremden herspionieren. Sie wollte in Damenzeitschriften und Versandhauskatalogen blättern und sich die Schminke ihrer Mutter ausleihen. Ebba dagegen hatte Beine, die sich danach sehnten, laufen zu dürfen, und ihre Hände wollten etwas tun. Eines Tages half sie Philip, einen Karren mit verschiedenen Containerfunden nach Hause zu ziehen. Seit diesem Tag hat Ebba Gunilla vergessen, doch Gunilla hat Ebba nicht vergessen.
Sie gehen zusammen die Straße hinunter. Ebba schielt auf die Schuhe von Gunilla. Die hat ihre Turnschuhe gegen Schuhe mit Absätzen eingetauscht. Um die Füße herum sieht sie wie eine Dame aus.
»Weißt du, was ich soll?« fragt Gunilla angeberisch.
»Nee.«
»Ich soll zu einer Fete kommen.«
Ebba ist zu keiner Fete eingeladen. »Aha«, sagt sie so uninteressiert, wie sie nur kann.
»Bei Katarina!«
»Du sollst zu Katarina?« Ebba kann ihre Überraschung nicht verbergen.
»Du bist nicht eingeladen, oder? Ach nee, es sind nur ganz Spezielle, die kommen dürfen.«
Ebba hat sich nie um Katarina und ihre Clique gekümmert. Sie findet eigentlich, daß die Mädchen albern sind. Nur dadurch, daß Gunilla eingeladen ist, wird sie eifersüchtig. Aber sie will sich das nicht anmerken lassen.
»Hallo Ebba Ebbselon! Beeil dich!« An der Telefonzelle am Hafen wartet Philip.
»Ich gehe jetzt mit Philip«, sagt Ebba. Sie läuft schnell von Gunilla weg, zu Philip. Aber sie bemerkt trotzdem noch, daß Gunilla ihn mit Verachtung anguckt.
»Katarina und ich sind jetzt Freundinnen! Ganz dicke! Wir bleiben heute den ganzen Tag zusammen, und morgen auch!«
»Super«, sagt Philip.
»Viel Spaß, Ebba!« sagt Gunilla höhnisch und trippelt auf ihren klappernden Schuhen davon. Philip lacht, und Ebba tut, als wäre Gunilla ihr ganz egal, aber der kalte Blick zu Philip hinüber beunruhigt sie doch.
»Ta-ram-ta-ta-ta!« trompetet Philip jetzt und öffnet die Tür zur Telefonzelle mit einer stolzen Geste. Dort drinnen steht ein langes, rostiges Blechding. Erwartungsvoll schaut er Ebba an.
»Wie schön«, sagt sie höflich.
»Das schenke ich dir.«
»Danke! Aber was ist das denn?«
»Ein Regenrohr, das sieht man doch! Perfekt für uns. Wir holen es nach der Schule . . .«
Genau in dem Augenblick, als sie die Schule erreichen, klingelt es.
»Sag dem Lehrer, daß ich später komme«, ruft Ebba.
»Ich hab’s zu Hause nicht mehr zum Klo geschafft!«
Als sie die Tür zu den Toiletten öffnet, wird sie von wildem Getöse empfangen. Eine Gruppe von Mädchen schubst ein einzelnes, kleineres Mädchen unter lautem Gejohle vor sich her. »Guckt mal, was für eine blöde Jacke!« kreischt eines der Mädchen und reißt die Jacke aus den Händen der einzelnen.
»Gebt sie her! Hört auf!« bittet die. Die Mädchen werfen sich die Jacke zu.
»Puh, die stinkt!«
»Hat deine Mutter die aus alten Staubtüchern genäht oder was?«
»Gebt sie mir«, bittet das Mädchen. »Sie ist ganz neu!« Die Mädchengruppe antwortet mit einem Lachen, das von den gekachelten Wänden widerhallt. Ebba sieht kurz das Gesicht des Mädchens hinter den Rücken der anderen. Es hat Angst.
»Was für Schuhe!« jubeln einige.
»Hast du die vom Sozialamt?«
»Oder hast du sie geerbt?«
Ebba trägt fast die gleichen Schuhe.
»Zieh sie aus«, befiehlt die Anführerin. Mit drohend hochgezogenen Schultern geht sie auf das Mädchen zu.
»Laßt mich in Ruhe«, wimmert das Mädchen verzweifelt. Aber die anderen kommen unerbittlich näher.
»Die müssen gewaschen werden! Schmeißt sie ins Klo!«
»Das sind ihre Füße, die so eklig sind! Stopft sie auch gleich mit ins Klo!« Wie auf Befehl fallen alle über das Mädchen her und zerren es zur Toilette.
»Loslassen! Loslassen! Loslassen!!!« weint sie.
»Hört auf!« schreit Ebba, kann die Mädchenbande aber nicht übertönen. »Hört auf!«
Plötzlich wird es still. Verwundert drehen sich alle um. Dem Mädchen gelingt es, zu entwischen. Katarina ist die Anführerin der Gruppe. Um sie herum stehen Teres, Sissi, Michaela, Jannicke, Pernilla und . . . Gunilla.
»Hast du was gesagt«, zischt Katarina und funkelt Ebba an.
»Hört auf, habe ich gesagt«, antwortet Ebba.
»Hört auf, habe ich gesagt«, äfft Gunilla sie nach.
»Und wo hast du deinen kleinen Philepile?«
Die anderen stoßen sofort nach. »Sollen wir ihn holen, damit er deine Windeln wechseln kann?« höhnt Teres, Katarinas ständige Begleiterin. Ihre Gesichter sind hart.
»Traust du dich, ohne dein Phililein herumzulaufen?« schnalzt Michaela mit angemalten Lippen.
»Ja, das trau’ ich mich«, antwortet Ebba.
»Du solltest dir vielleicht nicht so schrecklich viel zutrauen, Ebba Reng«, sagt Katarina.
Ebba starrt trotzig zurück, ohne sich vom Fleck zu rühren. Katarina macht einen Schritt auf sie zu und knurrt: »Hau ab! Hau ab, bevor mir der Geduldsfaden reißt!«
Ebba rührt sich nicht. Die anderen Mädchen formieren sich zu einer dichten Mauer hinter Katarina.
»Hau ab, habe ich gesagt!« Katarina droht mit der geballten Faust, daß ihr Armband klappert. Als die Tür hinter Ebba zufällt, kreischen die Mädchen vor Lachen.
Ebba läuft nun schnell zum Jungenklo. Sie tastet gerade nach dem Lichtschalter, als eine Stimme im Dunkeln zu hören ist: »Ich kann das Licht anmachen.«
Das Licht geht an, aber Ebba kann nur verschwommen den Schatten eines Jungen erkennen, bevor er es wieder ausmacht.
»Du hast dich geirrt«, stellt er fest.
»Aber ich konnte nicht aufs Mädchenklo gehen, und ich muß . . .!«
»In welcher Klasse bist du?« fragt der Junge.
»3 B«, antwortet sie, während sie versucht, in der Dunkelheit zu den Toiletten zu gelangen.
»Du bist klein. Wie heißt du? Du kennst deine Rechte. Sage die Wahrheit und nichts als die Wahrheit! Alles, was du sagst, kann gegen dich verwendet werden!«
Ebba tastet sich im Dunkeln voran.
»You are under arrest. Vorname, Rufname, Nachname?«
»Ebba Matilde Reng, aber ich werde nur Ebba genannt. Machst du jetzt das Licht an?«
»Du hast also Angst im Dunkel«, sagt der Junge.
»Oh!« stöhnt Ebba und erreicht endlich die Tür zur Toilette. Als sie hinter sich abschließt, knipst der Junge das Licht an. »Wie heißt du noch mal?« fragt er.
»Ebba, wie ich gesagt habe.«
»Ich heiße Morten.«
»Aha.«
»Als ob du das nicht wüßtest! Als ob du nicht wüßtest, wer das ist«, sagt er bedeutungsvoll.
»Na, das bist natürlich du. Du hast es ja gesagt«, murmelt Ebba zerstreut.
»Haha! Bestimmt! Ganz bestimmt weißt du nicht, wer ich bin. Ich glaube dir alles, Baby!«
Als Ebba die Tür öffnet, löscht er das Licht wieder. Sie muß sich zum Waschbecken vortasten. »Hast du denn keinen Unterricht?« fragt sie.
»Wenn ich will, schon, aber ich will nicht«, antwortet er leichthin.
»Ich muß jetzt jedenfalls gehen. Na, dann tschüs.« Als sie die Tür öffnet, fällt ein Streifen Licht auf seine Augen. Sie sind ganz blau. Schnell weicht er wieder zurück.
»Ja, tschüs, wie immer du auch heißt.« Plötzlich klingt er sehr gleichgültig.
Die Tür fällt hinter Ebba zu, und im Dunkel bleibt der rätselhafte Junge zurück. Ebba läuft durch die leeren Korridore. Da prescht hinter einer Ecke jemand hervor und hält sie an. Es ist das kleine Mädchen von vorhin.
»Versprich, daß du niemandem was sagst!«
»Was denn?« wundert Ebba sich.
»Du darfst niemandem sagen, daß die mich geärgert haben! Du darfst bei niemandem petzen. Versprich das! Sonst wird es nur noch schlimmer . . .«
»Ich verspreche es«, sagt Ebba und schämt sich, obwohl sie gar nichts gemacht hat.
»Wie heißt du?« fragt das Mädchen.
»Ebba.«
Ein kurzes Lächeln huscht über das Gesicht des Mädchens. Wenn ihre Scheu fort ist, sieht sie niedlich aus. Ebba überlegt, wodurch sie wohl Katarina reizt.
»Ich heiße Lisa«, sagt die Kleine. Dann verschwindet sie lautlos wie ein Vogel die Treppe hinauf. Ebba rennt weiter zu ihrem Klassenraum. Dort ist alles noch morgenmüde und ruhig, als wenn nichts geschehen wäre. Sie setzt sich auf ihren Platz neben Philip. Sie versucht, dem Lehrer zuzuhören, kann ihre Gedanken aber nicht zusammenhalten. Immer wieder sieht sie die Angst in Lisas Augen vor sich. Und sie sieht Gunillas kalten Blick auf Philip.
Sie rutscht näher zu ihm heran. Er beugt sich zu ihr, als glaubte er, daß sie ihm etwas sagen will. Aber sie will nichts Besonderes. Sie will nur so nah wie möglich bei ihm sitzen.