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Nach Schulschluß hat Philip es eilig, das Regenrohr aus der Telefonzelle zu holen. Ebba läuft neben ihm her, aber nicht so unbeschwert wie gewöhnlich. Sie hört hinter ihrem Rücken Flüstern und Gelächter.

Als sie das lange, rostige Regenrohr durch den Ort tragen, geht sie nicht mit dem üblichen Stolz durch die Straßen. Sie ist sich der Blicke der anderen bewußt. Erst als sie mit Philip in den Wald kommt, kann sie sich entspannen.

Die Luft ist septemberklar, und der Wald duftet. Die beiden arbeiten den ganzen Nachmittag daran, die Regenrinne am Dach zu befestigen. Sie unterhalten sich, lachen und singen. Zwischendurch verstummt Philip, legt den Finger an die Lippen und lauscht. Er zeigt Ebba einen Dachs, eine Rehmutter mit Kitz, einen ungewöhnlichen Vogel. Alles ist ähnlich wie sonst, aber dennoch ist es ganz anders. Ebbas Gedanken bewegen sich weit fort. In ihrer Brust nagt ein unbehagliches Gefühl. Ihre Gedanken wandern zu Gunilla, an die sie seit Monaten nicht mehr gedacht hat. Zu deren klappernden Schuhen. Ihrer merkwürdigen Miene. Daß sie plötzlich zu den tollsten Mädchen der Schule gehört. Und als sie an Gunillas herablassenden Blick Philip gegenüber denkt, schämt Ebba sich. Sie schämt sich, weil sie Philip plötzlich mit Gunillas Augen sieht. Sie sieht, daß er die falsche Frisur hat, Hosen in der falschen Farbe und altmodische Turnschuhe. Sein Rucksack ist eigentlich auch etwas albern. Sie hat das vorher nie beachtet. Sie hat sich nie darum gekümmert. Sie will sich auch jetzt nicht darum kümmern.

Es ist schwer, vor Philip etwas zu verbergen. Er bemerkt, daß Ebba in Gedanken ist. Nachdem sie ihm erzählt hat, was auf der Mädchentoilette passiert ist, geht es ihr besser. Sie kann mit Philip über die Mädchen die Nase rümpfen. Aber nach einer Weile stellt sich Ebbas Unbehagen wieder ein, denn über das, was sie wirklich stört, kann sie nicht reden.

Als es zu dämmern beginnt, laufen Ebba und Philip durch ihren Gartenlaubenwald. Philips Schritt ist so leicht, als tanze er. Die sich verfärbenden Bäume lassen einzelne Sonnenstrahlen durch, die Philips braunes Haar rot sprenkeln. Plötzlich wird Ebba von einer großen Wärme erfüllt. Er spürt es wohl, denn im gleichen Augenblick schaut er über die Schulter zu ihr und lacht.

»Du wartest morgen auf mich?« fragt Ebba, obwohl sie seine Antwort kennt.

»Und du wartest auf mich«, sagt Philip. Dann trennen sie sich für den Abend.

Das Essen steht auf dem Tisch, und Didrik und Mama setzen sich gerade, als Ebba nach Hause kommt. Sie ißt mit großem Appetit.

»Hör auf, so herumzuschlabbern, Schlebba«, schimpft Didrik.

»Stell dir vor«, wirft Ebba ein, »wenn Papa heute auch das Essen gemacht hätte. Dann wären wir verhungert!«

»Wo ist er übrigens?« fragt Didrik.

»Ich weiß nicht«, antwortet Mama.

»Hat er nicht gelernt, pünktlich zu sein?« sagt Didrik.

»Ich rufe ihn im Büro an!« Ebba läuft zum Telefon und wählt seine Nummer. Mama schaut auf die Straße, aber er ist nicht zu sehen. Eine kleine Sorgenfalte erscheint über ihrer Nasenwurzel.

»Hallo?« sagt Ebba. »Grüß Gott oder guten Tag oder was man so sagt. Hier ist eine, die heißt Ebba, und ich möchte wissen, ob mein Herr Papa Reng da ist . . . – Nee!« Sie wirft den Hörer auf die Gabel und kehrt zurück zum Tisch, wo sie ihr Essen weiter in sich hineinschaufelt.

»Vielen Dank und auf Wiederhören sagt man«, ermahnt Mama sie.

»Er war ja nicht da!«

Mama wirft einen Blick auf die Straße. Die ist weiterhin menschenleer. »Hat sie gesagt, wann er gegangen ist?«

»Schon vor einer Ewigkeit«, antwortet Ebba und nimmt sich noch eine Portion.

Mama sieht nachdenklich aus. Papa ruft sonst immer an, wenn er sich verspätet. Ihr Blick wandert wieder zum Fenster.

»Mama«, fragt Ebba. »Was koste ich?«

»Kosten?«

»Ja, ist es nicht teuer, Kinder zu haben?«

»Schon, aber das ist nichts, worüber du nachdenken mußt. Außerdem kostest du am wenigsten von uns allen.«

»Wieso das?«

Didrik beugt sich vor und schaut ihr ernsthaft in die Augen. »Ja, verstehst du, Schlebbamaus, weil du nicht soviel wert bist wie wir anderen.«

Ebba lacht, aber Mama nicht. »Das hättest du dir sparen können, Didrik«, sagt sie streng.

Ebba schaut verwundert erst Mama an, dann Didrik.

»Du hast doch gesagt, daß sie am billigsten ist!« sagt der.

»Solange sie noch am wenigsten ißt, ja. Du weißt sehr gut, Didrik, daß es dumm von dir ist, ihr solche Sachen zu sagen.«

Mama ist sehr ärgerlich. Ihr Ernst macht Ebba angst.

»Stimmt das denn?« fragt sie. »Was er gesagt hat?«

»Nein, das stimmt nicht, mein Schatz.« Mama wirft Didrik einen bösen Blick zu.

»Warum hat er es dann gesagt?« hakt Ebba nach und sieht vor sich, wie Mama und Papa ihm verboten haben, die Wahrheit zu sagen.

»Er wollte bloß lustig sein«, sagt Mama.

»Ich war ernst«, sagt Didrik ernst.

Für ein paar Sekunden ist es ganz still . . .

»Hallo!« Papa kommt nach Hause. Ebba rennt in den Flur und wirft sich ihm um den Hals. Er drückt sie fest an sich.

»Papa, was bin ich wert?« fragt sie ihm ins Ohr. Sie spürt, wie er für eine Hundertstelsekunde erstarrt.

»Warum fragst du das?« sagt er und versucht, ihren Blick aufzufangen, aber sie will ihn nicht ansehen, sie will ihm ins Ohr flüstern, in seine Arme gekuschelt.

»Weil Didrik gesagt hat . . . er hat gesagt, daß ich nicht soviel wert bin wie ihr . . .«

»Es ist doch klar, daß er das nicht wirklich gemeint hat!« Papa läßt sie auf den Boden hinunter und hängt seine Jacke auf.

Sie umschlingt ihn mit ihren Armen. »Warum sagt er etwas, was nicht stimmt?«

»Ach«, sagt Papa und stellt die Schuhe in die Garderobe. »Darüber brauchst du dir keine Gedanken zu machen. Das macht man manchmal.« Er zupft sie am Haar und geht in die Küche. Sie bleibt auf dem Flur stehen und sieht, wie er verschwindet. »Ja? Macht man das?«

Niemand hört Ebba.

Als Papa die Küche betritt, mustert Mama ihn. »Du kommst spät.«

»Ja, es ist heute ein bißchen später geworden . . .« sagt Papa und lacht irgendwie verlegen.

»Wir haben bereits gegessen. Ich wußte ja nicht, wann es dir einfällt, zu erscheinen«, sagt Mama kurz. »Das Essen steht im Ofen.«

»Herrlich!« Papa versucht so zu tun, als meine er das tatsächlich.

Mama, Didrik und Ebba schauen ihm zu. Er ist sich selbst nicht ähnlich. Ebba versucht zu erkennen, was anders ist, es gelingt ihr aber nicht. Alle sind still, während Papa sich sein Essen auf den Teller füllt.

In dieser Nacht wacht Ebba kurz nach zwei Uhr auf. Sie bleibt eine Weile im Dunkel und in der Stille liegen und lauscht. Sie kann nicht wieder einschlafen. Dann schleicht sie zu Didrik. Er schläft tief, obwohl seine Decke heruntergerutscht ist.

»Didrik . . .« sagt sie leise. Er grunzt und dreht sich um. Ebba hebt seine Decke auf und legt sie über ihn, dann geht sie weiter. Papa liegt auf der äußersten Bettkante und umarmt sein Kissen, und Mama liegt hinter ihm, die Hände nach ihm ausgestreckt.

»Papa? . . . Mama . . .«

Aber beide schlafen fest. Ebba geht die Treppe hinunter und holt das Telefon aus der Küche. Sie setzt sich im Wohnzimmer hinter einem Sessel auf den Fußboden und wählt Philips Nummer. Es klingelt nur einmal, dann nimmt Joëlle den Hörer ab.

»Hallo, Joëlle Clavelle?« sagt sie munter. Sie ist voll in Aktion, obwohl es mitten in der Nacht ist. Es ist schön, ihre Stimme zu hören, die französische Musik und die Vögel, die im Bauer zwitschern. Ebba kann fast das warme Licht in ihrem Haus fühlen.

»Hallo, hier ist Ebba!«

»Ebba, ma petite!« ruft Joëlle und scheint kein bißchen verwundert zu sein. »Wie geht es dir?«

»Es geht . . .« murmelt Ebba. Im gleichen Moment verschwindet Joëlle, erregt französisch redend. Ebba hört, wie sie in der Küche klappert.

»Ebba, bist du noch da?« fragt sie dann schnell. »Ich hatte es ein bißchen eilig, denn ich bin dabei, Garn zu färben, und ich dachte, daß das Wasser zu heiß werden könnte, aber es besteht keine Gefahr. Jetzt ist alles in Ordnung! Also, wie geht es dir?«

»Ich würde gern mit Philip sprechen.«

»Aber der schläft längst!«

Ebba seufzt schwer.

»Ach, ist ja klar, daß du mit ihm reden kannst«, verbessert Joëlle sich. »Warte, ich werde ihn wecken. Bleib dran!«

Ebba horcht eifrig in den Hörer. »Jetzt kommt er«, sagt Joëlle.

»Philip . . .« sagt Ebba, sie sehnt sich nach ihm. Da knackt es in der Leitung, die Verbindung ist weg.

»Philip, warte, hallo!« ruft Ebba, so laut sie sich traut. Im gleichen Augenblick wird der Hörer wieder aufgenommen.

»Mmh«, murmelt Philip verschlafen. Joëlle hat ihm den Hörer zwischen Ohr und Schulter geklemmt.

»Hallo, ich bin’s!« sagt Ebba.

»Mmh, hallo . . .« sagt Philip, mehr schlafend als wach.

»Ich muß mit dir über eine Sache reden. Es ist wichtig.«

»Mmh . . .« Er kriecht tief unter die Decke und versucht, seine Wange ins Kissen zu graben, aber der Telefonhörer ist im Weg. Er gibt es mit einem leichten Seufzen auf.

»Meinst du alles ernst, was du mir sagst?« möchte Ebba wissen.

»Mmh . . .«

»Das über Ebba und Philip auch?«

»Ja doch.«

»Man kann das nämlich nicht immer so sicher wissen. Ob Leute das sagen, was sie meinen.«

»Doch«, wiederholt Philip undeutlich.

»Wir werden uns immer die Wahrheit sagen, nicht wahr?«

»Ja . . .« sagt Philip, wobei er laut gähnt.

»Gähnst du etwa?«

»Mmh.«

»Während wir über so wichtige Dinge reden?«

»Ich bin ein bißchen müde.«

Ebba seufzt. »Wartest du morgen auf mich?« fragt sie, obwohl sie weiß, was er antworten wird.

»Ja klar.«

»Auch wenn ich zu spät komme?«

»Das mache ich immer.«

Da fühlt Ebba sich beruhigt. »Dann können wir jetzt schlafen«, sagt sie.

»Mmh«, sagt Philip, der fast schon wieder eingeschlafen ist.

»Kuß und Umarmung!«

»Mmh, genau.«

»Eins, zwei, drei«, sagen beide zugleich, auch wenn Philip etwas langsamer ist, und dann legen sie die Hörer auf. Ebba bleibt noch eine Weile in dem stillen, dunklen Wohnzimmer sitzen. Dann steht sie auf und rennt ins Bett.

Am nächsten Morgen geht Ebba beschwingt durch die Stadt. Es ist ein richtiger Gartenlaubentag mit strahlender Sonne und knallblauem Himmel. Sie läuft den Hügel hinunter, über die Eisenbahnschienen, zum Hafen und zur Telefonzelle. Philip ist noch nicht gekommen. Sie schaut in die Richtung, aus der er kommen muß. Er ist nicht zu sehen. Die Minuten vergehen.

»Philip!« ruft sie. Aber er antwortet nicht.

Da taucht Gunilla in Gesellschaft von Teres und Katarina auf. Katarina trägt ihren großen rosa Kassettenrecorder, und sie tänzeln zu der Musik.

»Wonach suchst denn du?« ruft Gunilla höhnisch.

»Hast du was verloren?«

»Die große Liebe!« brüllt Katarina und läßt ihr typisches rauhes Gelächter hören. Sie verschwinden kichernd. Ebba bleibt an der Telefonzelle stehen.

»Philip!« ruft sie. Aber Philip ist nicht da.

Ebbas Geschichte

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