Читать книгу Das Erbe von Grüenlant. Band 3: Schwarzes Land - Christina Kunz - Страница 10

Wer ist der Feind?

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Während Natalie und ihre Freunde durch den Blinden Fleck reisten, bewegte sich das Heer unter Kommandant Jeremy Blunts Führung gen Kunningshort. Fünfhundert Mann nebst Pferden und Versorgungswagen schlängelten sich die Straße entlang durch die Dörfer, und was bei Natalies Gruppe noch fröhliches Winken hervorgerufen hatte, verwandelte sich jetzt in beklemmendes Schweigen.

Jeremy ritt mit Karl voran. Er hatte gehofft, der Oberste Magier würde ihn unterstützen, aber der hatte sich vollkommen zurückgezogen. Jeremy wusste nicht, was er davon halten sollte. Er wusste, dass Gerbin böse auf seine Tochter war, aber hier ging es ja schließlich nicht um einen Familienzwist, sondern um die Zukunft Grüenlants. Wie konnte jemand, der so mächtig und weise war, sich dermaßen kindisch verhalten?

Nun ja, bis Kunningshort konnte er ja erst mal nicht viel falsch machen. Und wenn alles gut ging, würde Letho dort zu ihnen stoßen und könnte das Kommando übernehmen.


Tatsächlich trafen sie in Kunningshort auf Letho und einen Teil seiner stark mitgenommenen Männer. Er berichtete Jeremy, dass er mit einem Großteil seines Heeres den Spuren bis zur Küste gefolgt war. Dort sei ihnen Grauenhaftes widerfahren. Tatsächlich hatte Magna zusammen mit ihrer Tochter Varuschka die Bewohner Kunningshorts sowie die Königsgarde und das Fischerdorf mithilfe der Blutmagie in willfährige Vasallen verwandelt. Sie hätten gegen ihre eigenen Leute kämpfen müssen, Männer, Frauen und auch Kinder, die ihnen mit aller Härte entgegengetreten seien. Es sei ihm jedoch gelungen, sich mit seinen Männern schnell zurückzuziehen, um unnötige Opfer zu vermeiden. Varuschka war noch dort und befehligte die Armee der Verwandelten. Ihr zur Seite stand ein junger Mann, den Letho noch nie gesehen hatte und der ihr hörig zu sein schien. Auch die Botschaft von dem Heer in der Wüste hatten sie erhalten. Letho hatte den Großteil seiner Männer in sicherer Entfernung an der Küste zurückgelassen, hatte es aber für unabdingbar gehalten, selbst mit Gerbin und den Männern der Königin zu beratschlagen.

Plötzlich stand Gerbin neben Jeremy. „Wir haben nur zwei Möglichkeiten – entweder wir erschlagen unsere eigenen Leute oder wir bekämpfen die Verursacher – Magna und Varuschka. Wenn sie tot sind, kann auch ihre Blutmagie nichts mehr bewirken und unsere Leute sind frei. Gebt mir hundert erfahrene Männer, ich mache mich auf den Weg an die Küste. Vielleicht kann meine Magie etwas bewirken.“

Jeremy schluckte seinen Ärger hinunter. Drei Tage hatte er sich nicht blicken lassen, und jetzt spielte er den Kommandanten. Trotzdem hatte Gerbin recht. Wenn jemand hier etwas bewirken konnte, dann ein starker Kriegsmagier. Und das war Gerbin.

Letho wandte sich Jeremy zu: „Kommandant Blunt, was haltet Ihr von dieser Idee?“

Jeremy war erfreut, dass Letho sich für seine Meinung interessierte. Bereitwillig gab er Antwort. „Ich stimme dem Obersten Magier zu. Einer von uns sollte ihn begleiten. Mit Verlaub, Ihr kennt die Begebenheiten und könntet ihm wahrscheinlich besser behilflich sein als ich …“

„Ja, da habt Ihr allerdings recht, auch wenn mich nichts dahin zurückzieht. Ihr haltet hier zunächst die Stellung. Mein erster Offizier Jakub Dern wird mich hier vertreten, steht ihm zur Seite! Wir haben bereits Späher in Richtung der Brandwüste geschickt. Sollte das Schwarze Heer sich uns nähern, stellt Euch ihm entgegen!“

„Jawohl, Herr General!“

Einerseits war Jeremy froh, dass er jetzt nicht mehr die Entscheidungen zu treffen hatte, andererseits hatte er seine Sache gar nicht schlecht gemacht und General Letho hatte sogar auf seinen Rat gehört und ihn umgesetzt. Vielleicht war sein Platz an der Spitze eines Heeres ja doch der richtige.


Drei Tage später erreichten Gerbin und Letho zusammen mit ihren Männern das Heerlager nahe der Küste. Sie durchquerten eine flache Grasebene, die den starken Wind ungehindert ins Landesinnere peitschen ließ. Man konnte das Meer bereits riechen, und auch die Luft war salzig. Schwere dunkle Wolken bedeckten den Himmel und verdüsterten die Umgebung, und immer wieder prasselten Regenschauer nieder. Eine unheimliche Stille, nur durchbrochen vom Tosen des Windes und vom fernen Rauschen des Meeres, lag über allem. Kein lebendiges Wesen war zu hören.

Gerbin spürte die Magie, die über der Landschaft hing wie die dunklen dräuenden Wolken. „Wir müssen vorsichtig sein, General. Irgendetwas stimmt hier nicht.“

„Beim letzten Mal war es nicht so düster, damals wurden wir auch sofort angegriffen. Das hier ist neu“, bestätigte Letho Gerbins Einschätzung.

Gerbin und Letho machten sich zusammen mit dem Heer auf den Weg zum Fischerdorf, welches sie bald aus sicherer Entfernung in Augenschein nehmen konnten. Die Gegner hatten eine Barrikade errichtet, einen dichten Holzzaun, der noch dazu von einem Graben umgeben war. Vorsichtig näherte sich das Heer, in ausreichendem Abstand blieben die Soldaten stehen und schlugen ihr Lager auf. Obwohl erst früher Nachmittag, war es schon dunkel wie zur Abenddämmerung.

„Wir sollten jemanden schicken, der versucht zu verhandeln. Vielleicht erreichen wir es, dass wenigstens die Kinder freigelassen werden.“ Gerbin bot sich an, dies zu übernehmen.

„Ich denke nicht, dass das Sinn macht. Wir haben es bereits beim letzten Mal versucht. Sie haben unseren Boten ermordet und uns angegriffen. Diese Vârunger besitzen weder Ehre noch Anstand. Ich kann Euch sagen, was passieren wird, wenn Ihr Euch der Barrikade alleine nähert – ein gezielter Pfeil eines Bogenschützen, weiße Fahne hin oder her, und das war‘s dann für Euch. Nein, wir greifen gleich an.“

„Eins sollte klar sein – zwar werden wir versuchen, unsere Landsleute zu schonen, die Vernichtung der Vârungischen Bastion hat jedoch absoluten Vorrang! Hier geht es um mehr als um die Befreiung unserer Leute – hier geht es um die Zukunft Grüenlants.“ Gerbins Stimme klang hart. Letho wusste jedoch, dass er recht hatte.

Sie beschlossen also, bei Anbruch der Nacht anzugreifen.


„Ihr habt wirklich schon über hundert Schlachten geschlagen?“ Jeremy sah Jakub bewundernd an. „Naja, ich habe ja auch mein Leben lang nichts anderes gemacht. Schaut mich alten Kerl an!“ Jakub zeigte, Anerkennung heischend, über seine Narben.

„Vermisst Ihr denn nichts?“ Jeremy haderte wieder einmal mit sich selbst. Einerseits bewunderte er Jakub für dessen Kampfesruhm, andererseits fand er ein solches Leben auch schrecklich einsam. Er würde selbst gerne eines Tages eine Familie haben, etwas, wofür es sich zu kämpfen lohnte. Jedoch fragte er sich, ob sich das Leben als Heerführer dafür überhaupt eignete und ob er als Kommandant nicht vollkommen ungeeignet war.

Jeremys Gedanken wurden jäh unterbrochen von einem der Späher, die aus der Brandwüste zurückkamen.

„Offizier Dern, Kommandant Blunt!“ Er salutierte.

„Was gibt es zu berichten?“

„Das Heer unter Viggos Führung lagert nach wie vor in der Brandwüste am Großen Brunnen und macht keine Anstalten aufzubrechen. Sie scheinen auf etwas oder jemanden zu warten.“

„Magna.“ Jeremy sah plötzlich klar. „Unsere Königin hat berichtet, dass sie in der Vârburg ist, gemeinsam mit ihrem Sohn Vâkon. Sie hat es sich zum Ziel gesetzt, sich mit Keiran Lasalle – nun ja, zu vereinen. Wenn sie damit Erfolg hat, wird sie mächtiger sein als je zuvor. Königin Natalie ist auf dem Weg dorthin, um genau das zu verhindern. Was, wenn es ihr nicht gelingt?“ Er zögerte kurz. Und plötzlich nahm ein schrecklicher Gedanke mit einer unerschütterlichen Klarheit Gestalt an. „Götter! Magna wollte, dass unsere Königin genau das tut! Und sie ist blind vor Liebe in die Falle gelaufen!“ Er fuhr sich mit einer fahrigen Geste durch die Haare.

„Was genau meint Ihr?“ Jakub sah Jeremy ratlos an.

„Nicht nur Magna will sich mit Keiran verbinden – ihr Sohn soll unsere Königin bekommen und über Grüenlant herrschen.“


In der vorherrschenden Dunkelheit war nicht zu bemerken, wann die Nacht begann. Gerbin wartete, bis die Schatten noch etwas tiefer waren und man die Hand vor Augen nicht mehr sehen konnte.

„Es wird Zeit“, signalisierte er seinen beiden Begleitern, die, wie er in einen schwarzen Umhang gehüllt und bis an die Zähne bewaffnet, unruhig mit den Füßen scharrten.

Ohne ein Geräusch von sich zu geben, schlichen die drei Magier durch hohes Gras. Gerbin hatte die Strecke mit Bedacht gewählt, im Schutz der Pflanzen würden sie nicht auffallen und nahe an die Barrikade herankommen. Dann jedoch lichtete sich das Gras und sie mussten eine freie Fläche überqueren.

Stopp!

Gerbin wartete, bis die beiden Magier ihn erreicht hatten. Mit zusammengekniffenen Augen beobachtete er die hölzerne Umzäunung. Im Innern brannten Feuer, sodass er im gespenstischen Schein der Flammen dunkle Schemen wahrnehmen konnte, die sich auf der Wehrmauer aufhielten.

„Bogenschützen. Wie erwartet.“

Gerbin atmete tief durch, dann instruierte er seine Begleiter.

„Wie besprochen. Wir pirschen uns so weit wie möglich vor. Sobald einer von uns bemerkt wird, greifen wir an. Verteilt euch!“

„Alles klar. Wünscht uns Glück, Gerbin. Wir werden es brauchen.“

Gerbin pirschte langsam über den Boden, immer die Bogenschützen im Blick. Noch tat sich nichts. Seine Aufgabe war es, das Tor zu erreichen. Wenn es ihm gelingen würde, in die Festung zu gelangen, dann konnte er vielleicht Varuschka finden und ausschalten. Dann würde der Zauber von seinen Leuten genommen werden und die Zahl der Gegner sich drastisch reduzieren. Das war ihre einzige Chance, möglichst viele zu retten.

Plötzlich erschienen zwei dunkle Gestalten auf der Plattform über dem Tor. Gerbin knurrte. Das war Varuschka, höchstpersönlich. Dann stutzte er. Der Mann war – aus der anderen Welt. Er hatte mit Natalie zusammengearbeitet, dort hatte er ihn gesehen. Was um alles in der Welt tat er hier? Und Varuschka – hatte sie seine Anwesenheit gespürt?

Gerbin, alter Mann, was wollt Ihr?

Das war Antwort genug. Sie waren entdeckt worden.

Angriff, befahl er seinen Begleitern, und sofort donnerten magische Energiewellen links und rechts von ihm in die Barrikade. Er selbst hielt sich zurück. Er wollte Varuschka nicht seine genaue Position verraten.

Wider Erwarten wurden die Magier jedoch nicht von Bogenschützen oder magischen Wellen angegriffen, sondern von Gewehrsalven empfangen.

„Götter“, dachte Gerbin „Natalie hatte recht – sie haben Waffen aus der anderen Welt!“ Jetzt war ihm auch klar, warum der Mann bei ihr war. Er musste Varuschka und ihre Leute im Umgang mit den Waffen geschult haben, denn das, was zurückkam, war treffsicher und wohlüberlegt. Seine Nerven waren zum Zerreißen gespannt. Die Gewehrsalven und die Risse in der Barrikade, die von den magischen Angriffen hervorgerufen wurden, hatten den zusätzlichen Nachteil, dass sich der gespenstische rote Lichtschimmer auch vor das Tor hin ausweitete und Gerbin somit besser zu sehen war.

Inzwischen rückte jedoch auch Letho mit seinem Heer nach. Sie hatten es schwer, das Tor zu erreichen, denn die Gewehrsalven mähten sie nieder, sobald sie auch nur in die Nähe kamen. Ihre Rüstungen und Schilde, die für Bogenschützen ein Problem dargestellt hätten, waren für die modernen Waffen kein Hindernis. Die Luft war erfüllt vom Geruch nach Pulver und Tod, die Gewehrsalven donnerten in Gerbins Ohren und ließen ein latentes Pfeifen zurück.

Varuschkas Leute hatten alle Hände voll zu tun und achteten nicht auf ihn. Gerbin sandte ein Stoßgebet zu Tonan und sprintete los. Tatsächlich schaffte er es bis zum Tor, seine Fähigkeiten ließen ihn den richtigen Weg zwischen den Kugeln hindurch finden. Gerade als er sich fragte, wie er in die Festung gelangen sollte, öffnete sich das inzwischen von den magischen Wellen beschädigte Tor und spuckte ein Heer von unbedeutender Größe aus. Gerbin stockte der Atem. Es waren ausschließlich Bürger Kunningshorts!

Im Schatten der Barrikade wartete er, bis die letzten das Tor passiert hatten, dann gelang es ihm, ungesehen hindurchzuschlüpfen. Direkt neben dem Eingang befand sich eine Treppe, die zu der Plattform über dem Tor führte. Varuschka war noch dort, zusammen mit dem Mann aus der anderen Welt. Wie es schien, war es Gerbins Begleitern gelungen, sie in dem Glauben zu lassen, er befinde sich dort draußen. Er beeilte sich, nach oben zu gelangen. Vorsichtig lugte er über den Rand der Plattform.

Dort stand Varuschka zusammen mit dem jungen Mann und sandte Energiewellen auf das Schlachtfeld. Der Mann bediente ein Gewehr auf einem Gestell, welches unaufhörlich Munition abfeuerte. Dabei war es ihm egal, ob er die Feinde oder die eigenen Leute traf. Er hielt einfach mitten auf das Schlachtgeschehen.

Da seid Ihr ja, alter Mann!

Gerbin seufzte. Seine Annahme war falsch gewesen.

Noch bevor sie sich umdrehen konnte, schleuderte er seine Energie nach ihr, doch sie schien damit gerechnet zu haben. Er fegte den Mann von den Beinen, sie geriet ins Straucheln. Dennoch schien sie überrascht ob seiner Stärke, hatte sich jedoch schnell gefangen und stellte sich ihm entgegen.

Gerbin ging langsam auf sie zu. Aus den Augenwinkeln bemerkte er, dass der Mann sich aufrappelte und wieder seiner Schusswaffe zuwandte. Er schwenkte sie jetzt auf dem Gestell zu ihm hinüber. Schnell setzte er ihn mit einer weiteren Welle außer Gefecht, verlor dabei aber kurz die Aufmerksamkeit für Varuschka, die nun ihrerseits auf ihn zukam.

„Alter Mann, geht nach Hause!“ Um ihre Finger tanzten rote Flammen, die sie Gerbin entgegen schleuderte. Schnell schuf er einen Schutzschild, hinter dessen blauem Lichtschild er sich Varuschka näherte.

„Ihr steht Eurer Mutter in nichts nach“, rief er. „Genauso schön, genauso grausam. Und genauso dumm …“

Varuschka lachte und warf ihm erneut ihre energiegeladenen Flammen entgegen.

Gerbin fiel es zunehmend schwer, seinen Schutz aufrecht zu erhalten. Er hoffte, sie würde nicht merken, wie sehr ihn das alles anstrengte. Sie war noch stärker, als er vermutet hatte. Er musste seine Strategie ändern. Fast hatte er sie erreicht.

Doch dann tat er etwas, womit sie überhaupt nicht gerechnet hatte.

Mit einer flinken Bewegung zog er sein Schwert und schlug ihr den hübschen Kopf ab.


Ein langgezogener Schrei riss Keiran aus seiner Lethargie. Es klang unmenschlich, und doch wusste er sofort, wer ihn ausgestoßen hatte. Magna. Irgendetwas musste passiert sein. Magna verlor selten derart die Kontrolle über sich. Keiran hoffte, dass es etwas Gutes zu bedeuten hatte.


Tobias war verwirrt. Um ihn herum tobte ein Kampf, wie er ihn noch nie erlebt hatte. Er befand sich auf einer hölzernen Plattform, halb hing er auf einem MG, welches auf einen alten Mann mit langen weißen Haaren und nachtschwarzem Umhang, den er über einer Rüstung trug, ausgerichtet war. Dieser hatte ein blutiges Schwert in der Hand und sah ihn bedrohlich an. Was tat er hier? Und wer war das? Er versuchte sich zu erinnern.

Da war dieser Mann gewesen, der aussah wie ein Vampir und der ihn zu Natalie bringen wollte. Stattdessen hatte er ihn aber zu einer dunkelhaarigen Schönheit mit schwarzen Haaren gebracht, seiner Schwester, wenn er sich richtig erinnerte. Das war alles, was er noch wusste. Und jetzt war er hier.

„Wo – wo bin ich? Und wer seid Ihr?“

Der Grauhaarige ließ das Schwert sinken und sah ihn erschöpft an. Hatte er gegen ihn gekämpft? Tobias starrte auf sein MG und sicherte es vorsichtshalber. Vielleicht war der Mann ja gar kein Feind, jedenfalls sah er im Moment nicht so aus, als wolle er mit ihm kämpfen.

„Mein Name ist Gerbin. Ich bin der Oberste Magier von Grüenlant. Und wer seid Ihr, junger Mann?“

„Mein Name ist …“ Wie hieß er doch gleich? „… Tobias Werner. Wo um alles in der Welt bin ich hier?“

Da fiel es ihm wieder ein. Das Tor! Der Mann hatte ihn mit durch die Wand in der Höhle genommen, so wie Natalie zuvor mit diesem Typen verschwunden war! Und jetzt war er hier, um sie zu suchen und diesem Keiran eine zu verpassen. Der Vampir hatte ihn hereingelegt. Der hatte ihm versprochen, ihn zu Natalie zu bringen, und dann hatte ihn seine Schwester verzaubert und von da an wusste er nichts mehr.

„Wo ist Natalie?“

„Natalie? Ja, richtig, Ihr seid ihr – Kampfgefährte.“ Der alte Mann sah ihn zerstreut an.

„Ihr – was? Wo ist sie? Was wissen Sie von ihr?“, entgegnete Tobias ungeduldig.

Der alte Mann – Gerbin – sah ihn forschend an, als überlege er, ob er ihm trauen könne. „Ich mache mir Sorgen um sie“, erläuterte Tobias deshalb. „Ich – ich mag sie sehr gern und möchte nicht, dass ihr etwas zustößt.“

Gerbin rieb sich das Kinn. „Nun ja, also … ich bin ihr Vater.“

„Ihr Vater?“ Tobias war erstaunt. Soviel er wusste, hatte Natalie überhaupt keinen Vater, jedenfalls war nie einer da gewesen.

„Ja, das ist etwas kompliziert. Ich erkläre es Euch später.“

„Und wo ist sie jetzt?“ Tobias konnte es immer weniger erwarten, sie wiederzusehen. Dass um ihn herum der Schlachtenlärm tobte, nahm er nicht zur Kenntnis.

„Auch das ist etwas kompliziert. So genau weiß ich das nicht. Sie müsste gerade unterwegs nach Vârungen sein, um … um … nun ja, sie hat es sich in den Kopf gesetzt, ihren … ihren … Keiran Lasalle zu befreien.“ Gerbin fiel die Antwort sichtlich schwer und er rang um Worte.

Tobias wurde zornig. Was lief hier ab? Schon wieder dieser blöde Kerl! Was hatte der bloß mit Natalie angestellt?

„Was will der von ihr? Warum war der überhaupt bei uns? Seit er aufgetaucht ist, hatten wir nur Ärger!“ Tobias rang die Hände.

Gerbin beschwichtigte ihn. „Tobias, ich mache Euch einen Vorschlag. Das ist eine sehr, sehr lange und komplizierte Geschichte. Ihr kommt jetzt erst einmal mit mir. Und wenn wir uns nicht gerade mitten in einer Schlacht befinden, so wie jetzt, erkläre ich Euch alles. Aber im Moment ist nicht der richtige Zeitpunkt dafür. Habt Ihr eine Waffe?“ Er schielte auf das MG. „Eine kleine – für die Hand?“

„Ich – ja.“ Tobias zog seine Glock.

„Gut. Dann lasst uns gehen.“


Letho bemerkte, dass ein Ruck durch das gegnerische Heer ging. Die Bewohner von Kunningshort hörten einfach auf zu kämpfen und sahen sich verwirrt um. Seine eigenen Soldaten reagierten schnell und nahmen die desorientierten Personen zunächst einmal gefangen. Die Königsgarde kämpfte jedoch unvermindert weiter und Letho schlug nach wie vor wild um sich, immer noch „der Feind, gegen den Feind …“ vor sich hinmurmelnd. Er bekam jedoch jetzt von vielen Seiten Hilfe und so gelang es ihm mithilfe seiner Soldaten schnell, auch die Königsgarde ohne große Verluste zu überwinden. Während die Bewohner Kunningshorts jedoch friedlich wurden und immer wieder fragten: „Wo bin ich? Wie komme ich hierher? Wo ist mein Sohn? Was ist passiert?“, waren die Männer der Königsgarde nach wie vor aggressiv.

„Gerbin muss Erfolg gehabt haben“, stellte Letho fest und der Soldat neben ihm nickte. „Ja, die Leute unter dem Bann Varuschkas sind erlöst. Diese hier“, und er wies auf die Königsgarde, „stehen wohl unter Magnas Bann, und die scheint noch am Leben zu sein!“

Kurz darauf kam Gerbin mit einem verwirrt aussehenden jungen Mann mit kurzen braunen Haaren und ebensolchen Augen zurück, der eine seltsame Waffe in der Hand hielt.

„General Letho, darf ich Euch Tobias Werner vorstellen? Er ist ein – ein alter Freund meiner Tochter.“


Während sich der Großteil des Heeres zusammen mit den Bewohnern Kunningshorts und den Gefangenen der Königsgarde auf den Rückweg zur Königsburg machte, blieb ein Teil zurück, um Varuschkas Festung zu erforschen. Insbesondere die seltsamen Waffen sollten mitgenommen und später untersucht werden. Dabei würden Gerbin und vor allem Natalie und Tobias eine große Hilfe sein. Die dunklen dräuenden Wolken waren verschwunden, der Morgen zeigte sich hell und freundlich, weiße Wolken wurden vom Meer her aufs Land getrieben und Möwen kreischten in der Luft.

Gerbin und Tobias ritten zusammen mit Letho zurück. Tobias ritt mehr schlecht als recht, Gerbin glaubte, dass er es, wie Natalie, hier erst gelernt haben musste. Die Erinnerung daran musste ihm, trotz der Leere, die die letzten Tage ausfüllte, erhalten geblieben sein. Gerbin nutzte die Zeit und erzählte Tobias von den Geschehnissen. Dabei blieb es ihm nicht verborgen, was der junge Mann für seine Tochter empfand und warum er nicht gut auf Keiran zu sprechen war.

Das Erbe von Grüenlant. Band 3: Schwarzes Land

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