Читать книгу Das Erbe von Grüenlant. Band 3: Schwarzes Land - Christina Kunz - Страница 9
Durch die Nebel
ОглавлениеAm nächsten Morgen machte sich die kleine Gruppe auf den Weg durch den Blinden Fleck, nicht wissend, was sie erwarten würde. Damit keiner den Weg verfehlte, banden sie die Pferde aneinander. Es ritt immer ein Nicht-Magier zwischen zwei Magiern. Gernot machte den Anfang, es folgten Hekon, Gertrud, Mina, Timmon und Mallister. Natalie bildete den Abschluss. Sie ritten langsam, und schon bald hüllte der unheimliche Nebel sie ein. Mallister wurde es unbehaglich zumute. Damals, als er mit Gerbin hier unterwegs gewesen war, hatte er sich geschworen, dies nicht noch einmal zu tun. Er sah weder den Weg noch die Hand vor Augen und wieder einmal wurde ihm klar, woher der Blinde Fleck seinen Namen hatte. Er legte sich eng an den Hals seiner Stute. Ob sie den Weg sehen konnte? Sie schien sich ihrer Sache sicher zu sein … Um sich nicht völlig in der Blindheit zu verlieren, begann Mallister ein Gespräch mit dem Pferd.
„Kannst du irgendwas sehen? Diese Magier sind einfach verrückt. Kein normaler Mensch macht sowas! Warum habe ich mich überhaupt darauf eingelassen? Wer weiß, wie weit wir nach dem Tor noch durch diese Suppe reisen müssen … Ob Natalie weiß, was sie tut? Manchmal bin ich mir da nicht so sicher … Aber, was soll's, sie liebt ihn. Das reicht als Begründung …“
Und so plapperte er vor sich hin, und es half ihm dabei, nicht den Mut zu verlieren.
Ich hörte Mallister vor mir leise flüstern. Unwillkürlich musste ich schmunzeln. Er konnte einfach nie den Mund halten. Nach dem, was er mir geschildert hatte, musste die Reise für ihn aber auch viel unangenehmer sein als für mich. Angeblich sah er überhaupt nichts. Das konnte ich mir gar nicht vorstellen! Zwar sah auch ich wenig, aber der Weg leuchtete deutlich vor mir, als hätte jemand LEDs im Boden versenkt. Schemenhaft nahm ich auch den Wald wahr, durch den der Weg führte. Einer inneren Eingebung folgend holte ich den kleinen blauen Kristall aus der Tasche, den Keiran mir gegeben hatte. Er leuchtete hell und plötzlich drehte Mallister sich um. „Natalie? Was tust du?“
Ich zeigte ihm den Kristall. „Kannst du jetzt etwas sehen?“
Mallister sah mich erstaunt an. „J-ja, ich sehe sogar dich! Wir sind im Wald … Aber den Weg sehe ich trotzdem nicht.“
„Ich leihe ihn dir aus, wenn du mir versprichst, vorsichtig damit umzugehen. Er ist ein – besonderes Geschenk von Keiran.“
„Von Keiran?“ Mallister klappte der Mund auf und tatsächlich wusste er einmal nicht, was er sagen sollte.
„Ja – von Keiran.“
Ich lächelte ihn an und dachte daran, wie Keiran mir den Kristall gegeben hatte.
Gernot hatte darauf bestanden, den ganzen Tag im Sattel zu bleiben. Zu groß war die Gefahr, dass vor allem einer der Nicht-Magier verlorenging. So hatte sich jeder mit Nahrungsmitteln und Wasser für den ganzen Tag versorgt. Gegen Abend würden sie das Tor erreicht haben, er hoffte, dass sich dort die Gelegenheit für ein Nachtlager ergab.
Kurz vor ihrem Ziel hielt er die Gruppe an.
„Wir müssen vorsichtig sein! Um das Tor befinden sich meistens Späher, sowohl von uns als auch von Vârunger Seite. Ich gehe vor und überprüfe die Lage. Ihr wartet hier.“
Lautlos glitt er von seinem Pferd, welches einfach stehen blieb, und verschwand im dichten Nebel.
Gernot wollte den Pfad nicht verlassen, denn hier wäre er sonst verloren. So schlich er vorsichtig in Richtung Tor. Er wusste, wo sich die Späher aus Grüenlant aufhielten. Es gab eine kleine Hütte, in der sie ihr Lager bezogen, um sich im Nebel nicht ganz verloren zu fühlen. Da er wusste, wo diese Hütte stand, schlich er sich von hinten heran. Er wusste auch, dass die Späher vornehmlich das Tor und die Richtung nach Vârungen im Auge behielten – von hinten drohte in der Regel keine Gefahr und mehr war auch ob des dichten Nebels nicht machbar.
„Psst!“ Er klopfte leise an die Hütte. Niemand antwortete. Vorsichtig schob er die Tür auf und zuckte sofort wieder zurück. Ein unerträglicher Geruch schlug ihm entgegen, der süßliche Gestank von Verwesung und Tod. Gernot hielt sich ein Tuch vor Nase und Mund und überwand sich, einen Blick in die Hütte zu werfen.
Zwei Späher, beide waren tot, bestialisch ermordet, jemand hatte ihnen die Kehlen von einem Ohr zum anderen aufgeschlitzt. Die feuchte und klebrige Luft hatte ihr Übriges beigetragen. Die Körper waren aufgedunsen und grünlich, dienten bereits als Brutstätte für Fliegen, die sich selbst hier im dichten Nebel ausbreiteten. Sie waren bestimmt schon zwei Wochen tot. Gernot hatte genug gesehen, schnell drehte er sich weg. Er kämpfte gegen den sauren Geschmack, der sich mehr und mehr in seinem Mund ausbreitete. Draußen atmete er tief die neblige Luft ein.
Die verfeindeten Späher ließen sich in der Regel in Ruhe, jeder saß auf seiner Seite und solange niemand bedrohlich nahekam, ließen sie die jeweils anderen gewähren.
Es war also noch jemand hier gewesen, kurz nachdem Natalie und Keiran gekommen waren. Und dieser Jemand war ihnen nicht wohlgesonnen …
Natalie?
Gernot brauchte mehrere Anläufe, bis er sie erreichte. Dieser Nebel dämpfte einfach alles …
So hatte er Schwierigkeiten, ihr seine grausige Entdeckung mitzuteilen.
Das ist gar nicht gut! Gernot, komm zurück, unternimm nichts allein!
Natalie war spürbar besorgt, sodass Gernot sich zunächst auf den Rückweg zu den anderen machte.
Dort angekommen stellte er beunruhigt fest, dass es vor allem Mina und Mallister nicht gut ging. Timmon sprach gerade beruhigend auf den jungen Mann ein. Hekon, der es gewöhnt war, seine Gefühle zu verbergen, ließ sich nichts anmerken.
Gernot schlug vor, weiter vorn am Rand der Lichtung zu lagern, dort war der Nebel nicht so dicht. Vorerst hielt er die Gruppe jedoch noch im Schutz der Bäume an, denn auch auf Vârunger Seite gab es sicher Späher. Er wollte sich sofort auf den Weg machen, um die feindliche Seite zu erkunden.
„Gernot, allein ist es zu gefährlich!“, sagte Natalie. „Zu zweit sind wir stärker“, insistierte sie.
Es kostete ihn eine Menge Überzeugungskraft, ihr klar zu machen, dass es besser war, wenn sie bei ihren Freunden blieb und er die Lage zuerst allein peilte. So konnte er sich unauffälliger bewegen.
Und im Falle eines Falles wäre mit ihm nicht viel verloren. Diesen Gedanken behielt er jedoch für sich.
„Ich komme zurück. Wartet auf mich.“ Schon wurde er vom Nebel verschluckt.
„Wo sollen wir auch sonst hin?“, entgegnete Mallister missgelaunt.
In der Zwischenzeit schlugen wir unser Lager am Rande der Lichtung, die zum Tor führte, auf. Die Nebel flimmerten hier leicht gelblich und ließen zumindest einen kleinen Sichtradius frei. Ich versuchte, Keiran zu erreichen, hatte jedoch keine Chance, durch die Nebel zu ihm durchzudringen. Wo er jetzt wohl war? Als ich ihn das letzte Mal erreichen konnte, hatten sie die Wüste gerade hinter sich gelassen. Also müsste er nun bald auf der Vârburg ankommen. Dann würde Magna ihn wieder belästigen. Was würde sie tun, wenn er sich ihr widersetzte? Oder würde es ihr gelingen, ihn zu überzeugen? Nein … Ich musste ihm vertrauen. Und das tat ich, aus tiefstem Herzen.
Ich warf einen Blick in die Runde meiner Freunde. Mallister hatte die Reise am meisten mitgenommen, sein Blick war angespannt und er hielt Minas Hand, als sei er am Ertrinken. Um Hekon musste ich mir weniger Sorgen machen – Gertrud kümmerte sich liebevoll um ihn und half ihm mit ihren magischen Fähigkeiten über die Schrecken hinweg, die der Blinde Fleck den Nichtmagiern bescherte. Unwillkürlich musste ich lächeln. Die beiden hätten gegensätzlicher nicht sein können, und doch schien es so, als seien sie füreinander bestimmt. Ich fragte mich, ob sie sich dessen bereits bewusst waren. Timmon döste vor sich hin. Er kam allein zurecht und wusste mit seinen Kräften hauszuhalten.
Nun warteten wir auf Gernots Rückkehr.
Unauffällig gesellte ich mich zu Mina und legte ihr beruhigend die Hand auf den Arm, versuchte, ihr ein bisschen mit meiner Magie zu helfen.
„Es wundert mich überhaupt nicht, warum noch nie jemand auf die Idee gekommen ist, diesen Weg zu nehmen“, stellte Mallister entmutigt fest. „Das ist ja kaum zu ertragen!“ Mina kuschelte sich an ihn. „Wenn ich dich schon nicht sehen kann, so möchte ich doch wenigstens spüren, dass du da bist.“
Natalie stimmte Mallister zu. „Du hast recht, wir sollten sehen, dass wir so schnell wie möglich hier rauskommen.“
„Zum Glück ist wenigstens einer in der Lage, herauszufinden, wo wir hinmüssen, während der Rest hier dumm herumsitzen muss“, grummelte Mallister und nickte in Richtung von Gernots verlassenem Lager.
„Ach Mallister, der Nebel schlägt dir wohl aufs Gemüt.“ Natalie war überrascht über Mallisters plötzlichen Stimmungsumschwung und irgendwie auch erleichtert – wenigstens war er jetzt nicht mehr so depressiv.
„Ja, Natalie, er macht mich richtig aggressiv! Und noch schlimmer ist es, hier sitzen zu müssen, nichts zu sehen und nichts tun zu können.“
„Ich kann dich gut verstehen. Mir geht es genauso. Ich würde auch lieber etwas tun.“
Kurz darauf kam Gernot zurück.
„Da drüben ist etwas. Ein Lagerfeuer. Es sitzen zwei schwarze Gestalten dort.“ Er warf Natalie einen Blick zu. „Wenn mich jemand begleiten würde, könnten wir sie gleichzeitig erledigen.“
„Ich könnte das machen“, bot Mallister sich an.
„Du?“ Gernot warf ihm einen verwunderten Blick zu, bisher war sein Gefährte Kämpfen immer aus dem Weg gegangen.
„Na ja – besser als hier herumsitzen. Ich komme mir gerade so nutzlos vor.“ Mallister zuckte mit den Schultern.
„Unsere Zeit kommt noch“, wandte sich Timmon ihm zu. „Jetzt brauchst du vor allem eins – Geduld!“
Mallister fügte sich schnell und sie beschlossen schließlich, dass Gernot und Natalie sich um die beiden Späher kümmern würden, während Gertrud und Timmon Wache hielten. Mallister und Hekon blieb nichts anderes übrig, als ihre Schwerter bereitzuhalten, falls die beiden Wachen etwas meldeten.
Ich hatte Gernot den Vortritt gelassen und schlich nun leise hinter ihm über die Lichtung. Dabei erinnerte ich mich an den Tag, an dem ich in Grüenlant angekommen war. Es kam mir vor wie eine Ewigkeit. Hier hatte ich zum ersten Mal Seite an Seite mit Keiran gekämpft – und mich ziemlich unbeholfen mit dem Schwert angestellt. Unwillkürlich musste ich lächeln. Was war in der Zwischenzeit alles passiert – irgendwie war ich ein völlig anderer Mensch geworden.
Vor uns, auf der anderen Seite der Lichtung, hörte ich etwas. Ich spannte die Sehne meines Bogens, Gernot neben mir tat das Gleiche. Vorsichtig schlichen wir weiter, und tatsächlich – am Rande der Lichtung, auf Vârunger Seite, saßen zwei schwarze Gestalten an einem Lagerfeuer, dessen Schein vom Nebel stark gedämpft wurde. Sie schienen nicht damit zu rechnen, dass irgendjemand kommen würde, und unterhielten sich laut.
Gernot und ich schlichen noch etwas näher heran. Mit Zeichen ordneten wir uns den beiden zu, kurz darauf sirrten unsere Bogensehen gleichzeitig und bevor die Gestalten etwas bemerkt hatten, steckten ihnen unsere Pfeile mitten im Herzen.
Wir näherten uns langsam dem Lagerfeuer, es konnte ja sein, dass noch mehr Leute in der Nähe waren. Nichts tat sich.
„Den Spuren nach ist hier keiner mehr.“ Gernot deutete auf den Platz um das Feuer. Trotzdem sahen wir nach, konnten aber niemanden entdecken. Gernot löschte das Feuer, die beiden Leichen ließen wir liegen.
Wir durchsuchten ihr Gepäck, doch außer ein paar Essensvorräten konnten wir nichts finden, was uns irgendeinen Aufschluss über eine eventuelle Mission der beiden gegeben hätte. Also nahmen wir an, dass deren Aufgabe tatsächlich nur in der Bewachung des Tors bestanden haben durfte.
Auf dem Rückweg, der uns näher am Tor vorbei führte, fiel mir auf, dass die beiden Leichen der Schergen, die Keiran und ich damals getötet hatten, verschwunden waren. Dafür fand ich etwas anderes: einen Dienstausweis des BKA, ausgestellt auf Tobias Werner. Meine Nackenhaare stellten sich auf und mich durchfuhr ein eisiger Schrecken.
„Ich weiß, warum jemand hier war!“ Aufgeregt zeigte ich Gernot meinen Fund. „Sie haben Tobi geholt!“
„Wer ist Tobi?“ Verwundert sah er auf die kleine Karte und betrachtete das Foto.
„Tobi – ist mein Freund. Drüben. Wir haben zusammen – gearbeitet, also – so wie wir beide jetzt. Das muss Magna gewesen sein!“
„Welchen Sinn sollte das haben? Ich meine – wenn sie dich damit hätte erpressen wollen, dann hätte sie es doch schon längst getan. Und wenn sie ihn töten wollte, warum auch immer, dann hätte sie es – drüben erledigt, so wie bei … bei deiner Mutter.“ Gernot schluckte. „Wozu braucht sie ihn hier?“
„Meine Güte, die Waffen!“ Plötzlich fiel es mir ein. Die verschwundene Waffenlieferung! Magna brauchte jemanden, der ihr dabei half, die Technologie zu verstehen und sie richtig zu gebrauchen. Und indem sie meinen Freund für sich gewann, schadete sie mir zusätzlich. Aber Tobi – warum um alles in der Welt sollte er sich darauf einlassen?
Es nutzte nichts, sich jetzt darüber den Kopf zu zerbrechen. Wenn meine Vermutung stimmte, war er bei dem Heer an der Küste zu finden. Ich hoffte nur inständig, dass er keine Dummheiten machte oder sich gar in Lebensgefahr begab.
„Halt – wer da?“ Mallister saß aufrecht, aufgeschreckt durch ein Geräusch, aber Gertrud beruhigte ihn gleich wieder. „Keine Angst, das sind Natalie und Gernot.“ Tatsächlich schälten sich die beiden kurz darauf aus dem Nebel.
„Die andere Seite ist sauber. Wir sollten uns hier etwas ausruhen und morgen weiterreiten. Wir sind alle erschöpft.“ Gernot ließ sich neben Mallister nieder. Die beiden Späher erwähnten wir nicht.
„Wir haben etwas entdeckt.“ Natalie erzählte von ihrem Fund. Mallister wurde hellhörig. „Ist das der Tobi, von dem du uns erzählt hast? Dein Freund?“
„Genau der.“
Mallister besah sich den Dienstausweis und drehte ihn in den Fingern.
„Oh–oh Natalie, du stehst Keiran in Blindheit in nichts nach … Was glaubst du wohl, was der hier will?“
Ich konnte nicht umhin, über Mallisters Bemerkung nachzudenken. Ich – blind? Was meinte er damit? Doch nicht etwa, dass Tobi – dass Tobi etwas für mich empfand? Das war nicht möglich, wir kannten uns schon so lange! Und wenn es so wäre – warum hatte Tobi dann nie etwas gesagt?
Zugegebenermaßen hatte ich noch nie wirklich über eine solche Option nachgedacht. Klar hatte ich hin und wieder seinen muskulösen Körperbau bewundert und gerne mit ihm geflirtet, aber es war nie darüber hinausgegangen.
Vielleicht hatte Mallister auch einfach nur Unrecht.
Tobi war schließlich mein Freund, und Freunde standen einander bei.
So musste es sein.
Ich wischte den Gedanken beiseite.
Dennoch sorgte ich mich weiter darum, was mit Tobi geschehen sein konnte.
Am nächsten Tag ritt die kleine Gruppe weiter. Die Pause am Tor hatte den Nicht-Magiern etwas Erholung verschafft, die absolute Blindheit in dem undurchdringlichen Nebel hatte ihnen sehr zu schaffen gemacht. Insbesondere Mallister wurde zunehmend gereizt, aber auch Mina und Hekon waren fahrig und nervös.
Ich hatte Mallister meinen blauen Kristall überlassen, in der Hoffnung, er würde ihm etwas helfen. Dennoch wurde er nach kurzer Zeit schon wieder unruhig. Auch ich selbst fühlte eine zunehmende Befangenheit, leichte Spinnenfinger wanderten meinen Nacken empor und ließen einen kalten Schauder zurück. War der Nebel auf Vârunger Seite noch gefährlicher als auf der Grüenländischen? Und wenn ich das schon spürte – um wie viel schlimmer musste es dann den Nicht-Magiern gehen? Vielleicht hätte ich wirklich vorher einen Gedanken daran verschwenden sollen, warum nie jemand diesen Weg genommen hatte.
Es nutzte nichts. Jetzt waren wir hier, es gab kein Zurück mehr.
„Habt ihr das gesehen? Dort hinten, im Nebel!“ Panisch zuckte Mallisters Kopf hin und her.
„Da ist nichts! Deine überreizten Sinne spielen dir einen Streich“, versuchte Gernot den Freund zu beruhigen.
„Doch, doch, da ist – eine Gestalt! Das … das muss der Herrscher über den Blinden Fleck sein, er begleitet uns die ganze Zeit! Und ich glaube nicht, dass es ihm gefällt, dass wir hier einfach so durch sein Gebiet reiten, ohne ihm die nötige Ehre zu erweisen.“ Sein Herz begann wild zu klopfen. Ganz deutlich sah er eine bedrohliche Figur durch die Nebel auf sich zukommen, es war ein alter Mann mit einem mächtigen grauen Rauschebart und einer goldenen Krone auf seinem Kopf, die mit edlen Diamanten bestückt war. Sein weißes Gewand war golddurchwirkt und in der Hand hielt er ein Zepter, welches er Mallister bedrohlich entgegen schwenkte.
„Noch einmal: Da ist nichts, nur Nebel“, sprach Gernot sehr bestimmt an Mallister gewandt.
Mallister bekam jedoch Unterstützung von Mina. „D-doch! Da sind viele! Aber sie tun uns nichts, sie tanzen nur. Das ist wunderschön anzusehen. Sie tragen goldene Gewänder. Schaut doch!“
Mina war ganz verzückt bei dem Anblick der tanzenden Elfen. Ihre goldenen Gewänder glitzerten wie Tau und ihre filigranen Gliedmaßen wiegten sich anmutig zu einer wunderschönen Melodie, die Mina in ihren Bann zog. Sie wurde magisch angezogen von dem Reigen, und als die Elfen auf sie zu tanzten, um sie in ihre Mitte zu nehmen, wäre sie bereitwillig mitgegangen, wenn nicht Natalie sie daran gehindert hätte. Sie war dicht neben sie geritten und hatte ihr die Hand auf den Arm gelegt, ihr dabei etwas von ihrer Magie gegeben. Das hatte ausgereicht, dass die Elfen sich zurückzogen und von Mina abließen. Sie seufzte enttäuscht.
„So harmlos sind die nicht! Das sind Soldaten, sie greifen uns an!“ Hekon zog sein Schwert und fuchtelte wild um sich. „Hilfe, so helft mir doch, es sind einfach zu viele!“ Es war eine Totenarmee, gespenstische Knochenmänner in edlen Rüstungen, von denen immer mehr und mehr dem dampfenden Erdboden entstiegen. Sie formierten sich und schickten sich an, die Gruppe anzugreifen. Hekon drehte fast durch. Gertrud und Gernot redeten beruhigend auf ihn ein. „Da ist nichts. Niemand tut dir etwas. Steck dein Schwert weg, bevor du noch jemanden von uns verletzt!“ Gertrud gelang es letztendlich, ihn zu überzeugen.
„Was ist denn nur los mit euch?“ Gernot wirkte merklich irritiert. „Hier ist weit und breit niemand – nur Nebel. Und der tut uns nichts.“ Trotzdem schwankte seine Stimme leicht und er sah sich beunruhigt um.
„So leicht solltest du das nicht nehmen. Es hat seinen Grund, warum niemand, und schon gar kein Heer, durch den Blinden Fleck reist. Uns schützt unsere Magie, aber die anderen sind ihren Fantasien schutzlos ausgeliefert.“ Gertrud sprach sehr eindringlich, dann flüsterte sie: „Das kann zum Wahnsinn führen! Manch einer hat sich deshalb schon in sein Schwert gestürzt oder seine Freunde getötet.“ Und ergänzte: „Auch wir Magier sollten vorsichtig sein.“
„Ja“, pflichtete Natalie ihr bei, „ich fühle es auch. Was können wir tun?“ Sie war sichtlich betroffen. „Wir müssen doch irgendwas tun können!“
Gernot sah die beiden Frauen mit einem seltsamen Gesichtsausdruck an und rutschte unbehaglich im Sattel hin und her. Er nahm die Sache ganz und gar nicht leicht, wollte die Freunde aber nicht beunruhigen. Es war seine Pflicht, Ruhe zu bewahren. Er hoffte, es würde ihm gelingen.
„Wir müssen sie mit unserer Magie schützen. Natalie, du nimmst Mina mit auf dein Pferd. Mallister geht zu Timmon und ich – ich reite mit Hekon. Gernot übernimmt die Führung.“
Gertruds Vorschlag wurde sofort einstimmig angenommen. Im dichten Nebel suchten und fanden sich die Freunde, auch wenn Mallister sich weigerte, vom Pferd zu steigen, um nicht dem König des Blinden Flecks zum Opfer zu fallen.
Schließlich stieg Timmon ab und ging zu Mallister, während Natalie Mina zu sich holte, da Isolde kräftiger war als Minas Stute. Die nun unbeladenen Pferde führten sie hinter sich her. Mallister hielt Natalies Kristall fest umklammert, aber erst, als Timmon ihm die Hände auf die Schläfen legte, fühlte er sich etwas besser und schloss erschöpft die Augen.
Hekon ging es gleich besser, als er mit Gertrud zusammen auf dem Pferd saß. Wenn diese absurde Situation es mit sich brachte, dass er ihr nahe sein konnte, dann war es doch für etwas gut. Er saß hinter ihr und hielt sie fest umschlungen, sie hatte ihre Hände auf seine gelegt und hielt die Nebelsoldaten von ihm fern. Sie quälten ihn nicht mehr. Er fühlte tiefen Frieden und Glückseligkeit.
Ich hatte ein schlechtes Gewissen, weil ich meine Freunde dazu gebracht hatte, sich auf diese Reise zu begeben. Ich fragte mich, warum Gertrud, die offensichtlich davon wusste, mich nicht vor der Gefahr gewarnt hatte. Niemals hätte ich gedacht, dass es so schlimm für die Nicht-Magier sein könnte. Und was hatte sie damit gemeint, dass auch wir Magier vorsichtig sein sollten? Ich spürte zwar das Unbehagen im Nacken, den kalten Schauder, aber irgendwie gewöhnte ich mich daran, und ich sah auch keine Gestalten im Nebel. Würde es noch schlimmer kommen, würde meine Magie nicht ausreichen, das Grauen von mir und von meinen Freunden fernzuhalten?
Als ich Mina die Hände auf die Schläfen legte, erfassten mich ihre Gefühle mit einer ungeahnten Wucht. Ich kämpfte dagegen an. Noch war es mir möglich, auch wenn es mich anstrengte. Sie beruhigte sich schnell, tatsächlich gelang es ihr, friedlich an mich gelehnt einzuschlafen.
Für die Nacht lagerten wir mitten auf dem Weg. Es würde schon niemand vorbeikommen. Gernot übernahm die erste Wache, später wollte ich ihn ablösen.
Mina kuschelte sich eng an mich. Obwohl sie auf dem Pferd viel geschlafen hatte, döste sie gleich weiter. Ich hielt sie fest im Arm und streichelte ihr Haar. Irgendwann fiel auch ich in einen tiefen traumlosen Schlaf.
Gernot weckte mich mitten in der Nacht.
„Was ist los?“ Verschlafen blinzelte ich ihn an. Sofort spürte ich eine innere Unruhe, ein Ziehen in den Eingeweiden, das sich langsam nach oben hin ausbreitete. Ich bettete Mina bequem auf ihr Bündel und schälte mich aus unserer Decke. Unbehaglich rutschte ich zu Gernot hinüber.
„Ich – schaffe es nicht allein.“
In der Dunkelheit, durch die ein kraftloser Mond einen milchigen Schimmer sendete, suchte ich seinen Blick und erschrak. Es lag etwas Fremdes darin, etwas Wildes, was so gar nicht zu seinem besonnenen Charakter passen wollte. Sofort war ich auf der Hut. Das Ziehen verstärkte sich, wurde unerträglich und ich widerstand dem Reflex, davonzulaufen, tief in den Wald, weg von Gernot, weg vor diesem Gefühl und weg vor mir selbst.
Ich starrte Gernot an, wusste nicht, was hier passierte, nur, dass es keineswegs gut war. Mühevoll schloss ich die Augen und konzentrierte mich auf meine Atmung. Ein, aus, ein, aus. Plötzlich spürte ich Gernots Hand in meinem Nacken. Er flüsterte meinen Namen. Mein Herz begann wild zu klopfen.
Keirans Bild erschien vor meinem inneren Auge und ich fand die Kraft, mich aus meiner Starre zu lösen. Ich riss die Augen auf und machte einen Satz nach hinten.
„Nein!“, zischte ich, mehr zu mir selbst als zu ihm, und plötzlich wich alles Wilde, alle Leidenschaft von meinem Freund und er sah mich verwirrt an.
„Ich – was – was habe ich getan?“ Er schlug die Hände vor sein Gesicht.
Sicherheitshalber blieb ich auf Abstand, mein Herzschlag hatte sich noch nicht beruhigt und ich beobachtete ihn argwöhnisch.
Gernots Schultern zuckten verräterisch und da wusste ich, dass der Bann gebrochen war. Zitternd legte ich ihm eine Hand auf den Arm.
„Nichts. Es ist nichts passiert. Das muss der verdammte Nebel gewesen sein.“
„Es tut mir leid. Kannst du mir das jemals verzeihen?“ Flehend sah er mich an.
„Es gibt nichts zu verzeihen.“ Ich atmete tief durch. Auch wenn ich es mir nicht eingestehen wollte, so wäre ich fast dieser seltsamen Magie erlegen, wenn Keirans Bild mich nicht davor bewahrt hätte. Zum ersten Mal hatte ich Magnas Macht am eigenen Leib gespürt, und ich begann zu zweifeln, ob unsere Kraft und Liebe ausreichen würden, um gegen sie zu bestehen.
„Wir müssen vorsichtig sein. Niemand sollte mehr allein im Nebel wachen und wir beobachten uns gegenseitig. Gemeinsam werden wir das schaffen.“ Ich versuchte, das Zittern in meiner Stimme zu ignorieren und hoffte, Gernot würde es nicht bemerken.
Wir setzten unsere Wache gemeinsam und schweigend fort, hielten aber vorsichtshalber einigen Abstand voneinander und vermieden es, uns anzusehen. Als es endlich dämmerte, weckten wir die anderen.
„Ist etwas passiert?“, wollte Mallister mit einem Blick in unsere blassen Gesichter wissen. Ich spürte, wie Timmon mich nachdenklich anschaute. Er schien etwas zu ahnen, sagte aber nichts.
„Nein, alles ruhig“, antwortete ihm Gernot bestimmt. „Aber dieser Nebel macht auch mich langsam fertig. Wir sollten sehen, dass wir so schnell wie möglich hier rauskommen.“
Und so setzten wir unsere Reise in der gleichen Zusammensetzung wie am Vortag fort, nur dass wir diesmal die Pferde wechselten. Denen schien der Nebel nichts auszumachen und ich fragte mich, ob Pferde wohl von Natur aus Magie beherrschten und wenn ja, welche. Ich beneidete Isolde, die ruhig und sicher durch die Nebelschwaden trabte.
Als am Abend die Nebel endlich nachließen und die scharfkantigen Felsen Vârungens sich aus den dampfenden Schwaden herausschälten, waren alle erleichtert und vor allem ich war froh, dass diese Reise durch den Blinden Fleck, über die ich so wenig im Vorfeld nachgedacht hatte, niemanden auf der Strecke gelassen hatte.
Erschöpft ließ ich mich von Isoldes Rücken gleiten und half anschließend Mina nach unten. Ich sog die klare Luft tief in meine Lungen und fühlte mich gleich besser. Fast augenblicklich verloren sich die unheilvollen Ereignisse der vergangenen Nacht, sie verschwanden im Nebel und hinterließen ein vages Gefühl der Bedrohung als Warnung. Auch den anderen war ihre Erleichterung deutlich anzusehen. Niemand wusste mehr genau, wovor er sich gefürchtet hatte.
Ich wollte von Timmon wissen, ob er auch etwas gespürt hatte.
„Ja, das habe ich.“ Er sah mich nachdenklich an. „Auch wir Magier sind zumindest auf dieser Seite des Blinden Flecks nicht immun, auch wir müssen uns unseren Ängsten stellen. Sie begegnen uns nur realer. Wenn wir stark sind, können wir uns ihnen entgegenstellen. Wie es scheint, ist uns das allen gelungen.“
Ich fragte mich, was meine größte Angst war. Keiran zu verlieren? Ihn zu verraten? Aufzugeben? Niemals würde ich das tun!