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Wurzeln der Psychomotorik – Gymnastik, Rhythmik, Sinnes- und Bewegungsschulung
Psychomotorik hat sich historisch betrachtet aus zahlreichen Wurzeln entwickelt. Dieses Kapitel veranschaulicht zusammenfassend die Ursprünge der Psychomotorik in Deutschland. In anderen Ländern gibt es auch psychomotorische Konzeptionen, jedoch haben diese anderweitige Wurzeln, auch wenn Überschneidungen vorhanden sind. Die Bearbeitung historischer Quellen verdeutlicht zum einen die geschichtliche Entwicklung des Förderkonzeptes. Andererseits können damit ggf. zukünftige Ausdifferenzierungen der Psychomotorik in verschiedenen Konzepten besser eingeschätzt werden (Seewald 2002).
Die Idee bzw. das Gedankengut, welches sich hinter dem Begriff Psychomotorik verbirgt, hat in Deutschland eine lange Tradition (seit 1955) und ist sehr facettenreich. Helmut Hünnekens und Ernst J. Kiphard waren die Ersten in Deutschland, die versucht haben, eine spezielle Methode der Erziehung durch Bewegung zu entwickeln. Sie haben diese Methode in dem Buch „Bewegung heilt“ (1960) vorgestellt. Damals galt das Motto „Erziehung zur Bewegung“, was den Fokus der „Heilung“ der Bewegung hervorhob. Im weiteren Verlauf wandelte sich dies zur „Erziehung durch Bewegung“; hier wird Bewegung eher als Mittel gesehen, welches für Erziehungsprozesse genutzt werden kann. Ernst „Jonny“ Kiphard (1923–2010) gilt bis heute als „Gründervater“ der Psychomotorik in Deutschland, und seine Ausführungen, Gedanken und sein Tun werden als „Meisterlehre“ bezeichnet (Seewald 2002).
Befasst man sich näher mit der Entstehungsgeschichte der Psychomotorik, so wird deutlich, dass Kiphard umfangreich recherchiert und letztlich viele Überlegungen aus vorhandenen Literaturquellen übernommen bzw. aufgegriffen hat.
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Merksatz
Das erste Konzept war inhaltlich im Grunde nichts Neues, jedoch war das Zusammenfügen der verschiedenen wertvollen Elemente aus vorhandenen Quellen neu und besonders. So nutzten Hünnekens und Kiphard vor allem Elemente aus den Bereichen:
• Leibeserziehung und Gymnastik,
• Rhythmik sowie
• der Sinnes- und Bewegungsschulung
(Hölter 1993; Irmischer 1989; Seewald 2002).
Im Folgenden werden aus den genannten Bereichen ausgewählte Personen und ihre Einflüsse vorgestellt, die als Grundlagen bzw. Wurzeln psychomotorischer Entwicklungsförderung anzusehen sind.
Leibeserziehung und Gymnastik
Gymnastik kann als eine Form der Leibeserziehung angesehen werden, welche die Schulung der Bewegung durch Entwicklung, Steigerung und Erhaltung der Kräfte des Körpers zur Aufgabe hat. Einzeln oder in Gruppen werden grundlegende körperliche Eigenschaften (z. B. Kraft, Beweglichkeit, Lockerheit) und allgemeine koordinierte Bewegungsformen durch Gehen, Laufen, Hüpfen, Federn, Springen und Schwingen in harmonisch gestalteten Bewegungsabläufen entwickelt. Im Mittelpunkt stehen dabei die Funktionalität des Körpers, der Ausdruck des Seelischen sowie die anatomische Betrachtung des Körpers.
Als Vertreter werden insbesondere Delsarte, Mensendieck, Gindler sowie Gaulhofer genannt (Irmischer 1989; Seewald 2002).
François Delsarte (1811–1871) war ein französischer Schauspielpädagoge, Sprecherzieher, Musiker, Sänger, Komponist und Bewegungspädagoge. Nach einem Studium zur Gesangsausbildung war er vorwiegend an der Bühne (Oper und Theater) tätig. Da ihn insbesondere die Verbindung zwischen Musik, Bewegung und → Emotion beschäftigte, und dies zu seiner Zeit entgegen der eher unnatürlichen Bühnenkunst stand, wird ihm eine Wiederentdeckung der Beziehung zwischen körperlicher und seelischer Bewegung zugeschrieben. Er stellte zu seiner Zeit neue Schönheitsgesetze der Bewegung auf und trat für einfache und natürliche gymnastische Bewegungsformen und körperliche Ausdrucksbewegungen 15sowie für entsprechende legere Kleidung ein. Bühnentanz und Ausdruckstanz wurden maßgeblich durch ihn beeinflusst.
Bess Mensendieck (1864–1958) gilt als Wegbereiterin der Krankengymnastik und legte ihren Schwerpunkt auf Veränderungen der Frauengymnastik. Die amerikanische Ärztin beschäftigte sich mit Form- und Haltungsproblemen und entwickelte die Mensendieck-Gymnastik, deren Grundlage die Analyse der menschlichen Bewegung sowie die Verknüpfung mit der Körperarbeit ist. Ihre Schüler sollten ihren eigenen Körper detailliert kennenlernen und dies in viererlei Hinsicht: architektonisch (Skelettkenntnis), anatomisch (Muskel- und Gelenkkenntnis), physiologisch (Muskelfunktionen) und mathematisch (Gesetze, nach denen Bewegungen entstehen) (Seewald 2002). Für Mensendieck war zudem das Erkennen der Schönheit in den Bewegungen wichtig, und sie lehrte, wie Frauen notwendige Aufgaben im Haushalt entspannter und mit einem Minimum an Anstrengung verrichten können. Seewald betont die dreifache Relevanz der Arbeiten von Mensendieck für die Psychomotorik: „Die Bedeutung des Körpers mit seiner impliziten Normativität (a), den Bezug zur normalen alltäglichen und gesunden Lebensführung (b) sowie die geschlechtsspezifische Ausrichtung (c)“ (2002, 30).
Elsa Gindler (1885–1961) gilt als Wegbereiterin der konzentrativen Bewegungstherapie (eine körperorientierte, psychotherapeutische Methode, die Wahrnehmung und Bewegung als Grundlage von Erfahrung und Handeln nutzt). Sie entwickelte ein eigenständiges Gymnastiksystem, das heute noch in den USA, in Israel und in einigen europäischen Ländern Einfluss im Rahmen der Gymnastiklehre hat. Zudem entwickelte Gindler eine ästhetische künstlerische und allgemeine pädagogische Erziehung (Ludwig 2002). Für sie waren Atmung, Entspannung und Spannung wichtige Mittel ihrer Arbeit (Seewald 2002). Dabei stand das Empfinden des eigenen Körpers als hohes Ziel im Mittelpunkt: Die Schüler sollten sich über jeden Muskel und auch die kleinste Veränderung im Körperverhalten bewusst werden; zudem wurden die Gefühle und Gedanken, die durch Bewegung bewusst wurden, reflektiert (Ludwig 2002). Gindler arbeitete eng mit dem Musikpädagogen Heinrich Jacoby (1889–1964) zusammen, der unter anderem über die Bedeutung von Verhalten für Wahrnehmungsvorgänge forschte. Seewald sieht einen Bezug zur Psychomotorik „im weiteren Sinne im Zugang zu einem ganzen Spektrum prozesshafter Körper- und Bewegungsarbeit“ sowie in der Betonung der → Leiblichkeit (2002, 31).
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Karl Luitpold Gaulhofer (1885–1941) studierte Naturgeschichte, Mathematik und Turnen. Er arbeitete u.a. als Referent für körperliche Ertüchtigung im österreichischen Unterrichtsministerium. Gaulhofer wurde in seiner Arbeit von Bess Mensendieck und dem ungarischen Tänzer, Choreografen und Tanztheoretiker Rudolf von Laban (1879–1958) beeinflusst und entwickelte das „natürliche Turnen“, welches das damalige Schulturnen ablöste. Das „natürliche Turnen“ wandte sich gegen das als unnatürlich empfundene Ordnungs-, Haltungs- und Freiübungsturnen der Kaiserzeit. „Natürlich” bezog sich dabei zum einen auf die Forderung nach mehr Leibeserziehung in der freien Natur und zum anderen auf ein neues Bewegungsprinzip, verbunden mit einer veränderten methodischen Sichtweise: Die natürliche Bewegung betonte den flüssigen, ganzheitlichen Ablauf aus einem einheitlichen Impuls heraus, gemäß den Bewegungsgesetzen des menschlichen Körpers. Dem natürlichen Turnen ist die erstmalige Ausprägung eines spezifischen Schulturnens für Grundschulkinder zu verdanken, das sich an den physiologischen und psychologischen Bedürfnissen des Kindes orientiert. Natürlichkeit und Kindgemäßheit waren wichtige Prämissen der körperlichen Erziehung, in der das Kind und nicht die Inhalte die Arbeit bestimmen sollte (Hammer 2004). Gaulhofer arbeitete eng mit der österreichischen Turnpädagogin Margarete Streicher (1891–1985) zusammen und verfasste mit ihr das Buch „Grundzüge des österreichischen Schulturnens“.
Rhythmik
Einen wichtigen Einfluss auf die Psychomotorik in Deutschland hat die → Rhythmikbewegung – d.h. Vertreter, die sich mit der → Rhythmik wissenschaftlich und praktisch auseinandersetzen – genommen. Insbesondere in den frühen Arbeiten von Kiphard wurde der → Rhythmik bzw. der rhythmischen Erziehung eine fundamentale erzieherische Bedeutung beigemessen (Seewald 2002; Hünnekens / Kiphard 1960). Als Bezugsquellen sind vor allem Jaques-Dalcroze, Bode, Medau, Feudel, Scheiblauer, Pfeffer und Frostig zu nennen.
Emile Jaques-Dalcroze (1865–1950) entwickelte nach und nach die rhythmische Gymnastik (Rhythmik-Lehre) und strebte als Erster eine künstlerische Gymnastik an. Er studierte Komposition, Musik und Schauspiel und hatte eine Professur am Genfer Konversatorium, 17ehe er in Hellerau bei Dresden eine Schule leitete. Der österreichische Musikpädagoge vertrat die Ansicht, dass der Körper der Musik und dem → Rhythmus untergeordnet werden sollte. Demnach dienen Körper und Bewegung der Darstellung und Verkörperung der Musik und haben ihr zu gehorchen. Seine Devise war: nicht zum → Rhythmus erziehen, sondern den → Rhythmus selbst zum Erzieher werden lassen (Irmischer 1989; Seewald 2002). Durch die Körper-Rhythmik sollten Gestalt und Wesen der Musik erlebt und dadurch gleichzeitig alle seelisch-schöpferischen Kräfte gelöst und gesteigert werden. Nach Seewald „hat der ‚Geist von Hellerau‘ eine große Wirkung entfaltet, die sich auch auf die Psychomotorik ausgewirkt hat“ (2002, 27).
Rudolf Bode (1881–1970) gilt als Schöpfer und Vater der rhythmischtänzerischen → Ausdrucksgymnastik. Im Gegensatz zu Jaques-Dalcroze sah Bode → Rhythmus als „Urphänomen des Lebens“ an, also nicht vom Menschen gemacht, sondern dem Menschen innewohnend (Seewald 2002). Ein Wechsel von Anspannung und Entspannung stellte für Bode ein wesentliches rhythmisches Prinzip dar. Sein Ziel war es, „Körper und Bewegung von der Vorherrschaft des Willensaktes“ zu befreien (Seewald 2002, 28). Er wollte eine Körperschulung, welche den ursprünglichen Fluss der Bewegung mit Hilfe der Musik wieder herstellt (Ludwig 2002). Bereits 1911 gründete Bode die Bode-Schule für Rhythmische Gymnastik in München, welche heute die älteste Lehranstalt dieser Art in Deutschland ist.
Hinrich Medau (1890–1974), Musiker und Lehrer, lehnte sich an Jaques-Dalcroze und Bode an und schuf unter Hinzunahme von Handgeräten (z.B. Bälle, Seile oder Klang- und Rhythmusinstrumente) die heutige Form der deutschen Gymnastik. Für ihn waren eine organisch fließende Bewegung, die den gesamten Körper erfasst, sowie Schwingungen und Federungen in rhythmischem Wechsel von Anspannung und Entspannung bedeutend. Eine improvisierte rhythmische Bewegungsbegleitung am Klavier ist dabei unterstützend für die Bewegungsausführungen. Seine Gymnastikmethode ist zwischen Leistungssport und Ballett angesiedelt. Er gründete 1929 in Berlin eine Schule für Gymnastik, die seit den 1950er Jahren in Coburg fortbesteht und international bekannt ist. Medau „darf für sich in Anspruch nehmen, sich auf diesem Gebiet der musischen Bewegungsgestaltung der deutschen Gymnastik Weltruhm verschafft zu haben, denn seine Erkenntnisse sind heute Gemeingut vieler Leibeserzieher“ (Ludwig 2002).
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Elfriede Feudel (1881–1966) war deutsche Volksschullehrerin, studierte Musik und war Schülerin von Jaques-Dalcroze. Sie war vor allem in der Ausbildung von Rhythmiklehrerinnen aktiv und hatte eine Professur an der Hochschule für Musik in Leipzig inne. Für sie war Bewegungserziehung eine zentrale Aufgabe, wobei alle Erlebnis- und Ausdrucksmöglichkeiten einbezogen werden konnten. Musik sollte dabei als Element der Erziehung dienen. Feudel sah in den Dimensionen Zeit, Raum, Form und Kraft die Grundelemente der Bewegung (Seewald 2002). Sie legte Wert auf die Schulung der Sinnesorgane und der Muskelsinne (= Tastsinn, der eine Empfindung von Bewegungen oder Druck durch Bewegung und Anspannung einzelner Muskeln ermöglicht) und sah sie als grundlegende Elemente von Bewegungstherapie. Ihr Ziel der Erziehung war es, die dem Menschen innewohnenden Fähigkeiten zum Entdecken, Erleben, Entscheiden, Urteilen und Finden der eigenen Persönlichkeit zu wecken.
Charlotte Pfeffer (1881–1970) war eine der ersten deutschen Schülerinnen von Jaques-Dalcroze und studierte Musik und Gesang. Pfeffer unterrichtete als Rhythmiklehrerin Kinderklassen, arbeitete in psychiatrischen Kliniken, war in der Aus- und Fortbildung tätig und bekam schließlich eine Professur für Rhythmische Erziehung in Rom. Sie versuchte, die Zusammenhänge von → Motorik, geistigen Fähigkeiten und → psychischen Vorgängen zu verschriftlichen. Ihren Erziehungsansatz stellte sie unabhängig von musikbezogenen Zielsetzungen dar. Die Begriffe „Psychomotorik“, „psychomotorische Erziehung“ und „psychomotorische Heilerziehung“ traten bei ihr zum ersten Mal im deutschsprachigen Raum auf (Pfeffer 1941). Sie selbst war durch erste psychomotorische Ansätze in Frankreich und Italien inspiriert, die dort bereits in den 1930er Jahren etabliert waren.
Pfeffer orientierte sich an der natürlichen Bewegung des Menschen. Sie kritisierte, dass der Mensch durch Einflüsse der Erziehung (halt dich ruhig), der Eitelkeit (sei graziös), der berufsmäßigen Gewöhnung (eiserne Ruhe der Diplomaten) seiner Ursprünglichkeit beraubt wird und zu einem Schema erstarrt (Pfeffer 1941; Irmischer 1989, 14). Nach Ansicht von Pfeffer wurde dieser Prozess auch durch die institutionalisierte Bewegungserziehung unterstützt und somit der individuelle Bewegungsstil untergraben und durch Schemata oder künstlerische Ziele verändert. Ihre Absicht war es, mittels Musik und vielerlei Materialien (z. B. Reifen, Seile) sowie eines kreativen Umgangs mit diesen, eine ungestörte Bewegungsentwicklung zu ermöglichen. Das Arbeiten und 19der Umgang mit Alltagsmaterialien waren ihr sehr wichtig, da dies die Kreativität fördert und auch Lernprozesse anregt (Irmischer 1989). Die Kinder sollten zur Eigentätigkeit aufgefordert werden. Pfeffer verfolgte das Ziel, die natürlichen Bewegungsweisen zu unterstützen, ohne direkt einzugreifen. Nach Irmischer hatte Pfeffer einen sehr großen Einfluss auf die Psychomotorik in Deutschland. „Nicht nur mit der Einführung der Begriffe … prägte sie die Psychomotorik in Deutschland, ihre Methodik des Beobachtens der natürlichen Bewegungsweisen der Kinder und des Unterstützens dieser Verhaltensweisen, ohne direkt einzugreifen, ihr ganzheitlicher Zugang, lassen Elemente erkennen, die sich aus unseren gegenwärtigen Arbeitsansätzen nicht mehr fort denken lassen“ (Irmischer 1989, 15).
Mimi Scheiblauer (1891–1968), eine Schülerin von Jaques-Dalcroze, arbeitete als Lehrerin für Klavier und → Rhythmik viel mit Kindern mit Behinderungen (Irmischer 1989). Die Schweizerin entwickelte die so genannte Scheiblauer-Rhythmik bzw. orthagogische → Rhythmik als eigene Methode zur Förderung von Kindern mit Behinderungen. Die Wortkonstruktion „Orthagogik“ verweist darauf, dass → Rhythmik eine individuell „richtige“ und angepasste Methode der Erziehung ist. Die Förderung war grundsätzlich für die Arbeit in Gruppen mit acht- bis zehnjährigen Kindern gedacht. In ihrer → Rhythmik, die sie selbst „heilpädagogische Rhythmik“ nannte, entwickelte sie ein Grundprinzip einer elementaren entwicklungsstimmigen Bildungsfähigkeit für Menschen mit und ohne Behinderung, frei von Schablone und Prinzipienreiterei (Neikes 1969). Sie legte Wert auf die Erarbeitung einer persönlichen Arbeitsweise, welche im ständigen Umgang und in Wechselbeziehung mit dem Kind erfolgt. In einer praktischen Übungsstunde ging es zunächst um Anschauung und das Eigenerlebnis. Während der Übungen gehen neue Anregungen vom Kinde aus, die aufgegriffen und angenommen wurden, wenn man kindnah arbeitete. Dies ermöglichte aus ihrer Sicht auch eine ständige, kindnahe Selbsterziehung des Erziehers. Für ihre Arbeit entwickelte Scheiblauer insgesamt zwölf Leitsätze, die ihre Werte bezüglich der Arbeit mit dem Kind verdeutlichen (Neikes 1969). Für Scheiblauer waren besonders die eigene Reflexion und die Achtung des Kindes entscheidend. Die wichtigste Aufgabe stellte für sie das Führen des Kindes zur Freiheit, zum inneren Freisein und zum Selbstwertgefühl dar. Das Kontaktmittel zum Kind bildete dabei das von ihr selbst entwickelte Übungs- bzw. Rhythmikmaterial, welches die kindliche Fantasie anregen sollte (z.B. Holzreifen, Rasselbüchsen, Schlaghölzer, Seile, 20Rahmentrommel). Für Scheiblauer war die Bewegung das Primäre, und sie unterschied drei wichtige Bewegungsgrundprinzipien: das Unterbrechen, das Umschalten und das Durchhalten.
Weiterhin entwickelte sie acht verschiedene Übungsarten, die sich dann auch bei Kiphard und Hünnekens wiederfanden:
1. Übungen zur Ordnung,
2. Übungen im freien und beschränkten Raum (Neikes 1969, 47 ff.),
3. Übungen zur Koordination und Synergetik (das Zusammenwirken von Elementen, die innerhalb eines komplexen dynamischen Systems miteinander in Wechselwirkung treten) (Neikes 1969, 55 ff.),
4. Übungen des Unterbrechens, Umschaltens und Durchhaltens (Neikes 1969, 59 ff.),
5. Übungen zum Durchhalten, zu Ausdauer, Sorgfalt und Behutsamkeit (Neikes 1969, 65 ff.),
6. Übungen zur Fantasiebildung und -bereicherung (Neikes 1969, 79 ff.),
7. Übungen zur Bildung sozialer Fähigkeiten – Ein-Ordnen, Über- / Unter-Ordnen (Neikes 1969, 83 ff.) und
8. Übungen zur Begriffsbildung.
Marianne Frostig (1906–1985), eine geborene Österreicherin, die einen Großteil ihres Lebens in den USA verbrachte, hat sowohl im Bereich der → Rhythmik als auch im Bereich der Sinnes- und Bewegungsschulung eine große Bedeutung. Als Lehrerin für → Rhythmik und Bewegungserziehung arbeitete sie mit → psychisch kranken Menschen und mit Regelschülern, ehe sie in Psychologie promovierte und eine Professur an der University of Southern California inne hatte. Sie befasste sich insbesondere mit Lernstörungen und sah eine enge Verbindung bzw. Wechselbeziehung zwischen Lernfähigkeit und Wahrnehmungsfähigkeit. Frostig entwickelte diagnostische Verfahren zur Feststellung von Wahrnehmungs- und/oder Bewegungsbeeinträchtigungen (z. B. Frostigs Entwicklungstest der visuellen Wahrnehmung FEW oder Frostigs Test der → motorischen Entwicklung FTM). Außerdem konzipierte sie Programme zur Förderung von Bewegung und Wahrnehmung (1974, 1975), mit denen die Lernfähigkeit positiv beeinflusst werden konnte. Sie verfolgte durchweg den Gedanken, dass Lernstörungen in Wahrnehmungsstörungen begründet liegen, d.h. dass ein direkter ursächlicher Zusammenhang besteht. Auch wenn heutzutage nicht alle ihre Vorstellungen wissenschaftlich nachweisbar sind, so galt sie als Wegbereiterin 21für die weitere Forschung auf diesem Gebiet. Marianne Frostig war sowohl in den USA als auch in Deutschland erfolgreich, und noch heute gibt es ein Frostig Center in Pasadena (Kalifornien) und eine Frostig-Gesellschaft in Würzburg (Bayern) (Kiphard 1989).
Sinnes- und Bewegungsschulung
Als Vertreter der Sinnes- und Bewegungsschulung werden insbesondere Itard, Seguin, Montessori, Lesemann, Bartsch und Löwnau hervorgehoben. Alle waren im → heilpädagogischen Feld tätig bzw. haben mit heutiger heil- und sonderpädagogischer → Klientel gearbeitet.
Jean Marc Gaspard Itard (1774–1838) studierte Medizin und war Chefarzt des kaiserlichen Taubstummeninternats in Paris. Der Franzose wurde vor allem durch die Erziehung des → Wolfskindes Victor von Averyon bekannt und gilt als Begründer der → Heilpädagogik. Für ihn stand die Förderung der Sinne im Mittelpunkt (Irmischer 1989). Er entwickelte ein System der Sinnesschulung, welches die Grundlage für weitere Erziehung sein sollte. Weitere wichtige → Entwicklungsbereiche waren für ihn der Intellekt und die → affektiven Fähigkeiten (Thesing 2001). Itard entwickelte das Förderprinzip der „Stimulation isolierter Sinne“ (d.h. die Förderung bzw. Anregung einzelner Sinne anstelle einer gleichzeitigen Anregung mehrerer Sinne). Dass der Mensch zu seiner Entwicklung der Erziehung bedarf und nicht jeder „Defekt“ angeboren ist, wollte Itard beweisen und stellte sich somit gegen eine zu dieser Zeit vorherrschende medizinisch-psychiatrische Sichtweise von Behinderung (Eggert et al. 2007). Die Debatte, ob Entwicklungsbeeinträchtigungen „angeboren“ und damit stabil oder ob sie „umweltbedingt“ und damit veränderbar sind, besteht zum Teil noch heute. Von Kiphard wurde einerseits der Gedanke der Entwicklungsförderung durch Erziehung und andererseits speziell der Einbezug der Sinne für die psychomotorische Förderung übernommen.
Edouard Seguin (1812–1880) war ein französischer Pädagoge und Mediziner. Als Schüler von Itard griff er dessen Methoden auf und ergänzte bzw. verfeinerte diese. Seguin wies auf die Bedeutung einer differenzierten Sinnes- und Bewegungserziehung als Grundlage der individuellen Entwicklung hin. Als Voraussetzung für eine gezielte Förderung verlangte er die Analyse psychologischer und physiologischer 22Voraussetzungen der Patienten und wurde damit zu einem Wegbereiter der Diagnostik. Er entwickelte abgestufte Übungen zur Entwicklung der → Motorik und trainierte die Sinneswahrnehmungen. Hierzu erfand er eigene Materialien, z. B. Formenbretter und die Balancierschaukel. Seguin sah in Itard den Begründer seines Konzeptes der „Physiologischen Erziehung“ (Irmischer 1989). Dieses differenzierte Konzept einer Persönlichkeitsbildung umfasste fünf Bereiche:
1. Persönlichkeitsaspekt,
• Sinnlichkeit
• Geist
• Moral
2. Lebensäußerungen,
• sinnliche Dimension äußert sich in Aktivität (Psychomotorik)
• geistige Dimension äußert sich in der Intelligenz
• moralische Dimension äußert sich im Willen
3. Ausdrucksformen der Lebensäußerungen,
• Aktivität zeigt sich in → Motilität und
• Aktivität zeigt sich in → Sensibilität
4. Erziehungsbereiche,
• Motilität bezieht sich auf Muskelerziehung
• Sensibilität bezieht sich auf die Erziehung der Sinne
• Intelligenz zieht eine Erziehung des Intellekts nach sich
• Persönlichkeitserziehung ist eine Folge des Willens
5. Erziehungsziele,
• Muskelerziehung und Erziehung der Sinne zielt auf ein Erfassen der realen Welt ab
• Erziehung des Intellekts hat das Erfassen der abstrakten Welt als Ziel
• Selbstentfaltung und Vergesellschaftung ist die Folge der Persönlichkeitserziehung
Mit der Begründung der „Physiologischen Erziehung“ nach Seguin wurden wesentliche Voraussetzungen geschaffen, welche in der Psychomotorik auch heute wiederzufinden sind (Irmischer 1989).
Maria Montessori (1870–1952), die Naturwissenschaften und Medizin studierte, arbeitete in einer psychiatrischen Klinik und übernahm später die Leitung eines Kinderhauses, in welchem sie mit behinderten und nicht behinderten Kindern arbeitete. Sie entwickelte eine eigene 23Methode zur Unterrichtung von Kindern mit Behinderung, welche sie später auf Kinder ohne Behinderung übertrug. Die Italienerin stellte die Erziehung der Sinne und der Bewegung in den Vordergrund. Aus ihrer Sicht ist die Erfahrung und nicht das Gedächtnis für die Erziehung entscheidend. Montessori übernahm Sinnesmaterial von Seguin und entwickelte es weiter (Irmischer 1989). Das systematisch aufgebaute Arbeits- und Trainingsmaterial sollte dazu dienen, dass ein Kind eigenständig mit ihm hantieren kann und dass es seine Leistungen selbst überprüfen kann. Montessori legte viel Wert auf Selbsttätigkeit und Selbstlernen. „Ihre Vorstellung war, dass Kinder selbst genügend Kraft und Interesse besitzen, sich mit ihrer Welt konstruktiv auseinanderzusetzen und selbstständig und selbsttätig zu lernen, ohne die leitende und eingreifende Hand des Erwachsenen zu benötigen“ (Thesing 2001, 149). Montessori lehnte das kindliche (spontane) Spiel als unnütze Tätigkeit ab. Sie ging davon aus, dass ein Kind sich ohne Hilfe Erwachsener genügend konzentrieren und zu Lernerfolgen kommen kann, wenn es sich für einen Gegenstand, eine Sache, interessiert. Der Pädagoge sollte in ihrem Verständnis Assistent, Beobachter und Helfer des Kindes sein. Nach Montessori vollzieht sich die Reifung des Menschen nach bestimmten Reifegesetzen, und die Entwicklung erfolgt nach so genannten „sensiblen Perioden“, in denen es bestimmte Fähigkeiten besonders gut erlernt. Für jede dieser Stufen braucht das Kind eine spezifisch vorbereitete Umgebung, um seine Fähigkeiten entwickeln zu können (Thesing 2001). Für die Entwicklung der psychomotorischen Förderung waren insbesondere Montessoris Ideen des Sammelns von Sinnes- und Bewegungserfahrungen über Materialien und Personen sehr bedeutend. Außerdem wurde der Gedanke der „Selbsttätigkeit“ für eine psychomotorische Förderung mit aufgegriffen, d.h., dass Menschen eigeninitiativ handeln, tätig sind und darüber lernen können.
Karl Bartsch (19./20. Jh.) entwickelte die sogenannten „geistig-orthopädischen Übungen“ (1927). Er vermutete, dass sogenannte Störungen der → psychischen Funktionen (z.B. Aufmerksamkeit, Merkfähigkeit, Kombinationsfähigkeit) die Ursache dafür darstellen, dass Schüler versagen und nicht erfolgreich am Unterricht teilnehmen können. Bartsch übernahm Ideen von Montessori, so z. B. das Prinzip der Selbstständigkeit und Selbsttätigkeit. Er wollte, im Gegensatz zu Montessori, dem Kind genügend Raum für kindliche Fantasie und das Ausleben im Spiel geben (Irmischer 1989). Bartsch zeigte in seinem Buch „Geistig orthopädische Übungen“ viele praktische Anwendungen, welche er nach 24seinem Material gliedert, und nützliche Tipps für deren Umsetzung. Er betonte, dass der Lehrer sich auf die Kinder einstellen soll, auch wenn seine Übungen sehr funktional sind und einem strengen Ordnungsrahmen unterliegen (Irmischer 1989). Sein Ziel war es, durch systematische Behandlung der vorliegenden Störungen mittels Übungen, einen Ausgleich zu schaffen. Dazu entwickelte er Hauptübungen, Ergänzungsübungen und Abschlussübungen, die während eines Schuljahres stets wiederholt wurden. Inhalte der Übungen sind z. B. räumliche Begriffe / Präpositionen (z. B. oben, unten, darunter, durch, …), Zahlenverständnis, Aufmerksamkeitsförderung, Tastempfinden, Gehörschulung, visuelle Wahrnehmung, Gedächtnistraining, Beobachtungsschulung und Lesenlernen (Bartsch 1927). Zu allen Bereichen hat er ein umfangreiches Praxis-Repertoire zusammengestellt, welches Kiphard in seine Überlegungen einbezog.
Gustav Lesemann (19./20. Jh.) erarbeitete 1925 entwicklungsorientierte Hilfen in seinem Buch „Lebendige Krücken“. Diese Übungen waren kindgemäßer und individueller im Vergleich zu denen von Bartsch. Er betonte, dass die Übungen abwechslungsreich und motivierend vermittelt werden sollten (Irmischer 1989). Bereits damals wies Lesemann darauf hin, dass Schüler mit → motorischen Schwächen oft nicht die Voraussetzungen mitbringen, um die Kulturtechniken wie Lesen, Schreiben und Rechnen zu erlernen. Er sah es als erwiesen an, dass die → motorischen Schwächen von beeinträchtigten Kindern ihre Entwicklung insgesamt behindern, und er forderte daher eine intensive Förderung mit dem Ziel einer ganzheitlichen Erziehung (Irmischer 1989). Das Wort „lebendig“ im Titel seines Buches steht für → Individualisierung anstelle → Generalisierung. Zum Verständnis: unter „toten Krücken“ fallen alle allgemein gültigen Maßnahmen, die unabhängig von einer Person sind (z.B. ein Stock als Gehhilfe). Hingegen meint „lebendige Krücken“ eine individuelle Abstimmung der Hilfen auf eine Person (z.B. durch gezielte, individuelle Bewegungsübungen). Störungen der Koordination konnten für Lesemann → sensorisch, → motorisch oder intrapsychisch bedingt sein, wobei dann Körper und Seele nicht in gewohnter Weise zusammenwirken. Seine zahlreichen geistig-orthopädischen Übungen beziehen sich auf → Motorik, Gedächtnis, Aufmerksamkeit und → Emotion (Lesemann 1963). „Die vielen praktischen Beispiele und Übungen, die Lesemann vorstellt, nehmen zahlreiche Ideen voraus, die Kiphard in seinen späteren Werken veröffentlichte“ (Irmischer 1989, 12).
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Heinz Löwnau (20. Jh.) brachte den speziellen Aspekt der Verhaltensbeeinflussung im Rahmen einer Bewegungserziehung ein (1961). Er war Kinder- und Jugendpsychiater und beobachtete, dass sich gehemmte, ängstliche, unruhige, triebhafte Kinder nicht in Spiele einordnen können, dass sie schnell frustriert sind und sich → motorisch abreagieren. Aufgrund dessen erachtete er sportliche und musische Erziehungsformen als besonders günstig: „über die → Motorik werden zugleich seelische Bereiche angesprochen und → emotionale Gestimmtheiten hervorgerufen, welche das Kind in besonderem Maße beeinflußbar machen“ (Löwnau zit. nach Irmischer 1989, 16). Er verfolgte die Annahme, dass Kinder mit o.g. Verhaltensstörungen im Rahmen einer Bewegungserziehung Einsichtsvermögen und Willensbereitschaft zeigen können, da diese indirekt abverlangt werden. Für Löwnau bietet „Leibeserziehung als heilpädagogische Maßnahme“ folgende Möglichkeiten (Irmischer 1989):
• Entladungsmöglichkeiten für → affektive Spannungen,
• Ausdrucksmöglichkeiten für das Lebensgefühl,
• Steigerung der Erlebnisbereitschaft,
• Förderung von Initiative und Kontaktfähigkeit,
• Zunahme von Umweltoffenheit.
Nach Irmischer kann es als Löwnaus Leistung angesehen werden, „die Bewegungserziehung beeinträchtigter Kinder um den therapeutischen Zugang bereichert zu haben“ (1989, 16), was wiederum Kiphard in seinen späteren Ausführungen aufgegriffen hat.
Merksatz
Der Verdienst Kiphard’s ist es, die vielfältigen Ursprünge der Psychomotorik und die unterschiedlichen Anregungen zusammengeführt, integriert und neu systematisiert zu haben.
Tab. 1 zeigt die Ursprünge bzw. bedeutende Vertreter der Ursprünge psychomotorischer Förderung im Überblick. Die Gedanken dieser ausgewählten Vertreter finden sich in den heute vorliegenden Konzepten psychomotorischer Förderung (Kap. 4) wieder und werden dort entweder direkt oder indirekt herangezogen. Kiphard als Vater der deutschen Psychomotorik hat sich ausdrücklich auf diese Vertreter bezogen und ihren Wert für die Psychomotorik hervorgehoben, in dem er das Gedankengut aus der Leibeserziehung / Gymnastik, der → Rhythmik sowie der Sinnes- und Bewegungsschulung in sein Konzept integriert hat.
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Tab. 1: Wurzeln der Psychomotorik
Wurzeln aus der Psychomotorik | ||
---|---|---|
Leibeserziehung / Gymnastik | Rhythmik | Sinnes- und Bewegungsschulung |
Delsarte | Dalcroze | Itard |
(1811–1871) | (1865–1950) | (1774–1838) |
Wiederentdeckung der Beziehung zwischen körperlichen und seelischen Bewegungen | Entwicklung der „rhythmischen Gymnastik“, Schule von Hellerau | Bedeutung der Sinnes- und Bewegungserziehung, Wolfskind von Averyon |
Mensendieck | Bode | Seguin |
(1864–1958) | (1881–1970) | (1812–1880) |
Wegbereiterin der Krankengymnastik, „Mensendieckgymnastik“ | Schöpfer der „Aus drucks-Gymnastik“, Vater der „rhythmischen Gymnastik“ | Wegbereiter der Diagnostik, Konzept der „Physiologischen Erziehung“ |
Gindler | Medau | Montessori |
(1885–1961) | (1890–1974) | (1870–1952) |
Wegbereiterin der „konzentrativen Bewegungstherapie“ | schuf heutige Form der deutschen Gymnastik | Sinnes- und Bewegungsschulung |
Gaulhofer | Feudel | Bartsch |
(1884–1941) | (1881–1966) | (19./20. Jh.) |
„Natürliches Turnen“ | Bedeutung der Musik als Element der Erziehung, Schulung der Sinnesorgane | „Geistig – orthopädische Übungen“ |
Pfeffer | Lesemann | |
(1881–1970) | (19./20. Jh.–1973) | |
„Psychomotorische Erziehung“ | „Entwicklungsorientierte Hilfen“ | |
Scheiblauer | Löwnau | |
(1891–1968) | (20. Jh.) | |
„Heilpädagogische Rhythmik“ | Therapeutischer Zugang: „Leibeserziehung als heilpädagogische Maßnahme“ | |
Frostig | ||
(1906–1985) | ||
Betonung der Wechselwirkung zwischen Lern- und Wahrnehmungsfähigkeit |
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Literatur
Irmischer, T. (1989): Ursprünge.
Seewald, J. (2002): Psychomotorische Vorläufer in der Geschichte der Rhythmus-und Gymnastikbewegung.
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