Читать книгу Das Geheimnis des Gutsherrn - Christina Tempest - Страница 5
2. Dezember
ОглавлениеAls Cecilie am nächsten Morgen im Gasthof aufwachte, wusste sie genau, warum sie so etwas noch nie getan hatte, auch wenn es das erotischste und befriedigendste Erlebnis ihres Lebens gewesen war, mit dem fremden Mann zu schlafen. Es war nicht nur, weil sie schüchtern und zurückhaltend war, sondern vielmehr, weil sie einfach nicht verstehen konnte, wie jemand einem anderen Menschen so nah sein konnte, wie sie gerade dem Fremden gewesen war, und sich dann damit zufriedengeben konnte, einander nie wieder zu sehen. Ihre Neugier war geweckt. Sie wollte ihn wiedersehen, ihn kennen lernen. Auch wenn sie ganz genau wusste, dass das sicherlich nur die Magie brechen und vielleicht sogar die wunderbare Erinnerung zerstören würde. Cecilie genoss das Tageslicht, auch wenn es nicht direkt hereinfiel, aber immerhin von draußen zu erahnen war. Sie hatte keinen Wecker gestellt, sondern war tatsächlich sofort eingeschlafen, nachdem ihr Naturfotograf gegangen war. Aber das war nicht so riskant, denn ihr Meeting war erst um 11 Uhr. Sie streckte sich träge und bereitete sich mental darauf vor, ihre Füße auf den eiskalten Fußboden zu stellen und ins Badezimmer zu gehen, um ihr Handy zu holen. Es war erst halb neun. Noch viel Zeit. Natürlich hatte sie eine Nachricht von Karen bekommen: What?! Schon? Wer ist der Glückliche? Erzähl! Cecilie lachte. Endlich war sie diejenige, die etwas zu erzählen hatte! Sie schrieb zurück: Nur für eine Nacht. Erzähle alles, wenn wir uns sehen. Du hattest Recht. Brauchte ein bisschen action. ;-) Sie hatte kaum das Handy aus der Hand gelegt, als die Antwort kam: Wer bist du und was hast du mit meiner Freundin gemacht??? Lachend steckte sie das Handy in die Tasche und begann, sich fertig zu machen.
Cecilie nahm sich Zeit und frühstückte in Ruhe, aber sie war trotzdem noch früh dran, als sie durch den Empfangsraum ging. Sie hatte auf Google Maps nachgeschaut und die Fahrt zu dem Gut sollte nicht mehr als eine halbe Stunde dauern. Dort sollte sie einen Mann treffen, der finanzielle Unterstützung für das Projekt beantragt hatte, den europäischen Bison wieder auszuwildern. Es war ein sehr großes Projekt – und zum Glück eins, das wie für die Stiftung gemacht zu sein schien. Das wäre auch gut, denn Cecilie hatte strenge Anweisungen von ihrer Chefin bekommen, dass sie nach ein paar missglückten Projekten noch vor Weihnachten ein großes Projekt finden mussten, das sie fördern konnten, um alle Mittel zu verbrauchen, die ihre Abteilung sonst riskierte zu verlieren.
„Entschuldigung, Frau Lauridsen.“
„Ja?“
Sie war schon in der Tür und drehte sich überrascht um. Das Zimmer war schon bezahlt und es gab keine Minibar.
„Ich habe eine Mitteilung für Sie. Von Ihrem… Gast gestern Abend.“
Cecilie ging errötend zurück zur Rezeption und nahm mechanisch den Zettel entgegen, den ihr die Empfangsdame reichte.
„Danke“, murmelte sie und vermied Blickkontakt.
Erst draußen auf der Straße vor dem Gasthof faltete sie den Zettel auseinander.
Danke für ein wunderbares Erlebnis
Ich hoffe, deine Präsentation heute läuft gut. :-)
Herzliche Grüße
Dein Naturfotograf
Auf die Unterschrift folgte eine Telefonnummer. Cecilie konnte spüren, wir ihr Puls beim Anblick der acht Ziffern anstieg. Bedeutete das, er wollte sie wiedersehen? So musste es doch sein. Wenn das Projekt, das sie gleich begutachten sollte, nur halb so vielversprechend war wie die Bewerbung, dann gab es eine ganze Menge, was sie sich näher anschauen musste. Genug, um zu rechtfertigen, mehrere Tage in Astrup zu bleiben. Sie wollte sich gerade umdrehen, um das Zimmer noch für ein oder zwei weitere Nächte zu buchen, als ihr auffiel, wie das wohl für die Empfangsdame aussehen würde. Eigentlich sollte ihr das wohl egal sein, aber sie brachte es trotzdem nicht fertig. Die kleine Stadt wirkte ohnehin nicht besonders überrannt, also konnte das sicher warten. Aber dann schüttelte sie über sich selbst den Kopf. Sollte sie sich darin hineinsteigern, was irgendeine beliebige Empfangsdame dachte? Beinahe trotzig marschierte sie zurück und verlängerte ihre Buchung um eine Nacht. Aus einem plötzlichen Einfall heraus nahm sie die Bewerbung hervor und schaute die Telefonnummer des Bewerbers nach. Sie wusste, dass der bloße Gedanke völlig verrückt war, aber sie musste trotzdem sichergehen. Zum Glück war es nicht dieselbe Nummer wie auf dem Zettel, den sie gerade von der Empfangsdame bekommen hatte. Sie konnte in aller Ruhe zu ihrem Meeting fahren und später konnte sie eine SMS an den „Naturfotografen“ schicken und fragen, ob er Pläne für den Abend hatte. Aber zuerst musste sie zusehen, sich eine Packung Kondome zu kaufen.
Die Allee zum Gut Hvidfeldt glich den meisten anderen alten Alleen. Die windgeplagten Ahornbäume in zwei symmetrischen Reihen streckten ihre kahlen Trollfinger in alle Richtungen aus und hatten es dringend nötig, beschnitten zu werden. Am Ende, etwas höher gelegen, lag das eigentliche Gut ruhig und friedlich da. Ganz bestimmt denkmalgeschützt, das sah sie schon von Weitem. Während der Fahrt die Allee entlang tauchte hinter dem Wallgraben mehr und mehr von dem weißen Hauptgebäude auf. Cecilie spürte ihr Herz in der Brust anschwellen. Sie liebte die dänischen Gutshöfe einfach, und nicht minder die Natur, die sie umgaben. Sie hatte ihr Glück beinahe nicht fassen können, als sie vor drei Jahren den Job als Sachbearbeiterin in einer von Dänemarks größten Wohltätigkeitsstiftungen bekommen hatte. Die Stiftung unterstützte alle mögliche unterschiedlichen Projekte und Cecilies Abteilung arbeitete mit Renaturierung und anderen Umweltprojekten. Sechs Mal im Jahr gab es planmäßige Vorstandssitzungen, wo die verschiedenen Abteilungen Projekte vorstellten, die ihrer Beurteilung nach Förderung verdienten. Die nächste Vorstandssitzung war genau vor den Weihnachtsfeiertagen, am 22. Dezember, und es würde keinen guten Eindruck machen, wenn sie nicht ein einziges Umweltprojekt präsentieren konnten. Im Moment hatten sie niemand anderen im Auge als das Gut Hvidfeldt, also hoffte Cecilie inständig, dass die Kriterien, die sie hier kontrollieren sollte, erfüllt waren. Bisher sah es vielversprechend aus.
Als sie am Gut angekommen war, überlegte sie einen Augenblick, ob sie den ganzen Weg bis in den Hof hineinfahren oder draußen parken sollte. Sie wählte letzteres. Danach ging sie über die malerische Brücke über den Wallgraben und hinein in den Innenhof, eine Schotterfläche zwischen drei großen Gebäuden. Dort blieb sie stehen und sah sich um. Das Gut war wie ein normaler Hof mit zwei Flügeln geformt, allerdings waren alle Gebäude viel höher und hatten viel größere Fenster und mehr Verzierungen als ein gewöhnlicher Hof aus derselben Epoche. Das Hauptgebäude in der Mitte war das größte der drei Häuser. Aus den Unterlagen wusste sie, dass das Gut Hvidfeldt aus dem Jahr 1781 stammte und der jetzige Gutsbesitzer es vor vier Jahren von seinem Vater geerbt hatte. Sie wusste auch, dass es sehr an finanziellen Mitteln haperte, was für dänische Gutshöfe nicht ungewöhnlich war. Eine Bewegung in einem der Fenster eines Seitenflügels fing ihre Aufmerksamkeit und als sie hochschaute, entdeckte sie eine rothaarige Frau, die dastand und sie beobachtete, halb hinter der Gardine verborgen. Cecilie winkte vorsichtig, aber die Frau war schon weg.
„Hallo!“, rief ein Mann, der genau in dem Augenblick aus einem der Ställe kam.
„Sie kommen sicher von der Ægidius-Stiftung?”
„Genau. Hallo, Cecilie Pihl Lauridsen“, sagte Cecilie und streckte dem eifrigen Mann lächelnd ihre Hand entgegen.
„Was für ein fantastisches Gut Sie haben!“
„Oh“, sagte der Mann und deutete ihr den Weg zu einer der Ecken, wo man durch die Lücke zwischen zwei Gebäuden hindurch in den Park hinter dem Gut gehen konnte.
„Es ist nicht meins. Ich arbeite nur hier. Als Förster. Ich heiße Mads Larsen.“
Er streckte die Hand aus, ohne seine Schritte zu verlangsamen, also wurde es ein etwas umständlicher Handschlag im Gehen.
„Ihr Plan, den europäischen Bison hier auszuwildern, klingt sehr spannend“, sagte Cecilie und genoss die grünbraune Winterlandschaft des Gartens hinter dem Gut. Im Sommer musste es eine Augenweide aus bunten Blumen sein.
„Die Bewerbung ist ja sehr detailliert und ausgearbeitet, also bin ich gespannt, das Gebiet zu sehen, das Sie sich dafür vorstellen.“
„Wir nehmen den Traktor“, sagte Mads und zeigte auf einen Traktor mit Anhänger, auf dem gestapelte Heuballen thronten. „Ich muss sowieso raus und die Rehe füttern.“
Cecilie zog im kalten Wind den Mantel enger um sich.
„Der Gutsbesitzer ist bestimmt ganz enthusiastisch über Ihre Pläne?“
„Tja, er ist auf jeden Fall…“
Mads verlangsamte seine Schritte und zögerte.
„Der Gutsbesitzer ist…“
„Larsen!“, ertöne eine laute Männerstimme hinter ihnen. Sogar in dem starken Wind erreichten sie die Worte ohne Probleme.
„Können Sie kurz reinkommen? Und nehmen Sie Ihren Gast mit.“
„… der Gutsbesitzer ist etwas eigen“, beendete Mads seinen Satz und wandte sich mit schweren Schritten um.
„Aber jetzt haben Sie die Chance, ihn zu treffen.“
Irgendetwas in der Stimme hatte Cecilie bereits darauf vorbereitet, was sie nun sah. Trotzdem war es ein Schock, als sie Mads durch die Stalltür folgte und Angesicht vor Angesicht vor dem Mann stand, mit dem sie eine so wunderbare Nacht verbracht hatte und dessen Abschiedszettel sorgfältig zusammengefaltet in ihrer Tasche lag.
„Hallo. Ich heiße Cecilie Pihl Lauridsen. Ich komme von den Ægidius-Stiftung, Abteilung für Natur und Umwelt.“
Sie dachte, es wäre das sicherste, so zu tun, als hätten sie sich nie getroffen.
„Hallo. Jacob Benjamin Hvidfeldt.“
Auch sein Gesicht verriet nicht, dass er sie schon kannte. Nicht im Geringsten. Vielmehr sah er aus, als könnte es ihm nicht schnell genug gehen, sie wieder loszuwerden.
„Ich…“
Cecilie sah Mads Larsen an, aber er hatte den Blick gesenkt und schien nicht die Absicht zu haben, dem Gutsherren zu erklären, was vor sich ging.
„Ich bin hier, um Ihre Bewerbung um Unterstützung zu prüfen, den europäischen Bison in einem Gebiet Ihres Waldes auszuwildern.“
Als er bei diesen Worten nicht im Mindesten freundlicher wurde, sondern ganz im Gegenteil seinen armen Förster noch mehr anfunkelte, fügte sie hinzu:
„Ein ehrgeiziges Projekt, aber es ist gut geplant und entspricht definitiv dem Trend, den wir im Rest von Europa sehen.“
„Ja, sicher“, sagte der Mann, der offensichtlich der Gutsbesitzer war und Jacob hieß. Aus seinem geringen Interesse für das Projekt zu schließen – von dem er anscheinend noch nie etwas gehört hatte – hatte sie mit ihrer Geschichte über einen Naturfotograten völlig falsch gelegen. Er wirkte wie ein Mann, der kaum weniger Enthusiasmus über die Möglichkeit neuer Tierarten auf seinem Grund zeigen konnte.
„Die EU hat sogar ihre Naturschutzrichtlinien verschärft, was die Chancen erhöht, den vollen Betrag zu erhalten, den man beantragt hat“, plapperte sie weiter in der Hoffnung, die schlechte Stimmung zu brechen.
„Ich befürchte“, sagte der Gutsbesitzer mit unverändert ernster Stimme, „dass mein Förster vergessen hat, mich über dieses Projekt zu informieren.“
„Ja, aber…“, Cecilie sah zu Mads herüber, aber von dem war weiterhin keine Hilfe zu erwarten.
„Sie können sich die Bewerbung ansehen. Sie beschreibt das ganze Projekt.“
Sie reichte ihm ihre eigene Kopie der Bewerbung.
„Ja, danke.“
Der Gutsbesitzer nahm sie entgegen, ohne sie eines Blickes zu würdigen.
„Das werde ich machen. War sonst noch etwas…?“
Als Cecilie sah, dass er daran war, zu gehen, fügte sie schnell hinzu:
„Ich habe natürlich volles Verständnis dafür, dass Sie ein paar Dinge klären wollen, aber ich hoffe wirklich, dass dies für die Stiftung keine Zeitverschwendung war. Wir nehmen ja unglaublich viele Bewerbungen entgegen und die Förderung ist in der Regel sehr großzügig. Es liegt in unser aller Interesse, vom Aussterben bedrohte Tierarten wieder in der dänischen Natur auszuwildern, aber ich muss das Gebiet sehen, um das Projekt beurteilen zu können.“
Es sah aus, als würde sich Jacob bei ihren Worten besinnen.
„Natürlich. Aber wenn die Besichtigung morgen stattfinden könnte, wäre das eine große Hilfe.“
„Selbstverständlich“, sagte Cecilie und der Förster nickte dankbar.
Sie suchte in Jacobs Gesicht nach irgendeinem Zeichen des Wiedererkennens, einem Zwinkern. War das wirklich derselbe Mann, der sie vergangene Nacht in seinen Armen gehalten hatte? Der sie so leidenschaftlich geküsst hatte, der in ihren Mund gekommen war und sie in seinem Mund kommen gespürt hatte? Das Aussehen war gleich, schöne Augen, kurze Bartstoppeln und ein kräftiger Kiefer. Die Größe stimmte auch, genau wie seine Statur mit den breiten Schultern und dem schlanken Körper. Aber abgesehen davon könnte sie genauso gut vor einem Mann stehen, den sie noch nie getroffen hatte.
Warum hatte er ihr seine Telefonnummer an der Rezeption hinterlassen? Weil er dachte, sie wäre eine andere? Aber wer um Himmels Willen konnte etwas gegen eine Sachbearbeiterin von einer Wohltätigkeitsstiftung haben, die jedes Jahr mit Millionen von Kronen Naturprojekte in Dänemark förderte? Da war es wahrscheinlicher, dass er ihre gemeinsame Nacht bereute. Er war bestimmt doch nicht Single. Das wäre auch fast zu schön gewesen, um wahr zu sein.
„Es ist wohl am besten, wenn ich die Rundführung selbst übernehme.“
Jacob Hvidfeldt verabschiedete sich mit einem festen und vollkommen unpersönlichen Handschlag von einer verwirrten Cecilie, dann drehte er sich um und ging.
„Wir sehen uns morgen, selbe Zeit.“
Dann war er weg.