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Die Bio-und-Wellness-Alm
ОглавлениеDie Bio-und-Wellness-Alm thronte auf einem sanften Hügel wie eine moderne Burg. Umgeben von den Obstgärten und Weinbergen der Südsteiermark erwartete den Gast ein Vier-Sterne-Hotel mit einem großen Panoramapool und einer fantastischen Aussicht. In der Ferne konnte man das Massiv des Hochwechselgebirges erkennen. Da der Winter bis in den April hinein gedauert hatte, funkelte auf einzelnen Bergkuppen noch immer Schnee. Eine Übergangszeit gab es längst keine mehr – vom Winter direkt in den Sommer.
Das Hotel warb mit Bio- und Vollwertkost sowie der Zusicherung: Wir sprechen Ihre Sprache – was immer das heißen mochte. Die zahlreichen Gäste kamen aus dem In- und Ausland, und jene, die sich die sündteuren Preise leisten konnten, quartierten sich gleich für mehrere nachhaltige Wochen ein. Das Hotel beherbergte jedoch auch solche Kurgäste, die von ihren Krankenkassen geschickt worden waren und einen lächerlich kleinen Anteil zu ihrem Aufenthalt zuschießen mussten. Das sorgte öfters für böses Blut zwischen den privaten Gästen und den anderen.
Samstag war An- und Abreisetag, und heute war wieder Samstag. Familie Schneider aus Wien rückte bereits um neun Uhr mit vier Personen an: Opa Lutz, Sohn Walter, Schwiegertochter Beate und Enkel Tommy. Opa stützte sich neuerdings auf einen Rollator, den ihm seine Schwiegertochter vor der Abreise gekauft hatte, damit er während seines Aufenthalts unabhängiger von ihrer Hilfe war. Ihre Zimmer lagen deshalb auch im Erdgeschoss und Opa teilte sich seines mit Tommy.
Sein Enkel mit dem blonden Wuschelhaar und den strahlend blauen Augen sah seinen Eltern gar nicht ähnlich, die beide braune Augen und brünette Haare hatten, wenn auch jetzt schon ein wenig angegraut. Sein Aussehen hatte Tommy eindeutig von Opa geerbt, als dieser jung gewesen war – also noch während des Dreißigjährigen Krieges, wie Tommy gern scherzte, der Geschichte studierte. Er liebte seinen Opa, denn Opa machte bei jedem Blödsinn mit. Im Gegensatz zu seinen Eltern war es Tommy nämlich komplett wurscht, ob Opa sich daneben benahm, obszöne Ausdrücke gebrauchte, sich vollkleckerte, in die Hose pinkelte oder heimlich rauchte. Opa seinerseits war es völlig wurscht, ob Tommy mit seinen fünfundzwanzig Jahren noch weitere zehn Jahre auf Kosten seiner Eltern studierte, mehr Zeit mit dem Smartphone verbrachte als im Hörsaal, sich ab und zu einen Joint genehmigte und die Freundinnen wechselte wie andere die Unterwäsche – Opa und Tommy waren ein zusammengeschweißtes Gespann.
In Wien teilte sich die Familie ein Einfamilienhaus in Döbling. »Drei Generationen unter einem Dach ist einfach nicht gut«, hatte Beate in der Vergangenheit immer wieder zu Walter gesagt. »Noch dazu mit einem Vater wie dem deinigen.«
»Ich kümmere mich wenigstens um meinen Vater!«, hatte Walter daraufhin immer geantwortet und auf Beates Vater angespielt, den sie längst an ein Seniorenheim losgeworden war. Beate hingegen empfand es als Zumutung, sich mit dem alten Herrn sogar im Urlaub zu belasten.
»Stell dir vor, ich würde auch noch meinen Vater pflegen müssen! Dann hätte ich zwei senile Witwer am Hals. Du bist damit ja nicht belastet. Du gehst am Morgen aus dem Haus und abends, wenn du heimkommst, liegt Opa gefüttert und gewindelt in seinem Bett. Zusätzlich habe ich noch deinen faulen Sohn zu versorgen …«
»Unseren Sohn! Außerdem lebt ihr von meinem Geld«, betonte Walter, der seine Brötchen in einem großen Versicherungsunternehmen verdiente. »Da kann ich auch ein wenig Engagement erwarten.«
Walter, der Ernährer! Wer das Geld heimbrachte, schaffte an. Dass sie ihre Arbeit in einer Anwaltskanzlei aufgegeben hatte, um für seinen Vater zu sorgen, sah er als selbstverständlich an, denn Walter war noch ein Überbleibsel aus einer Zeit, wo Frauen am Herd ihre Erfüllung fanden, und das, obwohl er mit seinen neunundvierzig Jahren noch gar nicht so alt war. Sie kannte weitaus ältere Männer, die moderner dachten. Die Rolle als Familienoberhaupt aber nahm in seinem Leben so viel Platz ein, dass er die Rolle als Ehemann und Liebhaber längst verdrängt hatte. Erotik und Sex kannte Beate nur noch aus den Frauenzeitschriften beim Friseur oder aus der Erinnerung. Und die verblasste mit jedem Jahr mehr. Selbst Opa hatte für Erotik und Sex mehr übrig, wenn man ihm manchmal so zuhörte. Und obwohl sein Gebrabbel für die Anwesenden meist mehr peinlich als amüsant war, merkte man deutlich, dass in diesem alten Körper noch jede Menge Leben steckte. In Walters Körper hingegen steckte außer der Frage nach dem Stand seiner Aktien nur noch die Frage, was es heute zu essen gab.
Nach dem Einchecken begann Familie Schneider damit, sich einzuquartieren. Auf einem lichtdurchfluteten Flur mit Ausblick auf die sanften Hügel des Umlands gelangten sie auf einem roten Teppichläufer zu ihren Zimmern. Beate und Walter schleppten die vier Koffer und acht Reisetaschen in mehreren Etappen, Tommy trug Opas Rollator und Opa trug sich selbst. Nachdem Opa die Größe des Zimmers bemängelt hatte, Beate erst mal eine Verschnaufpause einlegen musste und Tommy mit dem Telefonieren fertig war, versammelte sich die Familie Punkt zwölf Uhr um den Mittagstisch im ersten Stock.
Es gab noch einen Speisesaal im Erdgeschoss, aber dort saßen, wenn es sich einrichten ließ, fein getrennt von den zahlenden Gästen, die Kassenpatienten gemeinsam mit den Schnuppergästen, die nur ein bis drei Tage blieben. Vom oberen Speisesaal aber mit acht raumhohen Rundfenstern hinter zarten cremefarbenen Vorhängen, durch die eine frische Brise hereinwehte, hatte man die beste Aussicht auf die steirische Landschaft mit den saftigen Obst- und Weingärten, gesprenkelt mit einzelnen Gehöften. Ein leises Raunen der rund siebzig Gäste, die sich für das Mittagessen fein herausgeputzt hatten, erfüllte den Raum.
Da im Mai Hochbetrieb herrschte, musste Familie Schneider den Tisch mit zwei wildfremden Personen teilen, worüber sich Walter beim Restaurantmanager heimlich beschweren ging. Er hatte gedacht, die Familie würde unter sich bleiben. Der Restaurantmanager bedauerte, aber es müsse diesmal eine Ausnahme gemacht werden, außerdem wollten die beiden Damen nächste Woche abreisen, und sie seien doch sehr sympathisch.
»Das wird sich erst noch herausstellen!« Mit diesen Worten kehrte Walter an den Tisch zurück, wo bereits die Vorspeise serviert worden war. Es gab Rohkost mit Joghurtdressing, spärlich garniert mit Dinkelkörnern.
»Von Rohkost krieg ich Blähungen«, kündigte Opa an.
Beate warf ihm einen stummen, aber warnenden Blick zu. Sie wusste nur zu gut, wie es sich anhörte, wenn es in seiner Hose krachte. Zu Hause war es unangenehm genug, aber vor diesen fremden Leuten!
»Lass die Rohkost lieber stehen«, riet sie ihm daher im Befehlston und schob den Teller außerhalb seiner Reichweite.
»Wenn’s Arscherl brummt, ist‘s Herzerl g‘sund!«, krähte Opa.
»Entschuldigen Sie bitte meinen Schwiegervater«, bat Beate mit einem verlegenen Lächeln ihre beiden Tischnachbarinnen. »Übrigens – ich bin Beate Schneider.«
»Professor Dr. Gloria Rosenblatt«, stellte sich die Ältere vor.
»Margot Kitzler«, schloss sich die Jüngere an.
Tommy prustete und wurde hochrot im Gesicht. Walter, der seinem Sohn gegenübersaß, verpasste ihm unter dem Tisch einen Tritt gegen das Schienbein.
»Ich bin Walter Schneider.« Er legte seinen Arm um Opa. »Das ist mein Vater, Lutz Schneider. Und Tommy, unser Sohn.«
»Schön, dass Sie Ihren Vater mitgenommen haben«, lobte Frau Professor Rosenblatt. »Heutzutage wird unsere ältere Generation viel zu oft vernachlässigt. Abgeschoben in irgendein Heim, wo man dann auf den Tod wartet.«
»Ich bin noch lange nicht tot!«, triumphierte Opa, nahm seine Hosenträger zwischen Daumen und Zeigefinger und ließ sie schnalzen.
»Ich habe auch nicht Sie gemeint!« Frau Professor Rosenblatt lächelte milde. »Sie haben ja eine Familie, die für Sie sorgt, Sie Glückspilz!«
»Wie lange wollen Sie bleiben?«, erkundigte sich Margot Kitzler, eine Frau Anfang vierzig mit der Gestalt einer Aphrodite – üppiger Busen, gebärfreudiges Becken, schmale Taille – und einem Gesicht, so gesund und rotbäckig, wie ein frisch gepflückter Apfel. Ihre gekrausten Haare von undefinierbarer Farbe trug sie zu einem seitlichen Zopf geflochten.
»Wir bleiben drei Wochen«, antwortete Beate, »und ich hoffe, wir erholen uns gut.«
»Das werden Sie bestimmt«, zeigte sich Professor Rosenblatt optimistisch.
Walter schätzte die Frau Professor auf Mitte sechzig, aber mit der Figur einer jungen Frau. Das naturgraue Haar trug sie als schicken Kurzhaarschnitt und ihr pinkfarbenes Tankshirt zu den knallorangenen Leggings wies sie als eine jener Frauen aus, die nicht alt werden wollten. Ihr Gesicht mit der randlosen Brille glich einem etwas runzeligen Smiley, da ihre Mundwinkel stets nach oben zeigten, was ihr einen lustigen Ausdruck verlieh. Doch der Eindruck sollte täuschen.
»Sie reisen nächste Woche ab, hat mir der Restaurantmanager verraten?«, wollte Walter auf Nummer sicher gehen. »Das finde ich aber sehr schade, nun, da wir uns gerade erst kennengelernt …«
»Ich habe verlängert!«
»Was Sie nicht sagen!«
»Ich auch!«, freute sich Margot Kitzler. »Das Essen hier tut mir so gut! Und diese vielen Anwendungen, einfach ein Genuss. Wenn auch nicht ganz billig.«
Das konnte ja heiter werden. Walter sah sich nach dem Kellner um, damit dieser endlich abräumte, weil Opa sich seine Rohkost wiederholt unter den Nagel reißen wollte.
»Nicht ganz billig?« Professor Rosenblatt hob eine Augenbraue und bedachte Frau Kitzler mit einem geringschätzigen Schniefen ihrer Nase. »Ihnen kostet doch der ganze Aufenthalt fast nix! Sie sind ja von der Kasse hergeschickt worden, soviel ich weiß.«
»Nur keinen Neid, bitte!«, schnappte Frau Kitzler zurück.
»Ich bin Ihnen gar nichts neidig, ich sage bloß.«
»Die Verlängerung muss ich mir selber bezahlen, wenn Sie es genau wissen wollen. Das zahlt die Kasse nicht.«
»Vier Wochen um den Preis von einer! Kein Wunder, wenn unsere Krankenkassen aus dem letzten Loch pfeifen.«
»Ihre Beamtenversicherung kriegt vom Staat am meisten Zuschuss!«, wollte Frau Kitzler das letzte Wort behalten.
Beate, die eine harmoniebedürftige Frau war, empfand den Disput als unangenehm und auch nicht angebracht, denn schließlich kannten sie sich kaum. Aber Frau Kitzler und die Frau Professor dürften schon mehrere Scharmützel dieser Art ausgetragen haben, so wie sie miteinander umgingen.
»Welche Studienfächer unterrichten Sie denn?«, fragte Beate die Frau Professor Rosenblatt, um dem Gespräch eine Wendung zu geben.
»Ich habe in Wien Geografie und Germanistik unterrichtet«, freute sich diese über das Interesse. »Aber ich bin schon in Pension, ich bin ja weit über sechzig.«
»Das sieht man Ihnen gar nicht an«, bemerkte Beate höflich. »Ich hatte auch mal ein Studium angefangen«, erzählte sie. »Rechtswissenschaften. Aber dann habe ich meinen Mann kennengelernt, kurz darauf kam Sabine, Tommys ältere Schwester. Na ja, Sie wissen sicher auch, wie das so läuft bei uns Frauen.«
»Ich habe keine Kinder, dafür bin ich in meinem Beruf voll und ganz aufgegangen!«, trumpfte Frau Professor Rosenblatt auf.
Voll Neid im Herzen musterte Beate ihr Gegenüber. Eine selbstständige unabhängige Frau, die ihr eigenes Geld verdient hatte und heute ihre sicherlich schöne Pension mit niemandem teilen musste.
»Beneidenswert«, seufzte sie.
Da die Frauen am Tisch mit ihrer ehrlichen Meinung nicht hinterm Berg hielten, erlaubte sich Walter ebenfalls eine Bemerkung. »Gerade du brauchst dich nicht zu beschweren!«, sagte er zu seiner Gemahlin. »Seit du geheiratet hast, wird für dich gesorgt.«
Noch ehe Beate etwas entgegnen konnte, fiel ihr Opa in den Rücken: »Ein eigener Herd, ein braves Weib ist Gold und Perlen wert.«
Tommy, der dem Gespräch nur mit halbem Ohr zugehört hatte, gluckste leise. Die anderen ignorierten Opas Kommentar, bis auf Frau Kitzler, die meinte: »Im Gegensatz zu Frau Professor Rosenblatt habe ich eine eigene Familie stets vermisst.«
Walter freute diese Einstellung, die ganz seiner entsprach, musste aber mit der Antwort warten, denn der Kellner servierte die Hauptspeise. Es gab Okragemüse über Vollkornnudeln. Schockiert studierte er den weißen Porzellanteller mit den dunkelbraunen Nudeln, die er an den Fingern einer Hand hätte abzählen können. Rinderbraten oder Schweinemedaillons als Alternative zum vegetarischen Futter würde es hoffentlich dann am Abend geben.
Als der Kellner fort war, knüpfte er an das Gespräch an und wollte von Frau Kitzler wissen: »Wie war das mit der Familie, die Sie nie hatten?«
Diese seufzte. »Leider hat sich in meinem bisherigen Leben eine eigene Familie nicht ergeben. Immer nur arbeiten, kaum Zeit, auszugehen … und heute bin ich zu alt.«
»Sie sind doch nicht alt!«, widersprach Walter heftig.
»Für Kinder schon.«
»Aber nicht für einen liebenden Ehemann.«
»Und woher nehmen, wenn nicht stehlen?«
Darauf wusste Walter auch keine Antwort, denn er und Beate hatten sich in einer Disco kennengelernt und gleich darauf geheiratet, da waren sie beide gerade um die zwanzig gewesen. Wie man heutzutage jemanden kennenlernte, darüber konnte er am allerwenigsten Auskunft geben.
»Wie wäre es mit einer Anzeige bei der Singlebörse?«, schlug Tommy vor. »Das machen heute viele in Ihrem Alter.«
»Tommy!«, tadelte Beate ihren Sohn mit unterdrückter Stimme. »Verzeihen Sie bitte … die Jugend! Redet halt, wie ihr der Schnabel gewachsen ist.«
»Ich will doch nicht irgendeinen Mann!«, empörte sich Frau Kitzler. »Aber Sie, mit Ihren zwanzig Jahren, haben natürlich leicht reden!«
»Tommy ist schon fünfundzwanzig«, gab Beate zu und schämte sich ein wenig für ihren infantilen Sohn.
»Wenn Sie auf den Traumprinzen warten«, spöttelte Frau Rosenblatt, »dann friert eher die Hölle zu! Wer zu anspruchsvoll ist, bleibt über.«
»So wie Sie?«, fragte Margot Kitzler schnippisch zurück.
»Meine Beziehungslosigkeit beruht auf Freiwilligkeit, das ist ein riesengroßer Unterschied. Alleinsein ist nicht mit Einsamkeit gleichzusetzen, ich bin gern allein.«
»Selbstverliebt genug sind Sie ja.«
Walter bereute schon, mit diesem Thema überhaupt angefangen zu haben. Zum Glück wurde die Nachspeise serviert und die Aufmerksamkeit richtete sich auf das Kirschenkompott.
»Gibt es hier eigentlich auch etwas Handfestes zu essen?«, grollte er und schielte auf das Glas mit den losen Früchten, die in einem dünnen Saft schwammen.
»Wenn Sie Schokoladentorte mit Schlagsahne erwarten, dann haben Sie das falsche Hotel gewählt«, sagte Frau Professor Rosenblatt.
»Ich finde das Essen cool!«, rief Tommy. »Endlich mal kein Fleisch.«
»Und nichts, das dick macht«, freute sich Beate. »Iss, Schatz!«, feuerte sie ihren Mann an. Diesmal konnte er nicht ihr die Schuld am Essen geben, denn das Hotel hatten sie gemeinsam ausgesucht.
»Uns ist ganz kannibalisch wohl, als wie fünfhundert Säuen!«, zitierte Opa aus Goethes Lustige Gesellen und spuckte einen Kern quer über den Tisch.