Читать книгу Nur hier sind wir einzigartig - Christine Avel - Страница 6

Das Gelände

Оглавление

Die Welt beginnt und endet hier. Mit festen, unveränderlichen Grenzen, vom dritten Johannisbrotbaum an der Hauptstraße bis zum letzten Fels der kleinen Bucht, wenige Kilometer weiter.

Das hat Niso so entschieden, aufrecht über dem hellen Becken der großen Entscheidungen, genau dort, wo wir jeden Sommer unter wildem Geschrei die winzigen Schlangen abschlachten. Die Arme vor der Brust verschränkt, das Kinn wie sein Vater nach oben gereckt, verkündet er an jenem feierlichen Tag: »Genau hier beginnt die Welt«, und wir klatschen begeistert Beifall.

Die Welt beginnt dort, am Dorfausgang. Die einzige geteerte Straße führt geradewegs ins Inselstädtchen und macht dann einen plötzlichen Knick in Richtung Meer. Unser Gelände umfasst drei Olivenhaine, die Sträucher und die dornige Macchia, den von Tamarisken gesäumten Garten, das Grabungshaus, den Palast und das Grabungsfeld, ist also in mehrere Orte aufgesplittert, die bis zum felsigen Meeresufer abfallen.

Unser Leben beginnt und endet hier. Hier verbringen wir zwei oder drei Monate im Jahr; das restliche Jahr existiert kaum. Es dehnt sich aus, in einem dichten, gleichförmigen Nebel, eine gut einstudierte, hastig aufgesagte Darbietung ohne jeden Sinn, die wir auf der Insel sofort vergessen und über die wir untereinander nie reden.

Die restliche Welt ist ein armseliges, fades und kaltes Etwas, eine kümmerliche Einlage in der Abendsuppe. Sogar unser Sommerhimmel ist hier anders: von einem intensiven Blau und einer Wärme, die sich abends in einer unvergleichlichen Farbenflut entfaltet. Das Milchige des flämischen Horizonts und die lang gezogenen norditalienischen Wolken fehlen.

Unsere Welt beschränkt sich auf ein paar Hundert Quadratmeter tiefes Wasser und blutrote Erde, eingerahmt von zwei Wegen und dem felsigen Meeresufer, das sich in die halbrunde Bucht frisst. Das genügt uns.

Am Abend vor der Rückreise stehen wir oben auf dem Fels und betrachten voller Stolz unsere Welt; wir fahren mit der Zunge über die vom Salz aufgesprungenen Lippen, treten von einem Bein aufs andere, bis der Himmel noch schwärzer ist als das Meer. Unsere kleine Bucht vor Augen, schwören wir, uns im nächsten Sommer wieder in die Wellen zu stürzen, so wie im übernächsten und in allen anderen auch.

Die Welt ist hier und nur hier, bebt lebendig und warm unter unseren Händen, unseren Füßen. Wir werden sie niemals verlassen.

Wenn die Insel unsere Welt ist, dann ist die kleine Bucht das Zentrum, der ruhige, tiefe Nabel der Welt.

Wir sind so oft vom Grabungshaus zum Meer gelaufen, dass wir den Weg im Spiel mit geschlossenen Augen finden, der Geruch der Macchia und der Strandlilien leitet uns. Unsere Fußsohlen bewahren von einem Jahr zum nächsten die Erinnerung an diesen Hang, an die heimtückischen spitzen Steine einer Kurve, an die Wunden, die zwei Monate nicht heilen, weil sie mit jedem Sprung ins Salzwasser wieder aufreißen; und natürlich an den feinen Sand, den wir an windigen Tagen in den Augen, unter den Nägeln und zwischen den Zähnen spüren. Tagsüber ist der unglaublich weiche, pulvrige goldene Sand glühend heiß – zu Ferienbeginn hüpfen wir fluchend von einem Fuß auf den anderen, weil wir keine Hornhaut mehr haben –, nachts lauwarm und morgens kühl.

Und dann kommt immer diese Stelle, wo der Hang sanft zum Strand hin abfällt und wir plötzlich vom Meer angezogen werden: Wir erkennen sie, obwohl wir nicht wissen, wo sie ist, aber wenn wir genau da sind, breiten wir die Arme aus, rennen mit wildem Geschrei los, stürzen uns geradewegs in die Wellen und brüllen heraus, was wir das Jahr über zurückgehalten haben.

Die hellsten Stunden des Tages verbringen wir im dunklen Wasser, wir springen, tauchen, ziehen uns auf den Stein hoch, schütteln uns und gleiten, kaum getrocknet, erneut ins kühle Nass: eine lärmende, träge Seelöwenkolonie.

Evi ist die Jüngste und hält sich zurück, keiner beachtet sie je. Sie läuft uns hinterher wie ein treuer Hund, vor den Augen lange braune Strähnen, und protestiert auch nicht, wenn Niso sie anfährt und herumkommandiert: »Geh dahin, hau ab, trag meine Tasche.« Er nennt sie »meine Klette«, und keiner von uns käme auf die Idee, mit ihr zu reden. Wenn sie dann doch einmal etwas sagt, hat sie eine überraschend tiefe, ein wenig raue Stimme. Wir verstummen, ganz verwundert bemerken wir diesen winzigen Menschen.

Eines Tages sagt ihre Erwachsenenstimme in das Wellenrauschen, die Schreie und unser Treiben hinein: »Ich will auch springen.« Derjenige, der sich gerade ins Wasser stürzen wollte, hält verblüfft inne, wir drehen uns alle um, Evi lehnt, winzig klein, mit dem Rücken am Fels, sie reicht uns nur bis zur Schulter, und doch rennt sie jetzt wie eine Wahnsinnige los, einfach geradeaus. »Da sind Steine, pass auf«, murmelt Niso mit erstickter Stimme, aber sie ist schon gesprungen, lautlos, aus vollem Lauf.

Wir beugen uns alle gleichzeitig vor; Niso, der unten auf dem flachen Stein steht, starrt ins wirbelnde Treiben, mit angespannten Muskeln, sprungbereit, eine Ader an seiner Schläfe pulsiert, Evi taucht nicht auf, das ist der Strudel, man muss ordentlich mit den Füßen strampeln, um hochzukommen. »Ma che stronza«, flucht Zac, als Niso sich ins Wasser stürzt, ein Knall, ein Aufschäumen. Dann ein paar Meter weiter vorn, an den Felsen, Evis raues Lachen, sie klammert sich ans Gestein: »Ich hab euch Angst gemacht, was, Niso, ich hab euch Angst gemacht.«

Niso kommt immer als Erster in der Bucht an, er läuft weit vor den anderen, das dumpfe Geräusch seiner nackten Füße, in einer Hand die Taucherbrille, in der anderen die Flossen, er klettert über die Felsen, springt hinunter auf den flachen Stein, zieht sein T-Shirt aus, setzt mehr schlecht als recht die Brille auf – es ist Evis, sie ist ihm zu klein, seine hat er verloren – und stürzt sich ins Weite, gierig nach der schlagartigen Erfrischung, dem plötzlichen Ohrenrauschen.

Im Wasser ist Niso nie kalt. Nur wenn er sich mit einer Hand dort unten, in der Tiefe, am Fels festklammert, kann sich in seinem Brustkorb etwas lockern, sich langsam aus dem Schraubstock lösen, und die Wurzeln, die ihn jedes Jahr umwachsen und ersticken, spreizen sich.

Dort unten öffnet er die Augen, ohne Angst vor dem Salz, und seine Lunge weitet sich. Wir wetteifern untereinander nicht darum, wer am längsten tauchen kann; nicht, weil unsere Eltern es verbieten würden (davon sind sie meilenweit entfernt) oder weil es uns zu riskant wäre – Niso würde einfach jedes Mal gewinnen.

Wenn er ganz unten ist, stellt er sich vor, er befände sich am Grund eines Sees: Die Hafenmauern im Wasser, die er in einigen Metern Entfernung erahnen kann (noch weiter draußen ist es dunkel und geheimnisvoll), markieren den Eingang zu einer versunkenen Stadt. Niso bewegt sich so wenig wie möglich, lässt nur die Hände sanft hin und her gleiten, wie zwei folgsame Pilotfische. Wenn manchmal ganz nah vor ihm ein silbriger Sardinenschwarm im Rhythmus der Wellen erzittert, ist das für ihn das Höchste.

Und erst, wenn sich das vergangene, übervolle Jahr in zig Luftblasen verflüchtigt hat – nur dann –, stößt er sich auf einmal mit der Ferse ab und kommt wieder nach oben.

Nur hier sind wir einzigartig

Подняться наверх