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Erkundungen

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Am Anfang des Urlaubs sitzen wir lange davor, lassen die Beine im Gleichtakt baumeln, auf dem Eingangstor aufgereiht wie Schwalben, die sich auf der Stromleitung aneinanderdrängen.

Das Grabungshaus ist noch da. Mit seinen dicken Mauern steht es fest auf der Erde, unverändert hat es unsere Abwesenheit überstanden. Das können wir uns gar nicht oft genug sagen. Die Fassade ist weiß gekalkt wie die Häuser im Dorf und strahlt so grell, dass wir mittags blinzeln müssen.

Ursprünglich, lange vor unserer Geburt, war hier nichts oder fast nichts: nur karger, steiniger Boden, ein paar Mäuerchen und eine Handvoll Ziegen, die Macchia fraßen. Auch das damalige Dorf war eigentlich nicht der Rede wert, ein staubiges Kaff mit einem kleinen Geschäft, und das war’s – nicht einmal ein Souvenirladen oder eine Post. Aber den Palast gab es natürlich schon, ein Haufen alter Steine mit rostiger Umzäunung, und einige verschlafene, längst vergessene Grabungsfelder. Dann wurde das Grabungshaus gebaut, der Garten spross wie eine Oase in der Wüste, man fing an, ringsherum zu graben, der Weg erreichte die Nekropole, am Strand tauchte die Hütte auf, endlich war alles da, nur für uns: unser vollständiges, perfektes und unveränderliches Universum.

Wir werden nicht müde, die strahlende Fassade zu betrachten, wir vergewissern uns, dass wir heil angekommen sind und weit genug weg vom eierfarbenen Rauputz unserer Vorstadthäuschen, den winzigen Balkonen unserer Wohnungen, den Begonientöpfen unserer Großeltern.

Mit fünf oder sechs Jahren kommt uns das Grabungshaus riesig und unübersichtlich vor. Dabei ist es schlicht gebaut, geradezu klösterlich. Vielleicht war das sogar die ursprüngliche Absicht des Architekten; zweifellos war er gläubig, er glaubte an das heilige Amt des Archäologen. Der Grundriss ahmt die Schlichtheit der archaischen Paläste nach, verbindet uns mit ihnen und fügt sich perfekt in ihr verstecktes Wegelabyrinth ein.

An einem langen Gang liegen rechts das Arbeitszimmer, in der Mitte Veranda und Küche, dahinter die sanitären Anlagen und dann mehrere Schlafzimmer. Die Veranda öffnet sich mit großen Säulen zum Außengelände hin. Die Schlafzimmer, in denen wir damals alle untergebracht sind, sind Zellen ohne Bad, mit lediglich einem Regal, Schreibtisch und Stuhl und einem einzigen Fenster, durch das man auf die Tamarisken blickt.

Das Gemeinschaftsbad ist sehr einfach, jeden Morgen wird es abgespritzt. Aber das Duschen im Schnellverfahren ist uns weitaus lieber als die tägliche Körperpflege im restlichen Jahr, unter Aufsicht. Zeig mal die Fingernägel, vergiss das Shampoo nicht. Wir mögen das Gedränge im Bad, aber es beunruhigt uns auch, den halb nackten, zotteligen Erwachsenen über den Weg zu laufen, sie pfeifen, furzen und vor sich hin kichern zu hören. Sonst verabscheuen unsere Eltern Campingplätze, all unserem Flehen zum Trotz, doch hier stört es sie nicht, sich über ein stinkendes Loch zu hocken und dass wir alles hören. Was uns komischerweise wiederum beruhigt. Wir kehren glücklich in die Steinzeit zurück (in die Bronzezeit, würden die strengen Erwachsenen sagen).

Im Sommer nisten sich die Läuse ein und die Flöhe auch, unsere Rücken sind mit roten Flecken übersät und jucken. Wenn sich ein Erwachsener bereit erklärt, uns den Kopf zu scheren, stellen wir uns fröhlich trällernd auf der Veranda an: eine unbekümmerte Pavianfamilie bei der Fellpflege.

Nur einer bleibt abseits. Haarschneider, Schere und alle ehrgeizigen Disziplinierungsversuche scheitern an seinen dichten braunen, grasgespickten Locken; in den Sommermonaten hängen sie vor den dunklen Augen und kräuseln sich im Nacken. Die Dorfkinder zeigen mit dem Finger auf ihn (nur von Weitem, sie trauen sich nicht, ihn zu ärgern) und kichern. Wir aber nicht. Die Haare sind Zacs ganze Würde, seine Mähne, wie seine Mutter mit übertriebenem Stolz auf ihren gut aussehenden Sohn lachend sagt. Wir bewundern seinen hartnäckigen Widerstand und wie er bei der Siesta Laus für Laus, die ihm den Kopf zerfrisst, zwischen zwei Fingernägeln zerdrückt.

Das Grabungshaus ist vollständig zum Garten hin ausgerichtet und der Sonne preisgegeben, nur die Schlafzimmer liegen selbst mittags im Schatten. Ohne den üppigen Garten, von dem es um- und überwachsen ist, die stürmische Bougainvillea an der Fassade und die rankenden Passionsblumen an den Pfeilern würde es gar nicht mehr stehen. Der Garten nährt das Haus und verschlingt es. Um vom Haus in den Garten und zurück zu kommen, springen wir über das Mäuerchen am Gang. Nachts ist der Garten ungeheuer groß, er umschließt und überwältigt uns.

Vierzig, neununddreißig. Keine Ahnung, warum, aber das Abwärtszählen beginnt immer mit vierzig. Wir stehen da, hilflos und abwartend. Und schütteln unsere Lähmung in nur zwei Sekunden ab.

Unter der strahlenden Sonne rennen wir in alle Richtungen, zum Mäuerchen, den Bäumen, den zigmal neu erfundenen Verstecken. Unser Versteckspiel beschränkt sich damals auf den Garten, der uns riesig vorkommt. Später legen wir uns nach und nach bis zur Küste auf die Lauer, in den Olivenhainen oder sogar im Palast, trotz Verbot springen wir über den Zaun.

Wir sind mal mehr und mal weniger; einige kommen regelmäßig und sind ab Juni sicher da, andere tauchen nur manchmal auf. Im Alter von fünf, acht oder zehn sind wir eine feste, laute und zerzauste Gruppe, die immer in Bewegung ist. Wir sprechen alle Sprachen der Welt; beim Spielen, Purzelbäumeschlagen und Lachen haben wir sie gelernt.

Auf der Insel haben wir kurze, klingende und unverwechselbare Namen: Niso, Zac, Evi. Unsere Namen wurden unzählige Male verstümmelt, nach griechischer Art verlängert und dann wieder verkürzt. Übrig geblieben sind farbenfrohe Silben, die uns allein gehören, aber nur auf dieser Insel. Von September bis Juni sind wir Denis, Giacomo und Isabelle, wie wir in unseren Ländern artig heißen, geschichtslose Blagen, die den Anfangsbuchstaben ihres Nachnamens, ein F. oder D., anhängen müssen, um nicht mit anderen verwechselt zu werden.

Nur hier sind wir einzigartig. Selbst unsere Eltern vergessen in den Ferien langsam unsere wirklichen Vornamen, spielen mit Verkleinerungsformen und Anhängseln und begnügen sich nach ein paar Wochen schließlich, wenn es Zeit für den Aufbruch zur Taverne ist, mit einem farblosen »Kinder!«.

Unsere Familien kommen aus Italien, Belgien, Griechenland, England und Frankreich, die meisten sprechen zu Hause mindestens zwei Sprachen. Gemeinsam schaffen wir eine neue Insel-Nationalität und verständigen uns in einem Kauderwelsch mit erfundenen Wörtern und hiesigem Dialekt.

Niso ist am schnellsten; Evis Hand fest in der seinen, haut er als Erster ab, und automatisch rennen alle erst mal in seine Richtung.

Er ist einen Kopf größer als wir, aber trotzdem eine Krabbe, mit durchsichtiger Haut und hellen Augen, so dürr, dass sich seine Rippen abzeichnen und am Brustbein ein Knöchelchen vorsteht. An den Handgelenken zeigen sich blaue Adern, und wenn er aufgeregt ist, pulsiert eine am Hals. An seinem Körper ist kein Gramm Fett, an den Schultern sieht man das Spiel seiner dünnen, langen Muskeln. Im Juli wird seine Haut leicht kupferfarben, mit rötlichen Flecken, und er häutet sich wie eine Eidechse, ist genauso flink und teilt die Vorliebe des Reptils für schroffe Mauern. Wenn er vollkommen reglos, beinahe ohne zu atmen, auf einem Tamariskenast liegt, finden wir ihn immer zuletzt.

Niso und Evi waren im Grunde schon immer da. Als wären sie auf der Insel geboren, als kämen sie von dort. Wirklich, Bruder und Schwester? Nicht mehr lange, dann ist Evi, das Nesthäkchen, genauso groß wie Niso, das kann man schon sehen, ehe sie ihn in der Pubertät überholt; die kräftigen Knie, die Schultern einer Schwimmerin, ein Körper, um den Dingen zu trotzen und standzuhalten. Als die beiden fünf und acht sind, würde bereits jeder darauf wetten, dass sie bei einem Kampf gewinnt. Eigentlich kaum vorstellbar, dass Evi, unsere trotzige, zähe Evi, in den übrigen Monaten Röcke, Ballerinas und Pferdeschwanz trägt und die Faust in der Tasche ballt.

Wenn sie Ende Juni von der Fähre geht, bleibt sie jedes Mal auf der Landeklappe stehen. Die Passagiere, die eilig aussteigen wollen, rempeln sie an, wie ein verlorenes Paket, das im Weg liegt. Wenn ihr genervter Vater (schon auf der Pier, wo er zum zigsten Mal die Koffer nachzählt, seine wissenschaftliche Rigorosität ist berühmt-berüchtigt) sich nach ihr umdreht, winkt und ruft, fleht Niso sie an: »Evi, was machst du denn?« Doch sie verharrt in dieser vagen Schleuse zwischen zwei Welten, holt tief Luft und lässt jetzt einfach zu, dass ihr eine lange braune Strähne ins Gesicht fällt.

Mehr noch als bei ihrem Bruder kommt bei ihr im Sommer die zweite Natur zum Vorschein.

Niso wird das später überraschend bewusst, als er in einer seiner wissenschaftlichen Lieblingszeitschriften blättert; eines dieser Magazine mit verlockenden Titeln und kaum verständlichem Inhalt, wo mithilfe von Illustrationen, die die Themen erst erklärbar oder vorstellbar machen, plausibel erläutert wird, warum die Leere in Wahrheit eine Fülle, die Zeit eine Kurve, das Universum eine Art klar definierter Bagel und das Raum-Zeit-Kontinuum ein gespanntes und von der Schwerkraft beliebig zerknülltes Laken ist.

Es war wohl die Überschrift in einer vor ihm aufgeschlagenen Science et Vie: »Sind wir alle Chimären?«, daneben ein verstörendes Bild, die Darstellung eines römischen Mosaiks: eine Ziege mit Fischschwanz in der klaren Tradition antiker Ungeheuer.

Und dann die Erklärung des Autors, sehr überzeugend (dessen renommierte Titel seine Glaubwürdigkeit unterstreichen): Häufiger als man denke, finde sich bei Menschen eine Kombination aus zwei DNA. In ein und derselben Person können demnach zwei Menschen leben, ohne dass man es merkt, höchstens zufällig durch eine genetische Analyse. Das Ohr von dem einen, den Zeh von dem anderen.

Genauso wie die Kinder auf der Insel. Chimären: das Kind im Alltag und das im Sommer, zwei unterschiedliche genetische Codes, zwei Körper; einer weiß und glatt, mit kurzen Nägeln, sauberen Haaren, gewaschen und eingecremt, der andere sonnengebräunt, wild, mit Muskeln und Krallen, zerkratzt von Stacheln und Dornen, voller Schwielen und strotzend vor Kraft.

Beim Versteckspielen zählt meistens Zac, hinten am Eckpfeiler, den Wuschelkopf in der Armbeuge. Er steht genau auf der Grenze zwischen Haus und Garten, hell und dunkel. Das ist die Regel.

Er zählt öfter, als er müsste, wir losen aus, aber außer ihm schummeln alle; wir wollen lieber gesucht werden, mit klopfendem Herzen und schwitzigen Händen. Wir wissen nicht, ob uns das Spiel wirklich gefällt, in diesem Garten mit seinen Furcht einflößenden Geräuschen und Gerüchen.

Aber Zac kann nicht schummeln und ist gern allein. Zählen heißt für sich sein, ohne die Gruppe, als Einziger sichtbar – mehr oder weniger, denn wir spielen gern, wenn die Schatten langsam länger werden. In den kommenden Jahren – wir kennen schon alle Schlupflöcher, Hinterhalte und Winkel – verstecken wir uns am liebsten erst bei Dunkelheit, wenn die Silhouetten der Bäume kaum noch zu erkennen sind.

Die anderen entfernen sich so leise und weit wie möglich, nur Evi klammert sich an den nächsten Feigenstamm wie an ein Rettungsfloß. Sie hat Angst vorm Dunkeln und bleibt in Zacs Nähe. Als die beiden noch klein waren, schnappte Niso sich Evis Hand, hielt sie so fest, dass es wehtat, und nötigte sie, schneller, schneller, immer schneller zu rennen und still zu sein. Von Weitem hörten wir, wie die beiden hinter einem Baum flüsterten. »Psst, halt die Klappe, hör auf mit dem Gezappel.« »Niso, du tust mir weh, mir ist kalt«, sagte Evi an ihn gekauert, eine Hand vorm Mund und möglichst flach atmend.

Früher waren sie zu zweit, aber eines Tages wollte sie sich allein verstecken, stolz darauf, endlich mitzuspielen, nicht mehr die Kleine zu sein. Von unserem Versteck aus sehen wir, dass sie nicht wegläuft, Zac gibt ihr mehr Zeit, zählt noch einmal von weiter hinten, zweiunddreißig, einunddreißig. Er redet leise auf sie ein, »Na los, beweg dich, renn weg«, und versteht nicht, dass sie das erneute Zählen erst recht verunsichert.

Evi umkreist den Ausgangspunkt wie ein panischer Nachtfalter, bei zehn und auch bei sechs ist sie immer noch da, unschlüssig; Zac kennt all ihre Verstecke und wird sie zuerst suchen. Sie muss weglaufen. Aber sie läuft nicht weg, sie kann nicht, weiß nicht, wie.

Zac zählt noch langsamer, dehnt am Ende die Null länger aus. Dann geht er los, schnuppert, weiß schon, wo sie verstört sitzt. Er ist ganz nah bei Evi, schleicht sich heran, langsam und leise, lauernd, wahrscheinlich hat er beim Zählen schon unser Knacken, Rascheln und Keuchen gehört. Lautlos geht er weiter.

Wenn er uns im Halbschatten am Arm berührt, durchfährt uns ein elektrischer Schlag. Dann rasen wir wie Evi, die erschrocken und begeistert den ersten Schrei ausstößt, in Richtung Haus, unser Zufluchtsort auf hoher See.

Die Schlafzimmer im Grabungshaus riechen nach Sauberkeit. Maria, die darüber wacht, zieht die rauen Bettlaken glatt, geht mit dem Besen durch, energisch, knapp, präzise, und schüttet dann große Kübel schäumendes Wasser über den Boden.

Die Siesta, ein seit Anbeginn der Zeit überliefertes Ritual, ist mit den Schlafzimmern untrennbar verbunden. Während der Siesta läuft man nicht, springt man nicht, schreit man nicht, und gebrüllt wird erst recht nicht. Wir müssen uns hinlegen, in der Abgeschiedenheit unserer dunklen Zimmer sinken wir schnell in den Schlaf, oder besser, in eine klebrige Starre; von ungeahnter, bodenloser Müdigkeit erfasst, dösen wir nicht, sondern fallen in ein tiefes Koma, mit halb geschlossenen Augen und offenem Mund.

Aus dieser Geistesabwesenheit voll zirpender Zikaden erwacht Evi abrupt, benommen, wie gelähmt, immer zu spät, schweißgebadet und allein. Sie versucht, ihre steifen Glieder wach zu rütteln, kämpft sich mit hämmerndem Kopf in den Badeanzug, hält bittere Tränen zurück, rennt den Weg entlang, nur der sehnsüchtige Lauf zur Bucht kann sie jetzt retten, die Steine spürt sie nicht, keuchend kommt sie bei uns an und tut, als ob nichts wäre. Ihre schlechte Laune vergeht mit der Gischt, wilden Sprüngen und wütenden Schreien.

In den Schlafzimmern riecht es streng nach angetrockneter Seifenlauge, Blumen und Mückenspray – ein seltsamer, anhaltender Geruch nach Weihrauch und Moschus –, und wir haben den Verdacht, dass die Erwachsenen sich nicht nur zum Arbeiten einschließen, sondern sich auch mit großer Leidenschaft einer Sache hingeben, die wir uns nur ausmalen können. Die Wände sind mit toten, wütend zerdrückten Insekten übersät, Versteinerungen, die sich zu dunklen Sternbildern fügen: Spinne, Skorpion, Kakerlake oder auch ein einfacher Skarabäus, wohl Opfer eines Fehlurteils; an der Decke erkennt man einen rätselhaften Schuhabdruck.

Um einzuschlafen, hat Evi sich angewöhnt, die Insekten laut zu zählen. Das verärgerte Grummeln aus dem Nachbarbett ignoriert sie ebenso wie das genervte »Sei still« aus den Nachbarzimmern. Damit sie sich nicht vertut, fängt sie immer unten links an, auch den Skorpion über dem Fenster vergisst sie nicht, elf, zwölf, sagt sie laut, schweigt schließlich und schläft ein. Müdigkeit und Hitze tragen sie bis in den nächsten Morgen.

Lange spähen wir mit aufgerissenen Augen in die Nacht, Heuschrecken, Kröten, Summen, das Rauschen der Tamarisken. Begierig versuchen wir, die Schreie von draußen und die Seufzer von nebenan auseinanderzuhalten. Stöhnen, Murmeln, unterdrücktes Lachen; die Geheimnisse der Zimmer, die zu nah an unseren liegen.

In der stickigen Hitze der letzten Augusttage redet Evi noch spät in der Nacht mit Niso, dicht an die mit toten Insekten übersäte Wand geschmiegt. Sie brauche, sagt sie, jedes Jahr wieder diese gemächlichen, wertvollen Minuten, um sich zu verwandeln, in ihrer Brust spüre sie etwas wachsen, für das sie keinen Namen habe, was ihr die Luft nehme und sie zwinge, auf der Landeklappe der Fähre innezuhalten, dieses Etwas sei noch wichtiger als ein schlagendes Herz.

Im Arbeitszimmer des Grabungshauses wird nicht gearbeitet. Die Erwachsenen deponieren dort ausgelesene Bücher und Zeitschriften, Charlie Hebdo liegt neben Paris Match oder sogar Lui. Einige Exemplare lassen wir heimlich mitgehen, manche Seiten haben vom vielen Lesen Eselsohren und sind mit Honig- und Kaffeespuren bekränzt, andere liegen herausgerissen und vierfach gefaltet unter unseren Kopfkissen. Niemand wundert sich darüber, auch nicht über die Tatsache, dass Joyce neben Malko-Heftchen oder Whitman neben Sade prangt.

Wir lesen einfach alles, wir beschränken uns nicht auf Kinderbücher, die gut ausgehen. Wäre das Haus ein Kloster, würde in gewissen Bereichen eine große Toleranz herrschen. Niemand kümmert sich darum – wie sonst unsere Großeltern das ganze Jahr über –, ob unsere unschuldigen Gemüter Schimpfwörter, rassistisches oder gar kapitalistisches Gedankengut aufschnappen (deshalb darf Zac die unschuldigen Donald-Duck-Heftchen nicht mehr lesen).

Mit neun Jahren liest uns Zac einen kompletten San-Antonio vor; wir trauen uns nicht, ihn nach der Bedeutung einiger uns unbekannter Ausdrücke zu fragen, eher altmodische als sexuelle Wörter wie zum Beispiel »sich beflecken«, bei denen Zac ohne jede Erklärung dreckig lacht.

Einen Sommer lang trägt er aus Doktor Schiwago vor, drei dicke, vergilbte und verstaubte Bände. Wenn Evi aufsteht, schüttelt sie ihre Beine aus, die eingeschlafen sind, weil sie sie zu lange nicht bewegt hat; was für ein schreckliches Gefühl, als wäre das Bein aus Holz, und dann dieses Kribbeln in der Wade. Aber das ist der Preis, den sie zahlen muss, lieber würde sie sich die Beine abhacken, als beim Vorlesen zu stören.

Später beharrt Zac darauf, uns Englisch vorzulesen (wir verstehen kein Wort, aber mosern vergeblich). Die Gedichte sind für uns nur eine Melodie. Zac ist elf, dann dreizehn: Unter dem dicken Zeltstoff, auf dem Campingplatz, flüstert er uns seitenweise Sade vor, und wenn er stockt, protestieren wir einstimmig.

Eines schönen Tages – wie alt ist er da, vierzehn, fünfzehn? – hört Zac mit dem Vorlesen auf. Wir können ihn noch so sehr anflehen, er weigert sich: »Das interessiert mich nicht mehr, das war’s, Schluss damit.« Evi ist erst richtig sauer, aber dann gar nicht mehr; sie vertieft sich nun selbst in die Sätze, allein in ihrer Ecke, und stellt sich gegenüber allen Appellen der Gruppe taub.

Im Arbeitszimmer hat schon zum dritten Mal eine Katze geworfen, unter Zacs aufmerksamen Augen. Das restliche Jahr über erlauben unsere Eltern Haustiere nur unter strengen hygienischen Bedingungen, sie fürchten Allergien oder die unziemliche Fortpflanzung dieser Viecher. Wir dürfen nur einen einzelnen Vogel haben (der hoffnungslos stumm ist), einen Fisch (der macht keinen Dreck), allerhöchstens eine Katze (schnellstens kastriert, sonst pinkelt sie überallhin).

Die verwilderten Katzen im Grabungshaus vermehren sich schnell, sie leben in einer Welt nach der Sintflut, deren Wiederbevölkerung Gottes oberstes Gebot ist. Es werden immer mehr. Bei uns finden sie, fernab von den Fußtritten der Kellner, Asyl, Nahrung und Spiele, und wir kennen jede einzelne unfehlbar mit Namen. Die ersten zwanzig haben wir nach den Bewohnern des Grabungshauses benannt, alle späteren tragen nur Nummern. Wir verwechseln sie nie.

Nummer 42 ist unsere Lieblingskatze; sie folgt uns wie ein junger Hund und wirft sich völlig würdelos auf den Rücken, damit wir sie am Bauch kraulen. Beim ersten Morgengrauen miaut sie unter Zacs Fenster, weil er als Erster wach ist und nicht müde wird, sie zu streicheln und zu füttern.

Nummer 42 hat den Fehler begangen, unter dem Tisch durchzulaufen, als gerade die Obstschale herunterfiel. Seitdem schleppt sich das Kätzchen jämmerlich dahin, die zertrümmerte Wirbelsäule nach oben gebogen, die Hinterpfoten gelähmt. Wir müssen sie ein paar Tage beobachten, sagen unsere Väter.

Kein Zweifel, Zacs geduldiges Streicheln hat nicht gereicht. Und als am Ende eines ruhigen, goldenen, perfekten Tages klar ist, dass sich die Katze nicht mehr erholen wird, packt ein Grabungshelfer sie mit kräftiger Hand, beim leisen Knacken der Wirbel gefriert uns das Herz. Keiner von uns schafft es, dem reglosen, stummen Zac, die Haare vor den Augen, ins Gesicht zu sehen. Anders als Niso, der gut argumentieren und erklären kann, fehlen Zac die Worte, es sei denn, er liest vor. Dann bekommen die Worte der anderen in seinem Mund Bedeutung, je nachdem, wie lange er schweigt.

Spät in der Nacht hören wir im Halbschlaf die Tür des Arbeitszimmers knarren. Zac ist aufgestanden, wir erkennen seine Schritte.

Die Zimmerdecken geben Laute von sich, zügelloser Galopp, geduldiges Knabbern; wir denken an bloß liegende Kabel, Termiten oder dass das Holz über unseren Köpfen plötzlich zerbröselt und die Sterne freigibt.

Wenn wir uns in unseren Winterwohnungen in unsere Betten kuscheln, hören wir nur das Brummen des Kühlschranks, die gemächlichen Schritte des Rentners in der Wohnung über uns oder das ferne Murmeln eines Fernsehers oder Radios. Wir leben in geschlossenen Räumen, in gemütlichen Zimmern, durch Doppelfenster und Panzertüren vor der Außenwelt geschützt.

Hier gibt es keine Türcodes oder Schlüssel. Niemand weiß, wann sie verloren gegangen sind, irgendwo an einem Nagel vergessen – falls es überhaupt je welche gab. Das Haus kommuniziert mit der Außenwelt, in stürmischen Nächten hört man das Lärmen der Wellen. Wir lauschen ihrem Grollen in aller Sicherheit, eingehüllt vom Geruch der rauen Laken und von dem nahen Schnarchen. Manchmal kann einer von uns nicht mehr widerstehen, macht leise die Tür auf, schleicht sich auf den Gang und hält Ausschau nach Zac.

Nur ein paar Schritte entfernt streicht Zac über die Pflanzen an den Pfeilern. Der murmelnde Garten zieht ihn an, er klettert auf die Umrandung, bleibt dann aber stehen, als habe es das nächtliche Fauchen, Rascheln, Quaken auf ihn persönlich abgesehen.

Sein Notausgang ist das Arbeitszimmer. Die Tür schließt schon lange nicht mehr, sie steht halb offen, lädt geradewegs dazu ein, sich hineinzuschleichen, ein strategischer Rückzugsort. Zac bleibt auf der Schwelle stehen, ein Bild hält ihn zurück. Auch wir haben die Szene gesehen, ist es zwei oder drei Sommer her?

Eines Abends, als die mückenbekränzte Sturmlampe auf der Veranda schwankt, erhellt sich ein Schatten. So wie Zac heben wir den Kopf und blicken auf einen schwarz behaarten Arm, der die Taille seiner Mutter umfasst; mit dem Rücken zu uns beugt sie sich wie in einem absurden Tangoschritt nach hinten und lacht lauthals, ein Lachen, das uns schaudern lässt.

Nur hier sind wir einzigartig

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