Читать книгу Nur hier sind wir einzigartig - Christine Avel - Страница 8

Grabungsfelder

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Unsere Eltern sind hier nicht mehr dieselben. Sonst so verantwortungsbewusst und erwachsen, sind sie auf einmal sprunghaft, viel attraktiver als sonst und ein wenig beängstigend. Wir begegnen ihnen mittags und abends auf der Veranda, ehe jeder wieder seiner Wege geht, die einen zur Ausgrabung, die anderen zur Bucht.

Bei unseren betrunkenen, durchgeknallten Sommer-Eltern ist an einen regelmäßigen Tagesablauf oder einen sorgfältig zubereiteten Imbiss nicht mehr zu denken. Unsere Mütter reinigen das ganze Jahr über den Kühlschrank mit Desinfektionsmitteln, kaufen luftdicht verpackte Steaks und wachen wie besessen über unsere Körperhygiene, aber hier suchen sie das Fleisch am dörflichen Marktstand aus, der voller Fliegen und schwarz geronnenen Bluts ist; wir halten uns im Hintergrund, wenn uns nicht gerade übel ist. In den Nächten danach stellen unsere Mütter mit trübem Blick fest, dass wir uns übergeben haben, dann gehen sie wieder schlafen, und wir bleiben teilnahmslos, erschöpft und mit wirren Haaren im säuerlichen Geruch unserer schmutzigen Laken zurück.

Zacs Mutter, die in unförmigen Jeans, mit zerzaustem Haar und dunklen Rändern unter den völlig ungeschminkten Augen von der Fähre gegangen ist, verwandelt sich hier in eine erotische Diva mit üppigen Formen. Sogar auf das Grabungsfeld geht sie in extravaganten Bikinis und Miniröcken und trägt so zu einem plötzlichen Temperaturanstieg in der ohnehin schon drückenden Hitze bei. Abends in der Taverne tanzt sie barfuß, die Arme in die Höhe gereckt, ihre Achselhöhlen sind verblüffend weiß.

Obwohl Zacs Mutter immer nur kurz bleibt – ihren Sohn lässt sie in der Obhut des Archäologen-Onkels zurück, dem einzigen Asketen der Gruppe –, gibt sie den Ton an. Wenn sie wieder abreist, ihre Starallüren abgelegt hat und Zac an der Pier einen halbherzigen Abschiedskuss gibt, die Zigarette in der Hand, drückt sie uns für den restlichen Sommer ihren Stempel auf, stanzt ihr Bild auf unsere Netzhaut. Die letzte Zigarettenkippe mit karminroten Spuren, die auf dem Tisch im Hafencafé liegen bleibt, verschwindet zuverlässig, ein heimlicher Talisman unter der Matratze oder in einer Papadopoulos-Keksdose.

In einem August, in der größten Sommerhitze. Obwohl sie nur zwei Wochen da sind, haben wir nur Augen für sie. Sie halten den Ort besetzt, beschlagnahmen das Licht, durch ihre Anwesenheit erhält alles eine ungewöhnliche Intensität und Färbung, die Luft wird trocken, wir können kaum atmen.

Er ist irgendeine Art von Künstler, der mit dem Grabungsfeld nichts näher zu tun hat. Eigentlich soll er einen Dokumentarfilm drehen, aber wir sehen ihn nie bei der Arbeit, nicht einmal mit einer Filmkamera oder einem Fotoapparat in der Hand. Anders als unsere Väter trägt er die Haare halblang; er hat feingliedrige Hände, einen Silberring an beiden Zeigefingern und am rechten Handgelenk ein Lederarmband. Er ist Deutscher, braun gebrannt, wir halten ihn für eine Mischung aus Skilehrer und James Bond und stellen uns vor, wie er in einer traumhaften Bergwelt elegant und in gleichmäßigen Schwüngen über makellose Pisten saust.

»Amore, Schatz.« Sie turteln und küssen sich auf den Nacken, eine Hand berührt die Haut, schiebt sich unter das zarte Geflecht eines durchsichtigen Stoffs. Die beiden haben die Veranda, von ihren Bewohnern seltsamerweise verlassen, in Beschlag genommen. Sie sitzt auf seinen Knien, und am Eckpfeiler, unserem Beobachtungsposten, blicken wir mit glühenden Wangen in die andere Richtung. Neben ihm liegen immer ein Päckchen Zigaretten, ein Notizheft und ein Bleistift, über den er mit dem Daumen streicht, ohne je etwas aufzuschreiben. »Komm her.«

Sie trägt die knappsten Shorts, die wir je gesehen haben, und tief ausgeschnittene, ärmellose T-Shirts, die ihre runden, bloßen Schultern zeigen. Anders als er gibt sie nicht vor zu arbeiten. Sie geht nur von einem Zimmer ins andere – schlank, temperamentvoll und schweigend –, auf dem Gang durchbohren uns ihre grünen Mandelaugen.

»Cosa dici?« Während der Siesta bleiben sie stundenlang verschwunden. Wir treiben uns auf dem Gang herum, zitternd vor Ungeduld und mit gespitzten Ohren. Wir wundern uns über ihre Schamlosigkeit, mehr noch als über die Nacktheit der Forestiers einige Sommer später.

Dann reist sie vor ihm ab, er bringt sie zur Pier. Frustriert beobachten wir ihre letzte leidenschaftliche, erotische Umarmung. Die Fährpassagiere drehen sich nach ihnen um, die Crew verpfuscht das Anlegemanöver. Während sie sich den Kuss des Jahrhunderts geben, können wir nichts weiter tun, als uns schmerzlich den Geschmack der warmen Zungen auszumalen.

Allein zurück im Grabungshaus, streift er umher wie ein Tiger im Käfig, mit geschmeidigem Gang und betörendem Lächeln. Während die anderen auf dem Grabungsfeld sind, lungern wir überall herum.

Drei Tage später spionieren wir Zac hinterher und entdecken hinter der Bürotür überraschend seine Mutter: den Arm, der ihre Taille umfasst, den durchgebogenen Rücken und ihr Lachen.

Abends strahlt sie. Wenn sie in der Taverne tanzt, sieht man unter dem geschlitzten Rüschenrock ihre bloßen Schenkel. Wir weichen Zacs Blicken aus, so gut es geht, zum Glück starrt er stur auf seinen Teller. Als seine Mutter dann eines Morgens den anderen zur Pier bringt, weil er nun seinerseits abreist, der ruhmbekränzte Verführer, sind wir enttäuscht: Die leidenschaftliche Umarmung fällt diesmal aus.

Ein Blick aufs Meer, eine hängende Schulter, die Haare vom Wind zerzaust, das nervöse, vergebliche Reiben am Feuerzeug (den herbeistürzenden Chef des Fährbetriebs, der ihr beflissen die dünne Zigarette anzündet, ignoriert sie) und die Rückkehr von Zacs Mutter zum leeren Haus, mit kleinen, vorsichtigen Schritten.

Unsere Väter – die wenigen Archäologinnen, die es gibt, sind Single – sind witziger, abgedrehter und lässiger als wir. Sie nehmen ihre Wissenschaft sehr ernst, alles andere ist ihnen egal.

Schon frühmorgens mühen sie sich auf dem Grabungsfeld ab, nach der Siesta ziehen sie sich zum Arbeiten zurück, und abends diskutieren sie in der Taverne endlos über verworrene Wissenschaftsfragen, in denen wie aufregende Geheimnisse immer wieder die Wörter Chronologie, Anastylose und Epigraf auftauchen. Doch dann kippt alles, sie lassen die anstrengende Arbeit hinter sich und werden zu lüsternen Mönchen: Jetzt zeigt sich ihre zweite Natur. Ihr Humor ist seltsam vulgär, »graben« und »bohren« ermöglichen in der Tat viele Anspielungen. Mit vorgespieltem Ernst weihen sie uns in die alte Kunst der schlüpfrigen Schüttelreime und der großen Rede ein, in der es natürlich um das antike Griechenland und ungewöhnliche Grabungen geht und sich auf wundersame Weise aus einem Wort das nächste ergibt.

Sie sind unumstrittene Meister in Scherzen aller Art. Prunkvoll laden sie, auf weißem Velinpapier, zu Davieros Hochzeit ein: Der ewige Junggeselle heiratet eine neunzigjährige dänische Aristokratin mit unaussprechlichem Namen. Und wie Plakate im ganzen Dorf verkünden, eröffnet Forestier im Inselstädtchen ein belgisches Restaurant, frittierte Miesmuscheln und Aal in grüner Soße sind die Spezialitäten des Hauses. So sicher wie das Amen in der Kirche folgt ein Streich auf den nächsten, und am erstaunlichsten ist, dass sie stets gelingen; Daviero erhält fünfundvierzig Glückwunschkarten, und aus der bescheidenen Kneipe auf dem Plakat wird nach der angeblich historischen Eröffnung tatsächlich das beste (und einzige) Bierlokal der Insel. Das ist ihre Macht: Ihr Gefasel wird Wirklichkeit.

Wir bewundern jeden Einzelnen. Scheinbar wollen sie alle, wie die Avengers, durch irgendetwas auffallen, durch einen raffinierten Spleen, ein überraschendes Talent. Castella, der gefürchtete Pokerspieler, kann auf Zacs Wuschelkopf ein Kartenhaus errichten. Steinbrechers Badehose im Leopardenlook wird am Strand von Touristen staunend bewundert. Brovski kann, mit dem Geruchssinn eines Trüffelschweins, Scherben allein durch Schnüffeln datieren und beim Metzger genauso zuverlässig das Fleisch beurteilen. Gerhard Bauer trägt seine ewig schwarzen Handschuhe selbst in der größten Sommerhitze, und Menaud begeistert sich für antike Abwassersysteme und schließt sich – vielleicht deshalb? – zum Lesen abends im Klo ein.

Und Daviero, der Unverwüstliche, ein Unfall pro Monat. Kaum hat er das eine Auto zu Schrott gefahren, in alle Einzelteile zerlegt, mietet er ein neues, und es passiert genau dasselbe, fast in derselben Kurve und derselben Woche. Wenn die anderen ihn morgens aus dem Graben ziehen, sind sie erstaunt, dass er überlebt hat, wie durch ein Wunder unverletzt, na ja, ein paar blaue Flecken vielleicht, eine Schnittwunde oder eine kleine Verstauchung, aber nie bleibt mehr zurück als ein ordentlicher Brummschädel. Daviero ist unser Vorbild, wir verbringen ganze Tage damit, aus zerquetschten Geranien Wein herzustellen, seinen Rausch und den Unfall nachzuspielen, den wir am Ende heldenhaft überstehen.

In Brüssel heißt Niso einfach Denis, aber der Vorname kommt ihm so banal vor wie sein Nachname, so traurig und gewöhnlich wie die auf Abfälle spezialisierten Welse, die sich tagtäglich mit sturer Gefräßigkeit durch die Sedimente wühlen.

Sein Vater kennt sich mit Fischen fast genauso gut aus wie mit den Tonscherben: Er weiß, wie sie heißen, nennt dozierend ihre lateinischen Namen und erläutert ungefragt jede kleinste entwicklungsgeschichtliche Besonderheit. Am Wochenende gehen die beiden in große Zoohandlungen und suchen nach neuen Exemplaren. Am Eingang schnürt ihnen der wilde Geruch der eingesperrten Tiere (Frettchen, Kaninchen, Vögel) noch die Kehle zu, doch im nächsten Raum beruhigt sie der schwache Duft sich zersetzender Algen. Niso liebt es, mit seinem Vater minutenlang schweigend im blauen Lichtspiel des Aquarienraums zu stehen, vor den angelaufenen Scheiben, und den bunten Fischen dahinter zuzusehen, der Vater endlich verstummt, die Gesichtszüge entspannt. Bis er mit seinen Adleraugen plötzlich einen Fisch mit kaum sichtbarem Pilzbefall bemerkt und so energisch, als müsse er einen nahen Verwandten retten, nach dem Verkäufer ruft.

Wenn Nisos Vater ein Meerestier wäre, dann wäre er ein Siamesischer Kampffisch: Betta splendens breitet seine farbenprächtigen Bauch- und Schwanzflossen schon bei der geringsten Gefahr aus, um Feinden, selbst doppelt so großen, zu imponieren. Nisos Vater besitzt eine beeindruckende Überzeugungskraft; jeder seiner Sätze endet mit einem drohenden »Oder etwa nicht?«, auf das man allerdings besser nicht antwortet, denn nach Gegenargumenten schnappt er wie eine Muräne nach dem Finger eines Tauchers, wobei er seinem Gegenüber nicht einmal Zeit zum Luftholen lässt und bereits eine hochgezogene Augenbraue als regelrechten Angriff versteht. Forestier zu widersprechen, bekommt keinem gut: Auf Kongressen meidet man ihn wie die Pest, keiner will mit ihm im Promotionsausschuss sitzen. Auf der Insel erfinden alle Ausflüchte, um ihm höchstens abends in der Taverne über den Weg zu laufen, wenn sich sein polemisches Wesen endlich durch einen großzügigen Ouzo beruhigt hat.

Alle sechs Monate nimmt Nisos Vater einen neuen größeren oder kleineren Glauben an. Erst trank die Familie kein Leitungswasser mehr, weil es angeblich bleiverseucht war. Niso und Evi trauten sich beim Sportunterricht ein ganzes Jahr lang nicht, ihren Durst zu löschen, und fürchteten schließlich, nachdem zwei Schüler eines Morgens aus undurchsichtigen Gründen von der Polizei befragt wurden, wie Nero zu enden und, welch furchtbare Aussicht, die Schule anzuzünden.

Dann waren sie ziemlich radikale, mystische Christen, aber nicht länger als ein halbes Jahr. Am Frühjahrsanfang ließ der Vater sich taufen, eine Ganzkörpertaufe in einem eisigen Fluss. Niso und Evi konnten dem nur mit knapper Not entkommen. Später lernten sie Chinesisch (der Kellner eines nahen Restaurants brachte ihnen die Schriftzeichen bei), machten zu Hause in einer Terrassenecke Tai-Chi und aßen frittierte oder gekochte Insekten.

Zuerst haben Niso die ständigen Veränderungen im Familienalltag gestört. Evi dagegen hat sich scheinbar einfach brav und verständnisvoll gefügt. Vielleicht gehört ihr Vater zu den Arten, die ihre Beute mit meisterlicher Tarnkunst täuschen, die die Farben von Felsen, Algen oder Anemonen annehmen und sich je nach Umgebung verändern können. Doch wie viele Kinder ist Niso formbar und hat sich schließlich angepasst.

Ein verblasstes, verschmiertes Schild am Strand droht den Nacktbadenden auf Griechisch mit der Polizei und unklaren Strafen. Es ist ein Überbleibsel aus den Siebzigerjahren, als langhaarige, splitternackte Jugendliche aus aller Welt scharenweise mit der Fähre herkamen, ihre Zelte aufbauten, Gitarre spielten und verbotene Substanzen rauchten. Splitternackte Jugendliche waren unter der Diktatur nicht willkommen, das Schild zeugt von dieser repressiven Zeit. Im Sommer gibt es noch immer ein bis zwei Razzien, zweifellos aus Tradition: Zwei Polizisten, Helm und protziges Koppel, gehen am Wasser Streife und prüfen mit strengem Blick und spöttisch beäugt die Bikinis der wenigen Touristinnen.

Eines Tages erklären die Forestiers, dass sie sich – entgegen dem Trend – in diesem Sommer für den Nudismus entschieden hätten. Forestier ist, anders als die von ihm gepredigte Natürlichkeit erwarten ließe, ein sehr methodischer Mensch. Darum hat er genau festgelegt, welche Stunden der Nacktheit zu widmen sind und wann sich die Seinen bekleiden dürfen, um den Kollegen, wie er sagt, peinliche Situationen zu ersparen. Vor allem den Arbeitern. Als er am ersten Morgen nur mit einem Panamahut auf dem Grabungsfeld ankam, konnten sie keinen einzigen Hieb mehr tun; sie starrten zu Boden, kippten Schubkarren um, blickten sprachlos in den Himmel. Mit seiner großen Statur, nur mit dem Hut bedeckt, dem dicken Bauch, der ungesund weißen Haut – abgesehen vom Gesicht und von den behaarten Waden – und einem Glied, so purpurrot wie die Hintern der Menschenaffen, erinnert Forestier an bestimmte Szenen in Tierfilmen, die unsere Großeltern aufnehmen und die wir immer wieder gucken, wenn auch mit einem gewissen Unbehagen.

Die anderen Archäologen haben sich schnell daran gewöhnt und sprechen ihn nicht darauf an; sie kennen seinen Jähzorn. Doch hinter Forestiers Rücken und in der Taverne machen sie verstohlen immer wieder denselben Scherz mit dem »Nacktquartier«, dem Grabungsfeld »Quartier Nu«, was durch die ständige Wiederholung fast lustig wird. Niso spricht nicht darüber, und wir fragen nicht nach. Wir wissen, wie schnell er sich schämt. Es entspricht nicht seiner Natur, sich in der Öffentlichkeit auszuziehen, er weicht unseren Blicken aus.

Zac dagegen war schon immer gern nackt. Mit drei, vier Jahren stolpert er nackig zwischen den Erwachsenen herum und lacht vor Stolz, weil sie überrascht sind. Gleichzeitig ist er schüchtern, manchmal errötet er schon, wenn man ihn bloß anspricht. Aber sich nackt zu zeigen, ist ihm nicht peinlich, es macht ihm Spaß. Oft springt er ohne Badehose in unsere Bucht, das Sonnenlicht und unsere Blicke fallen auf seine Haut, die zu Ferienbeginn noch sehr weiß im Wasser leuchtet. Den ganzen Tag ist er nackt, aber nachts nicht; auch wenn uns die Haare vor Hitze am Kopf kleben, wickelt er sich in seinen dünnen Laken-Kokon, verschwindet fast unter den Falten. Er versteckt sich nicht, er schützt sich: Der dünne Stoff trennt ihn von der Welt, schirmt ihn ab, sperrt Feinde, Albträume und dunkle Schatten aus.

Auch später ändert sich Zac nicht. Viele Jugendliche zeigen sich nicht gern, ziehen die Schultern hoch, aber Zac nutzt noch immer ganz ungeniert jede Gelegenheit. Seine Nacktheit ist spontan und fröhlich, und weil er so schön ist, gucken wir ohne jedes Scham- und Taktgefühl hin. Nach einer kurzen Dusche – seine Kleidung hat er an der Tür fallen lassen – taucht er gern im Gang auf und lässt sich anmutig, als wäre ihm seine Nacktheit gar nicht bewusst, in einen Verandasessel sinken.

Niso nimmt ihn sich zum Vorbild. In dem Sommer, in dem sein Vater ihn dazu zwingt, erscheint er gequält, aber entschlossen am Strand, zieht sich mit herausforderndem Blick aus, faltet seine Kleidung sorgfältig auf dem Handtuch und geht zum Wasser. Als wir ihn so bleich und ruhig sehen, verkneifen wir uns drei Sommer hintereinander jedes falsche Wort und tun so, als wäre nichts. Peinlich achten wir darauf, seinem Vater immer direkt in die Augen zu blicken und nicht einen einzigen Moment wegzuschauen.

Im Lauf der Jahre wird aus den Überzeugungen der Forestiers ein eklektischer Schmelztiegel, der es völlig unmöglich macht, die kleinste Mücke zu erschlagen oder, wenn man sich auch nur annähernd in einer idealen Harmonie mit der Welt wähnen will, einen einzigen Grashalm auszureißen. Eines schönen Tages ziehen sie diesem Ideal folgend aufs Land, sehr zur Enttäuschung des neunjährigen Niso, der nur wenige Freunde hat und jetzt kaum noch neue finden kann. Evi kommt besser damit klar, in ihrem Alter träumt man noch davon, Tierärztin zu werden, und der zärtliche Blick eines Kalbs mit der Nummer 1245 am Ohr ist Glück genug.

In dem neuen Haus soll an zentraler Stelle, mitten im Wohnzimmer, ein Aquarium stehen. Immer wieder malt Niso sich den verheißungsvollen Tag aus, an dem das gläserne Parallelogramm endlich mit Wasser und exotischen Fischen gefüllt sein wird. Er klammert sich an diese Perspektive, um nicht in der wabernden Angst unterzugehen, die ihn manchmal auf dem Rückweg von der Schule packt oder wenn seine Mutter beim Abendessen plötzlich diesen abwesenden Blick bekommt und er nicht weiß, ob sie überhaupt wirklich da ist. Sein einziger Freund, ein Klassenkamerad, ist von allem Morbiden besessen und erzählt ihm ununterbrochen, wie schnell sich ein Mensch unbemerkt in einen Zombie verwandeln kann.

Die Zombie-These bestätigt sich, als ihre Mutter sie ein Jahr später sang- und klanglos, ohne irgendeine Adresse, verlässt. Auf alle Versuche von Niso und Evi, etwas über die Mutter in Erfahrung zu bringen, reagiert der Vater mit trotziger Stirn und feindseligem Schweigen. Das Aquarium bleibt leer, abgedeckt mit einer lächerlichen Pappe, auf die sie zusammen mit Evi im Stil reinster ägäischer Keramik lächelnde Haie, einen springenden Delfin und drei oder vier Kraken malen.

Um das auszuhalten, verhält Niso sich wie ein Steinfisch: das Jahr über eingraben, möglichst stillhalten, abwarten, bis es vorbei ist, und hoffen, dass einen die Strömung im Juni zur Insel trägt.

Manche kommen völlig überraschend nicht mehr. Es ist, als wären sie nie da gewesen, als hätte die Vergangenheit sie verschluckt. Oder glauben wir das nur, weil wir als Kinder ausschließlich in der Gegenwart leben?

Etwa die Sarestis, ein älteres Ehepaar, das mit seiner brennenden Leidenschaft für den Volkstanz einen Sommer lang die ganze Gruppe ansteckte. Sogar Forestier, der seine ganz eigene Sirtaki-Version entwickelte und in puncto richtiger Schrittfolge oder Haltung der rechten Hand keinen Widerspruch duldete.

Oder die wohlgeformte Isabella, die sich barbusig in die Sonne legte; an ihrer bronzefarbenen Haut und ihren großen braunen Brustwarzen konnten wir uns nicht sattsehen.

Oder Ferrand, der vier Sommer hintereinander da war und uns furchtbar alt vorkam, mit schütterem Haar und mageren, schlaffen Oberschenkeln, die wie schlecht zerlegte Hühnerbeine aus seinen Shorts ragten. Doch er hatte jedes Mal eine sehr junge und andere Studentin dabei, »Meine momentane Freundin«, wie er sie uns unbekümmert vorstellte.

Und auch Nisos und Evis Mutter fehlt eines Tages. Niemand kommentiert ihre Abwesenheit oder traut sich nachzufragen, nicht mehr jedenfalls als bei anderen spurlos Verschwundenen. Warum auch? Eine Antwort würde man ja sowieso nicht bekommen.

Zac verschlingt zu der Zeit Science-Fiction-Romane (durch den neuen Ausgrabungsfotografen ist im Arbeitszimmer Philip K. Dick aufgetaucht); als Experte für Raum-Zeit-Spalten liefert er uns die passende Erklärung.

Eine Spalte. Kann man dort hineinsehen? Auf jeden Fall. Die Spalte an der Küste hat uns ausreichend beeindruckt, auch wenn wir neuerdings wissen, dass sie anders als lange geglaubt nicht bis ins Erdinnere reicht, sondern höchstens zwei Meter tief ist.

Kurz gesagt, die Raum-Zeit-Spalte ist eine Art Trichter (»Verstehst du, wie der Trichter, durch den man die Säure auf die Scherben gießt«), durch den unvorsichtige Astronauten eingesogen und irgendwo anders, im Zeitalter von T. rex oder in einer fernen Zukunft, auf der Venus oder in einem Marssumpf, wieder ausgespuckt werden; so wie es der Zufall will, das kann man nicht bestimmen.

Zacs Ton verheißt Unheil. Seine Science-Fiction-Geschichten enden mit grausamem Leid, und genau das bereitet ihm Vergnügen.

»Und dann? Du flunkerst, oder?«

»Und dann kann man sicher sein, dass man sie nie wieder trifft.«

Danach stellen wir uns einige Zeit lang den riesigen intergalaktischen Trichter vor: mit den Sarestis, die bis in alle Ewigkeit fröhlich tanzen und schweben, mit Nisos und Evis Mutter, die uns immer so zärtlich und traurig schien, mit den dänischen Zwillings-Heulsusen, die wir zwei Sommer hintereinander gequält haben, mit dem erotischen Regisseur und seiner grünäugigen Schönheit, mit Jérôme (der stumme Junge aß mit Hingabe seine Popel) und ganz unten vielleicht dem süßen Fellknäuel namens 42.

Die einen gehen, die meisten bleiben, aber im Grunde ändert sich nichts. Die Wege, die Freuden, die plötzliche Erschöpfung sind Jahr für Jahr dieselben. Ein Sommer gleicht dem nächsten wie eine Scherbe der anderen, wenn sie erdverkrustet aus dem Boden kommen. Genau das gefällt uns, dass hier nichts passiert: die immer gleichen Spiele, gemütlichen Abende, tiefen Nächte, ein Sommer, der unmerklich mit einem Schluck zur Neige geht.

Hier gibt es keine extremen Freuden oder Leiden, nur eine wattige Ruhe, ein diffuses Wohlbehagen und Vergessen. Die Prüfungen sind weit weg, die Großeltern sterben nicht, Säufer überleben wundersamerweise die Felsschlucht. Nie passiert auch nur irgendetwas.

Hier können wir leben, hüpfen, woanders schlafen und nach Hause kommen, wie wir wollen: voller Schrammen, Insektenstiche, Kratzer oder Bisse, die Haut vom Salz zerfressen, an den Schultern in Fetzen. Hier können wir halb nackt herumlaufen, mit schwieligen erdroten Füßen, die Shorts voller Flecken, die nie wieder rausgehen.

Hier können wir in der allgemeinen, allseits willkommenen, heiß ersehnten Achtlosigkeit draufgehen.

Nur hier sind wir einzigartig

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