Читать книгу Aus dem kalten Schatten - Christine Bendik - Страница 7

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Paul

Manhattan

9:30 Uhr

»Hier lang, Officers«, sagte die Frau, dürr wie ein Ast, in einem Kleid im Stil der Sechzigerjahre, die sich als Ava Davi, die Eigentümerin des Lofts, vorgestellt hatte. Sie war brünett gefärbt mit grauen Haaransätzen, blass und schmallippig. Paul hatte von ihr gelesen und er wusste, dass Jade ein gern gesehener Gast in ihren berühmten Ateliers war.

»Den Rest des Hauses hat der Verkäufer mir großzügig zur Verfügung gestellt«, so hörte er, »solange sich kein Mieter findet. Aber das meiste spielt sich hier auf der dritten Etage ab.« Hinter seinem Rücken räusperte sich Craig und sagte, geräuschvoll sein Funkgerät verstauend, »die CSI ist unterwegs, Chief.«

»Gute Arbeit, danke, Craig.«

Aus den Augenwinkeln glaubte Paul, eine Gestalt über den Flur huschen zu sehen, schmal, geschmeidig, zielstrebig. Jade? Die Hoffnung starb zuletzt, und er wünschte, dass es so wäre. Dass Jade im Haus wäre. Dass sie lebte.

Er trat in den Hof, wo ihn bleierne Stille empfing. Nur ein frühes Goldzeisigpärchen, das unter dem Vordach der Treppe brütete, protestierte schnatternd bei seinem Erscheinen. Ein Junges saß am Nestrand und flatterte, das Schnäbelchen offen, mit den Flügeln.

»Ein Leben kommt und eines geht«, schoss es Paul durch den Kopf. Unter dem Vordach hervor erfasste er mit einem Blick eine Steinmauer, ein an die Ateliers grenzendes Nebengebäude mit Lagerhalle und unter seiner Dachschräge einige Requisiten, die hier draußen eine Art letzte Ruhestätte gefunden hatten: die Statue eines griechischen Gottes, ein Karussell mit bunt lackierten Pferdchen, ein Pfauenthron aus filigranem Flechtwerk, ein Kleiderständer mit ausgemusterten Schnittteilen, über den eine Plane gezogen war. Eine Hollywoodschaukel.

Sein Blick wanderte weiter, während er die Stufen hinabschritt.

»Es ist gleich hier vorne«, sagte Ava. »Der Hausmeister hat sie entdeckt. Ich hatte Mr Faulkner gebeten, den Hof auszufegen – für ein Shooting, und dann …«

Paul folgte ihr, Schritt um Schritt. Ein blühender Jacarandabaum, geschätzte zehn Meter hoch, dominierte den Innenhof. Irgendwann vor vielen Jahren mochte er als zartes Pflänzchen in ein kleines Erdloch versenkt worden sein und heute durchbohrten seine Wurzeln den Asphalt. Eine Menschentraube stand sprachlos davor.

Pauls Hals wurde eng. Er erkannte die Umrisse einer Frauengestalt, die wie eine skurrile Frucht mit dem leicht nach hinten geneigten Baumstamm verwachsen schien. Er hatte nicht gewagt, nach dem Namen zu fragen. Was, wenn er das tote Mädchen kannte? Wenn es Jade war? Von der Figur her passte es. Dazu eine ähnliche Haarfarbe …

Vor ihm ging Craig und stieß ein ungläubiges »Jesus« aus.

»Bitte, Leute«, hörte er Ava sagen, als er sich, an Craig vorbei, einen Weg durch die Menge bahnte. »Seid doch vernünftig. Geht zurück an die Arbeit.« Sie unterstrich ihre Ansage an die Zuschneider und Näherinnen, die Stylisten und Visagisten, mit einem hektischen Wedeln ihrer Hand.

»Tun Sie, was Misses Davi sagt«, sprang Craig der Chefin zur Seite. »Hier gibt es nichts zu sehen.«

Paul befürchtete doch. Einige der Mitarbeiter zogen ab und eine kleine Schneise entstand zwischen den Schaulustigen, die Paul den Weg zu dem Opfer frei machte.

Nur nebenbei registrierte er den würzigen Blütenduft, der die fast tropische Frühsommerluft schwängerte. Langsam wanderte sein Blick über die am Boden verstreuten Klamotten, aufwärts zu den nackten Beinen des Mädchens, weiter über den Kleidersaum nach oben. Er starrte in ihr Gesicht. Sein Anblick verschlug ihm den Atem, doch ohne, dass er es verhindern konnte, produzierte seine Kehle einen quiekenden Ton. Das hier war nicht Jade, und er schämte sich nicht dafür, dass er Erleichterung empfand.

»Ist es nicht schrecklich?« Ava schluchzte auf und presste die Hand vor den Mund. »Wer tut denn so was?«

»Hübsches Ding«, entfuhr es Craig und aller Augen schauten auf ihn. Ava ließ einen erstickten Laut hören. Paul blickte Craig tadelnd an.

»Eins meiner fähigsten Mädchen. Suzan Wickles«, fuhr Ava fort. »Hatte eine große Karriere vor sich. Sie war erst siebzehn. Nein, achtzehn. Gerade ein paar Tage. Wir wollten groß feiern, alles bis ins Detail geplant … Wird wohl eine Trauerfeier.«

Ein Seil um den Brustbereich verband die Tote mit dem Baumstamm. Zusätzlich waren die Handgelenke mit Tüchern an einem der tief herunterhängenden Äste befestigt. Eine von Strass-Steinen in der Sonne glitzernde Augenmaske, die unpassend zu dem Hochzeitsoutfit wirkte, hing an einem dünnen Gummi um ihren Hals, und um den Mund herum gab es Heftpflasterspuren, was auf eine vonstattengegangene Knebelung hinwies, die später wieder rückgängig gemacht worden war. Wahrscheinlich aus dem Grund, weil das Mädchen gewürgt und sich erbrochen hatte. Spuren von Mageninhalt auf ihrem weißen Kleid zeugten davon.

Der Kopf war auf ihre Brust gesunken und eine Haarsträhne hing ihr wirr wie ein Spinnennetz in die Stirn. Etwas Schwarzes klebte an ihrer Hüfte. Sah bei näherem Betrachten aus wie der Saugrüssel eines Falters.

»Gott, was für ein Baby!«, ging es Paul durch den Kopf. Ihr Schmollmund schien eben noch sagen zu wollen: »Ich will nach Hause, zu meiner Mom«. Was hatte Ava Davi erzählt? Gerade mal achtzehn? Kein gutes Alter, um mutterseelenallein um die Welt zu reisen. Um ständig auf Diät zu sein.

Um zu sterben.

Leichenflecke waren sichtbar, vor allem an den Beinen.

»Drei Messerstiche in der Herzgegend«, stellte Craig fest. »zentimetertief. Akkurat gesetzter Abstand. Messer – oder Dolch? Könnten symbolischen Charakter haben.«

Paul nickte. Um die Wunde herum sprossen rote Flecke auf dem Kleid wie ein Tintenbild. Auch aus Suzans Mund rann ein Faden bereits geronnenen Blutes, woraus Paul schloss, dass sie schon einige Stunden als Leiche hier draußen verbracht hatte.

Die Hitze des Tages staute sich innerhalb der Mauern und Paul tupfte sich mit einem Zipfel seines Taschentuchs den Schweiß von der Stirn. In seiner Hosentasche fand er zwei Paar Vinylhandschuhe, die er vorhin dem Handschuhfach des Streifenwagens entnommen hatte. Routiniert zog er sie über, unterdessen Craig erneut an die Vernunft einiger Hartnäckiger appellierte, doch bitte die Polizei ihre Arbeit machen zu lassen und freundlichst das Feld zu räumen.

»Wissen Sie, wir sind sonst wenig bis gar nicht hier draußen«. Ava flüsterte fast. »Die Hoftür ist abgeschlossen. Die meisten Fotografen, mit denen ich zusammenarbeite, bevorzugen unser hauseigenes Fotostudio. Dabei sind die Lichtverhältnisse ideal. Und jetzt, wo der Baum so schön blüht … ein toller Hintergrund für ein besonderes Shooting.«

Sie zog ebenfalls ein Taschentuch hervor und schnäuzte sich kräftig. Pauls Hände begannen in den sterilen Handschuhen zu schwitzen, während er vorsichtig die Leiter nach Spuren abtastete. Er meinte, vorhin einen ganz bestimmten Namen eines Fotografen aus Avas Mund gehört zu haben. Klar und deutlich stand Joe Wisemans Visage vor ihm: der Typ, der einfach die älteren Rechte gehabt und damals Jade frisch von der Uni weg entführt hatte. War der Wahl-New-Yorker hier vor Ort?

»Das geplante Shooting im Hof war also die berühmte Ausnahme?«, spann Paul den Faden weiter und fixierte Ava dabei. Ob dieser Ort unter freiem Himmel eine besondere Rolle bei der Tat gespielt hatte?

»Kommt nicht alle Tage vor«, antwortete Ava, »dass meine drei Besten … im Gesamtpaket …«

»Die da wären?«

»Suzan Wickles, Jade Duncan und Serah Conally. Letztere im Übrigen Jade Duncans Schwester.«

Paul nickte abwesend. Serah Duncan, wie sie damals noch hieß, hatte Jade ein paarmal von der Uni abgeholt, er erinnerte sich dunkel an sie: sehr dünn, sehr schüchtern und sehr korrekt in ihrer Art, in Richtung »verkniffen«. Ob das heute noch so war? Manchmal drehten sich Leute im Laufe ihres Lebens um hundertachtzig Grad – nicht nur rein äußerlich. Der schüchterne Lockenkopf, der viel zu lange an Moms Rockzipfel hing, wurde zum glatzköpfigen Draufgänger und die Rebellin, die auf jeder Demo gegen alles und jeden zu finden war, heiratete ganz spießig und kaufte ein Häuschen im Grünen. Serah, das war ihm noch präsent, hatte eine Ausbildung als Krankenschwester am Mount Sinai Hospital, unweit der Uni, absolviert. Dass sie Model geworden war, war ihm neu.

»Serah Conally«, wiederholte er. »Verheiratet?«

»Witwe. Ihr Mann, Marc Conally ist leider sehr jung und ganz tragisch verstorben. Lebensmittelvergiftung.«

Paul wechselte einen Blick mit Craig. Ava fuhr fort.

»Serah führt sein Tattoostudio weiter. Ziemlich erfolgreich, wie man so hört. Hier in New York.« Das erstaunte ihn dann doch. »Das heißt, das Modeln ist nicht ihr Hauptgeschäft.«

Paul reizte es, die Leiter hochzusteigen zu dem toten Mädchen und den Tatort aus anderer Perspektive zu betrachten. Er unterließ es, um nicht unnötig Spuren zu verwischen. Inzwischen badeten seine Hände im eigenen Saft und er fragte sich, wann endlich die nächste Ladung schweißabweisenden Labormaterials in der Zentrale eintraf.

Ava nickte. »Hin und wieder werden Tattoo-Models gebucht. Momentan brauche ich sie aber für einen speziellen Kunden, der früher mal Hochzeitsmessen betreute. Er war bei dem Walk damals ganz vernarrt in mein Trio. Sie hätten so was Geheimnisvolles und Mystisches.«

»Sie meinen Suzan, Serah und Jade?«

»Damals war es ein ganz besonderes Trio. Suzan lag mit Grippe flach. Flynn Duncan sprang kurzfristig ein. Das ist der Bruder der Duncan-Frauen. Als Bräutigam passte er gut ins Bild. Er ist ja ein schmucker Kerl und die Rolle des Models war ihm total auf den Leib geschrieben. Leider blieb sein Walk die absolute Ausnahme.«

»Das Shooting im Hof«, kam Paul wieder zum aktuellen Geschehen. »Wer war der Auftraggeber?«

Ava schniefte. »Sie kennen sicher die Zeitschrift »Pure«? Derzeit marktführend in Sachen Fashion.«

Paul sah Craig etwas hilflos an, doch da geriet er an den Falschen. Mit Mode hatte der wenig Kontakt, er verließ sich, was sein Outfit betraf, wohl auf den Ratschlag seiner jeweiligen Flamme, und auch Pauls Beschäftigung mit dem Thema beschränkte sich auf die dringend notwendigen Einkäufe.

»Ähm – ´Pure`. Klar. Hätten Sie die Kontaktdaten für mich?«

Ava händigte ihm eine Visitenkarte aus, die er in seiner Brieftasche verstaute. Nur langsam ging sein Blick wieder zu der Toten, und er entschloss sich, ein paar Fotos zu schießen: von Suzan und ihren klaffenden Wunden wie roten Mündern. Von der kleinen, noch leicht glänzenden Lache aus Blut und Urin auf dem Boden, auf der heruntergefallene Blüten thronten. Außerdem von den Utensilien, die hier so herumstanden und von dem Schmetterlingsrüssel auf Suzans Kleid. Jedes ungewöhnliche Detail versuchte er einzufangen. Zuletzt kniete er vor der Toten nieder und fotografierte ihr Gesicht aus der Froschperspektive. Die blicklosen Augen waren zur Hälfte geöffnet. Ihr Licht mochte im Moment der bittersten Verzweiflung erloschen sein. Sie schienen noch einen bestimmten Punkt zu fixieren. Die Visage des Mörders?

Am Eingang tat sich etwas. Detective Mel Stanton betrat die Szene: verwaschenes Blond, wacher Blick und, wie die Zusammenarbeit der letzten fünf Jahre bewies, körperlich fit und wendig und von scharfem Verstand.

Paul und Mel begrüßten einander per Handschlag. Unter Avas leeren Blicken trat der Detective zur Leiche. Ihm dicht auf dem Fuß folgte der Ermittlertrupp: mehrere Männer und eine Frau vom CSI, in ihren hellen Schutzanzügen und mit den Spurensicherungskoffern. Ein Kollege gesellte sich zu Paul, Craig und Ava, und stellte die nötigen Fragen, während ein Mitarbeiter Skizzen anfertigte und ein weiterer nach unentdeckten Blutspuren suchte für die Blutspurenanalysten. Ein Dritter sicherte Fingerabdrücke mittels Rußpulver und Klebefolie.

Ermittlerin Winnie Lovett, Ende vierzig und eine Figur wie eine Vorpubertäre, nickte Paul knapp zu, bevor sie etliche Fotos vom Fundort und von der Leiche knipste. Noch vor Weihnachten letztes Jahr hatte Winnie ihm Avancen gemacht, doch er konnte ihrer zynischen Art nicht viel abgewinnen.

Mel Stanton trat zu Paul, der nun mit Craig ein Stück abseits des Tatorts stand und die Tote aus ein paar Schritten Entfernung betrachtete. Manchmal verhalf ein neuer Blickwinkel zu neuen Erkenntnissen. Paul überragte Stanton um mindestens einen Kopf. Er hatte ihn größer in Erinnerung.

»Hi Paul«, meinte der. »Kann nicht sagen, dass ich mich freue, dich heute zu sehen. Was verschlägt dich in die Gegend?«

Paul legte den Arm um Craigs Schultern. »Mein lieber Freund Craig hier. Sehnsucht nach den alten Zeiten, stimmt’s, Craig? Und Zahnweh.« Vorsichtig befühlte er bei der Gelegenheit seine Wange – alles schien gut. Stanton schob fragend die Augenbrauen zusammen.

»Und natürlich das Mädchen«, fügte Paul rasch hinzu. »Böse Sache. Hätte mir meinen Tag anders gewünscht.« Ava neben ihm schniefte erneut in ihr Taschentuch. Stanton atmete zischend aus.

»Es gibt so Zeiten …« Mit einem Seufzer brach er ab. Paul vollendete den Satz in Gedanken. … Zeiten, in denen man seinen Job als Ermittler verfluchte.

»Wer hat das Mädchen gefunden?« Stanton blickte in die Runde.

»Es war der Hausmeister, Mr Faulkner«, erwiderte Ava. »Er sagt, er kann sich keinen Reim darauf machen, wie sie nach draußen gelangt ist. Vorder- und Hintertür der Halle waren sorgfältig abgeschlossen. Und nur Mr Faulkner und ich haben einen Schlüssel.« Sie zog einen Schlüsselbund aus ihrer Rocktasche und hielt ihn den Beamten unter die Nase. Das hieß, der Täter musste sich hinter Avas Rücken einen Schlüssel verschafft haben.

»Ah, da ist ja Mr Faulkner!«, rief Ava aus und deutete auf den Mann mittleren Alters mit ausgeprägter Stirnglatze, der soeben zu ihnen trat. Er sah seine Chefin nicht an, als er sich den Beamten mit seinem Namen vorstellte.

»Bin noch mal in mich gegangen«, sagte er kleinlaut zu Paul. »Kleiner Nachtrag zum Thema Schlüssel. Ist schon einige Wochen her – also die Sache ist die: Margie hat jetzt auch einen.«

»Margie Fox, die Garderobiere?«

»Genau. Sie bringt manchmal Sachen zum Lüften raus. Sie glauben gar nicht, wie die Frau nerven kann: ´Wenn man Sie braucht, Faulkner, sind Sie verschollen. Wo treiben Sie sich bloß ständig herum? Vermieten Sie ihr Büro doch unter!` Was soll ich sagen? Seither ist Ruhe.«

»Sie haben – was? Faulkner! Ich glaube, ich höre nicht recht. Ohne es mit mir zu besprechen? Das gibt eine saftige Abmahnung, ist Ihnen das klar?«

Pauls Blicke flogen von Faulkner zu Ava. Es war ganz sicher eine gute Idee, die beiden Streithähne zügig zu trennen. Sollten sie doch später ihren Kleinkrieg unter vier Augen austragen. Die Art und Weise, wie sie miteinander umgingen, überzeugte ihn davon, dass zwischen Chefin und Mitarbeitern nicht immer eitel Sonnenschein herrschen dürfte. Wie hatte Ava wohl menschlich zu Suzan Wickles gestanden?

»Danke, Mr Faulkner, wir kommen dann später auf Sie zurück.« Stanton nahm Paul das Wort aus dem Mund. Faulkner sowie vor allem die festen Mitarbeiter von Ava Davi würden in diesen Tagen noch ein ausführliches Interview mit der Polizei haben, ob in den Ateliers oder auf der Dienststelle.

Die Leute waren in die Häuser gegangen und hatten Suzan ihrem letzten Date mit den Ermittlern überlassen. Paul, Craig und Ava waren Stanton zurück an den Tatort gefolgt.

»Miss Wickles Blut konzentriert sich auf sehr begrenzte Bereiche«, stellte Stanton fest, mit einer halbkreisförmigen, das Opfer und den Baum umfassenden Bewegung seiner Arme.

Paul nickte. »Die Messerattacke als Todesursache schließe ich aus. Das Wesentliche dürfte sich direkt hier an Ort und Stelle abgespielt haben.« Still betrachtete er die Tote. »Wahrscheinlich hat der Kerl sie bedroht, mit dem Dolch. Sie haben zusammen den Hof betreten. Oder war das Opfer vorher schon da? Das Mädchen musst noch gelebt haben, als der Kerl mit dem Dolch …« Aber das wollte er sich noch nicht einmal ansatzweise vorstellen. Endlich entledigte er sich der Handschuhe und ließ frische Luft an seine Haut.

»Was macht dich da so sicher?«, klinkte Craig sich ein.

Paul deutete auf den kleinen roten Fleck direkt unterhalb des Mädchens. »Sie hat kein Blut im restlichen Hof verloren, und sobald das Herz stillsteht, hört der Blutfluss auf. Ich wundere mich nur … Außer ein paar kleineren Blutergüssen an den Armen sind kaum Kampfspuren zu erkennen.« Der eine oder andere Zweig in der näheren Umgebung der Leiche war abgebrochen, doch das war es dann auch schon, was auf ein Gefecht hindeuten mochte.

Craig nickte. »Könnte auf eine Sedierung vor dem Tod hinweisen«, ergänzte er Pauls scharfsinnige Kombinationen. Paul nickte grimmig. Das hoffte er.

»Die Platzwunde seitlich am Kopf?«, fragte Craig.

»Womöglich ein Sturz, in letzter Sekunde. Aber warten wir den Bericht des Coroners ab.«

»Eins steht fest: Der Täter hat ein Faible für Theatralik«, meinte Stanton und in der Tat sah das Ganze aus wie die bühnenreife Inszenierung eines Thrillers. Der in diesem Hinterhof seinen Anfang genommen hatte. Suzan Wickles Teint schimmerte bleich im Sonnenlicht hinter blütenübersäten, doch noch blattlosen Zweigen des Jacarandas. Selbst jetzt, dachte Paul bitter, brauchte das Mädchen die Kamera nicht zu scheuen. Er wünschte, es wäre so, und Suzan gäbe nur die hübsche Leiche für »CSI New York« ab. Leider war das hier echt.

Stanton suchte Pauls Blick. »Ich teile deine Theorie. Sie muss noch gelebt haben, als der Kerl zustach.«

Erst als Ava aufstöhnte, wurde Paul klar, was sie angerichtet hatten. Ava war definitiv keine Kandidatin für die deutlichen Dienstgespräche. Ruhig, sachlich und diskret bleiben, egal was kommt. So wenig wie möglich preisgeben und nach außen dringen lassen. Die Basics lernte man früh im Beruf. Darin enthalten war bei Befolgung ein gewisser Eigenschutz vor den unberechenbaren Emotionen der Leute.

»Craig, würdest du bitte?«

»Klar, Chief. Kommen Sie, Mrs Davi, wir gehen schon mal rein.«

»He Boss?«, rief einer der jüngeren Ermittler von der anderen Baumseite her. »Ich hab da was für Sie.« Automatisch drehte Paul sich zu ihm um, nur um festzustellen: Er war gar nicht gemeint. Er spielte nicht mehr in dieser Liga, die Zeit als Detective war lange vorbei und er zum Bürohengst mutiert, zu einem, dem man die Fälle in schriftlicher und digitaler Form unterbreitete. Es stimmte, was Craig sagte. Man lebte weniger gefährlich. Doch im Grunde seines Herzens war Paul der Macher geblieben. Auch wenn er nur zufällig in die Sache hier hineingeschlittert war: Wie konnte er stillhalten und darauf warten, dass andere den Job erledigten, Beweismittel sicherstellten, Puzzleteil für Puzzleteil aneinanderfügten und den Täter dingfest machten?

Dass er in der Chefetage saß, lag nur an den Frauen. An Jade, die schon zu Uni-Zeiten nichts mehr von ihm hatte wissen wollen, sodass er sich neben belanglosen Frauengeschichten in die Arbeit gestürzt hatte. An seinem verstorbenen Töchterchen Florina, dem er ein besseres Leben hatte bieten wollen, als er es in seiner kargen Kindheit in Minnesota gehabt hatte. An seiner Ehefrau Mia, die der Kaufsucht erlegen gewesen war, gern schöne Kleider getragen, Gäste eingeladen und das Haus mit hübschen Dingen ausgeschmückt hatte, um die Tatsache zu verdrängen, auf welch dünnem Eis sich ein einfacher Cop wie Paul bewegte. Dass jeden Tag und jeden unbedachten Moment irgendein Irrer ein Messer zücken konnte …

»Ich muss dann«, sagte Stanton. »Halt die Ohren steif, Paul! Mrs Davi, Officer!«

Paul warf einen letzten Blick auf Suzan, um sich danach ebenfalls in Richtung Ausgang zu wenden und das Einsatzteam seine Arbeit machen zu lassen. Mehrere Männer waren mit der Bergung der Leiche mittels einer Bahre beschäftigt. Ein jäher Windzug ließ blau-lila Blüten auf ihr Haar regnen. Die Szene hatte etwas kindlich Verspieltes und gleichzeitig bot Suzan ein Bild des Schreckens und der maßlosen Grausamkeit.

Im Nest unter dem Vordach suchte er beim Verlassen des Hofes nach dem Goldzeisigjungen. Er hatte kein Glück. Das niedliche Ding hatte inzwischen wohl seine Flügel entdeckt.

Aus dem kalten Schatten

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