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II – Der Weg Kapitel 1

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Kein farbenfroher Blumenteppich wie im Mongegrund. Keine hellen Vogelstimmen wie im Drei-Morgen-Wald. Kein Trübsal hervorrufenden Sümpfe. Keine morastigen Ebenen. Kein totes Felsland und keine lehmige Einöde. Dies hier war eine ganz andere Welt, als Sara sie bisher gekannt hatte. Die Macht, die von diesem Land ausging, war beinahe körperlich spürbar, sie schien verbündet zu sein mit den Naturgewalten, ohne sich von ihnen unterwerfen zu lassen und sie offenbarte sich in wilder Schönheit. Fruchtbares, dunkles Grün in Gras und Laub, kristallfarbenes Wasser in Bächen und Flüssen, blendendes Weiß und kaltes Blau und Grau in Himmel und Wolken... das unnachgiebige Schwarz der Raben, des Hengstes, der Stadtmauern.... das waren die Farben Cycalas. Und bei Nacht würden Mond und Sterne in strahlendem Silber vor samtenem Blauschwarz über dieses Reich wachen.

Sara verstand nicht recht, warum sie von diesem Bild so gebannt war. Vielleicht, weil sie etwas ganz anderes erwartet hatte. Was hatte Beema, ihre frühere Tempelvorsteherin, einmal gesagt?

'Das Sichelland ist nur kalt und grau, sogar die Sonne meidet es und für Schönheit hat man dort keinen Sinn.'

Jetzt wusste Sara es besser. Wenn Beema mit Schönheit die Schmetterlinge und Glockenblumen gemeint hatte oder den türkisblauen Himmel eines manatarischen Frühlingstages, dann mochte sie recht haben. Aber die südliche Idylle hatte nicht allein den Anspruch darauf, sich 'schön' nennen zu dürfen. War Beema wirklich so dumm?

Betont langsam setzte der Mondhengst sich mit seinen beiden Reiterinnen in Bewegung. Gemächlich und beherrscht schritt er hinab in die Senke, als wolle er jeden Moment genießen.

Lennys zügelte ihn nicht.

Er entschied selbst, wie er nach Hause kommen wollte. Dann plötzlich zuckten seine Muskeln. Erst fast unmerklich, dann kraftvoll. Ein leichter Trab, ein ungeduldiges Aufstampfen. Er beschleunigte seinen Schritt, immer weiter, immer schneller und schließlich galoppierte er wie ein zerstörerischer Orkan voran – den Hang hinunter und dann, nach einem kurzen Moment des scheinbaren Dahingleitens, den Hügelkamm hinauf und Askaryan entgegen.

Eine dünne schwarze Linie stieg von einem der Türme auf. Dann eine weitere, auf einem anderen Turm. Noch eine. Was war das nur? Sara wischte sich eine Träne aus dem Augenwinkel, die der stechende Wind hervorgerufen hatte. Und dann sah sie das Leuchten. Zuerst nur ein kleiner glühender Punkt, dann ein Züngeln, ein Anschwellen... und schließlich schlug eine gewaltige Flamme nach oben. Wie ein Echo folgten die anderen Türme nach.

„Es brennt!“ schrie sie entsetzt. „Bei den Mächten, die Stadt brennt! Das muss ein Angriff sein!“

Lennys stieß dem Hengst die Fersen in die Flanken.

„Nein!“ brüllte sie zurück und zum allerersten Mal lag in ihrer Stimme ein Hauch von Euphorie. „Das ist kein Angriff! Das sind die Feuer von Askaryan!“

Wie ein Pfeil schossen sie der Stadt entgegen. Sara spürte, dass ihr Herz gleich zerspringen würde. War es Angst? Sie krallte sich so fest an Lennys' Umhang, dass sie glaubte, ihre Finger müssten jeden Moment brechen.

„Die Feuer?“ wollte sie zurückrufen, doch in diesem Moment erkannte sie, was Lennys meinte. Inzwischen waren sie Askaryan nahe genug um Einzelheiten wahrzunehmen.

Hoch oben, zwischen den Zinnen der Wachtürme, glänzten silberne Feuerschalen, so groß, dass zehn Männer notwendig waren, um sie zu umspannen. Aus ihnen erwuchsen die Flammen, blutrot und golden und immer weiter gen Himmel kletternd. Es waren sieben an der Zahl und jede von ihnen so gewaltig, dass sie die Sonne hätte verblassen lassen, hätte sich diese hinter den Wolken hervorgewagt.

Und dort, um sie herum, standen Menschen. Alle schwarz gekleidet und zu Saras Erstaunen vollkommen unbeweglich. Sie standen auf den Türmen und hinter den Zinnen der Mauer, dicht an dicht, doch keiner von ihnen achtete mehr auf die Feuer. Ihre Aufmerksamkeit schien nur einem einzigen Punkt zu gelten. Nämlich dem, der gerade den Hang hinauf auf sie zugaloppiert kam.

„Das Tor!“ schrie Sara als sie immer noch mit unbeschreiblichem Tempo auf die Stadt zuflogen. „Das Tor ist geschlossen! Wir müssen anhalten!“

Lennys reagierte nicht mehr. Den Blick starr nach vorne gerichtet, machte sie keinerlei Anstalten, den Hengst zu bremsen, ganz im Gegenteil. Als das Tier noch eine letzte Reserve aus sich herausholte und seine Hufe noch schneller wirbeln ließ, gebot sie im keinerlei Einhalt, sondern bewegte lautlos die Lippen, als wolle sie ihn eher weiter antreiben.

Drohend und unnachgiebig wurde das silberbeschlagene Stadttor immer größer, aber kein Spalt zeugte davon, dass es sich öffnen würde.

„Wir werden das nicht überleben!“ brüllte Sara jetzt panisch. „Haltet an!“

Nur noch wenige Pferdelängen trennten sie von dem sicheren Tod. Sara überlegte kurz, ob sie einfach los- und sich zu Boden fallen lassen sollte. Selbst wenn sie sich dabei alle Knochen brach,... nein, sie brachte es nicht fertig. Sicher, das letzte Mal den Himmel gesehen zu haben, kniff sie die Augen zusammen. Gleich würde es vorbei sein. Jetzt.

Ganz weit entfernt glaubte sie, ein Scharren gehört zu haben, doch das Heulen des Windes, das Prasseln der Feuer und das Donnern der Hufe verschluckten die Ahnung sofort.

Das Donnern der Hufe?

Die Novizin zwang sich, die Augen wieder zu öffnen. Blitzartig warf sie den Kopf zurück und blickte über die Schulter. Wie im Traum sah sie einen schmalen Lichtstreif, der gleich darauf verschwunden war. Das Tor hatte sich hinter ihnen wieder geschlossen.

Grenzenlose Erleichterung durchströmte sie und die Freude, immer noch am Leben zu sein, ließ sie einen Wimpernschlag lang vergessen, wo sie sich befand.

Noch immer ließ Lennys den Mondhengst frei laufen, doch allmählich beruhigte sich das Tier und verlangsamte kaum merklich seinen Schritt.

Die verschwommenen Schatten links und rechts schärften sich nun zu Bildern.

Es war eine Stadt, wie Sara sie nie zuvor gesehen hatte.

Sie befanden sich auf einer schnurgeraden und vollkommen ebenen Straße, breit genug für zwei große Pferdewagen und gepflastert mit hellgrauen, glatten Steinplatten. An manchen Stellen zweigten Wege und Gassen ab.

Die Häuser waren nicht wie in Goriol oder Fangmor oder anderen Städten mal aus Holz, mal aus Lehm und mal aus Ziegeln gebaut und dann in den unterschiedlichsten Farben gestrichen worden, sondern bestanden ausnahmslos aus sauber gehauenen Steinquadern. Es gab anthrazitfarbene, silbergraue und solche, die im Morgenlicht leicht bläulich schimmerten. Anscheinend hatten die Cycala sie aus verschiedenen Steinbrüchen herausgeschlagen und sie dann nur sorgfältig poliert, auf jeglichen weiteren Schmuck aber verzichtet. Die Dächer der Gebäude waren schräg und spitz, wenn auch nicht so verspielt wie Sara es von Manatara gehört hatte. Flache, klobige Bauten, wie in vielen mittelländischen Dörfern, gab es hingegen gar nicht. Die einzelnen Grundstücke waren an manchen Stellen durch schmiedeeiserne Zäune voneinander getrennt, hinter denen sich sorgsam gepflegte, aber dennoch eher bescheidene Vorgärten verbargen. Hier ein Rosenbusch, da ein Stück Rasen, mal ein sauber geharktes Kräuterbeet oder auch eine kleine Ziertanne, aber keine üppigen Bepflanzungen oder verwildertes Unkraut.

Am auffälligsten aber waren die Menschen in Askaryan. Und zwar, weil sie überhaupt nicht auffielen. Beinahe alle trugen schwarze Umhänge, nur einige junge Leute hatten ein dezentes Taubenblau, dunkles Violett oder eine unauffällige Schieferfarbe gewählt. Und obwohl Askaryan mindestens so groß wie Goriol zu sein schien, wäre niemand auf die Idee gekommen, einen Vergleich zu ziehen. In der Stadt der Wanderer lärmte buntes Treiben, Marktschreier priesen ihre Waren an, man lachte und scherzte auf der Straße oder stritt über den Gartenzaun hinweg.

Doch hier, in Askaryan, herrschte Stille.

Niemand sprach. Niemand grüßte. Niemand lachte und niemand eilte seinem übermütigen Kind hinterher oder schlug seinem Nachbarn auf die Schulter. Sie alle standen hinter den Zäunen und Mauern oder verschwanden gerade in den Nebenstraßen. Keiner kreuzte ihren Weg oder sah ihnen neugierig nach. Und doch glaubte Sara, aus dem Augenwinkel zu erkennen, wie sich Köpfe neigten und zuweilen die schwarzen Umhänge wie verlorene Schleier zu Boden glitten, weil ihre Träger herniedersanken.

All die Eindrücke waren für Sara zu überraschend und auch zu unerklärlich, als dass sie inmitten dieser fremden Welt noch weitere Besonderheiten hätte in sich aufnehmen können. Ein quadratischer Platz, in dessen Mitte mehrere Steinblöcke im Kreis aufgestellt waren, ein großes Gebäude ohne Fenster, jedoch mit umso schwerer gesicherten Türen, sowie eine lange Mauer, in die seltsam verschlungene Gestalten als eine Art Relief eingehauen worden waren, glitten vorbei, ohne dass sie auch nur versuchte, ihren Sinn zu hinterfragen.

Irgendwann veränderte sich ihre Umgebung erneut. Immer größer wurden die Abstände zwischen den Häusern, immer häufiger wichen die gepflasterten Plätze sauber gestutzten Rasenflächen und statt der kunstvoll geschmiedeten Zäune trennten düstere Hecken die einzelnen Grundstücke voneinander. Schon bald wuchsen die Grünflächen immer mehr zusammen, bis sie sich zu einer ausgedehnten Parkanlage verbanden.

Ein heller Streifen schimmerte ihnen weit hinten entgegen und als sie näher kamen, erkannte Sara ein hohe Mauer aus weißen Steinen, die an einer Stelle von einem unüberwindbaren Eisentor durchbrochen wurde. Mehrere schwarz gewandete Wachen standen zu beiden Seiten und unter ihren Umhängen blitzten die Klingen der Shajkane hervor.

Nur wenige Schritte von dem Tor entfernt brachte Lennys den Mondhengst zum Stehen und ließ Sara absteigen. Anschließend sprang sie selbst zu Boden.

Einer der schwarzen Wächter löste sich nun aus der Reihe, verbeugte sich knapp und übernahm die Zügel des Pferdes. Lennys achtete nicht weiter auf ihn und schritt jetzt auf das Tor zu, das sich plötzlich wie von selbst öffnete. Angespannt folgte Sara ihrer Herrin in den dahinterliegenden Bereich.

Die Wachen beäugten die Dienerin misstrauisch, doch sie stellten sich ihr nicht in den Weg.

Hinter dem Tor durchquerten sie zunächst einen ordentlich angelegten Garten, der schließlich vor einem imposanten Bauwerk endete. Es unterschied sich nicht nur in Größe und Stil von den anderen cycalanischen Häusern, sondern fiel vor allem dadurch auf, dass es aus denselben weißen Steinen erbaut war, aus der auch die hinter ihnen liegende Mauer bestand. Hohe Fenster, ein säulenverzierter Balkon, der allein schon die Größe eines kleinen Marktplatzes besaß und fremdartige Steinfiguren an den Wänden machten deutlich, dass wohl nicht alle Cycala einen ausgeprägten Sinn für Nüchtern- und Bescheidenheit hatten. Wer auch immer hier lebte, zeigte gern seinen Reichtum.

Bevor sie die Stufen zu der ebenfalls gut bewachten doppelflügligen Eingangstür emporstiegen, drehte Lennys sich zu Sara um.

„Hier herrschen strenge Regeln und Gesetze, auch wenn der Herr dieses Hauses gelegentlich darüber hinwegsieht. Trotzdem wirst du dich, solange wir hier sind, so verhalten, wie man es von einer gehorsamen Dienerin erwartet. Du sprichst nicht, es sei denn, man fordert dich dazu auf. Du hältst dich stets hinter mir und wenn wir im Empfangssaal sind, wirst du die Letzte sein, die Platz nimmt. Schlag deine Kapuze hoch und halte den Kopf gesenkt. Sieh niemandem gerade ins Gesicht. Beobachte die anderen Dienstboten und tu es ihnen gleich, wenn sie sich verneigen oder in den Hintergrund treten, es sei denn, ich sage dir etwas anderes. Hast du das alles verstanden?“

„Natürlich.“

„Es wird Gerede geben, weil ich dich überhaupt mit hierher gebracht habe und erst recht werden viele nicht verstehen, dass du Zutritt zu diesem Hause erhältst. Dies ist eines der beiden Domizile des Shajs Talmir. Für gewöhnlich lebt er in unserem Haupttempel in Zarcas, aber derzeit wird er hier in Askaryan gebraucht. Du kannst dir ja denken, warum. Vergiss also nicht, dass du gleich einem unserer Herrscher gegenübertreten wirst, ganz gleich, wie freundlich er dich begrüßt und wie nachsichtig er dich behandelt.“

Sara nickte.

„Gut. Wir werden hier nicht lange bleiben.“ Sie wandte sich noch einmal an den Wachposten, der die Zügel des Mondhengstes hielt.

„Füttern und Tränken. Ansonsten lass die Finger von ihm. Ich brauche ihn bald wieder.“

Der Sichelländer verbeugte sich zum Zeichen, dass er verstanden hatte und führte das Pferd dann in einen anderen Teil des Parks. Die restlichen Wachen verharrten bewegungslos, bis Lennys ihnen ein Zeichen gab. Dann trat einer von ihnen vor und öffnete das große Portal.

Der Empfangssalon war noch um einiges größer als der Festsaal des Nebeltempels. Die Marmorfliesen waren auf Hochglanz poliert und die Wände waren durch kostbare Wandteppiche in Silber, Blau und Rot geschmückt. Es gab keinerlei Möbel mit Ausnahme eines großen runden Tisches, um den mehrere hohe Lehnstühle standen, deren lederne Polster mit Silbernieten beschlagen waren. Kniehohe, buntglasierte Vasen mit weißen Rosen standen vor den Fenstern.

Lennys und Sara waren allein. Der Hausdiener hatte sie hierher geführt, ohne auch nur ein Wort zu sagen und anscheinend war er jetzt davon geeilt, um ihren Besuch anzumelden. Das alles war so selbstverständlich vor sich gegangen, dass Sara eine gewisse Erleichterung verspürte. Akosh war also wohlbehalten in Askaryan angekommen und hatte ihr Kommen angekündigt.

Die Flügeltüren des Saales schwangen lautlos auf.

Selbst Talmirs strahlendes Lächeln konnte die Sorgen, die ihn quälten, nicht verbergen. Um seine Augen zeichneten sich noch mehr Falten ab als bei ihrem letzten Treffen und sein Blick war müde und abgespannt.

Im Schlepptau hatte er ein halbes Dutzend Hausdiener, die sich jetzt mit gesenktem Haupt an der Wand neben der Tür aufstellten. Zwei weitere folgten mit schwer beladenen Tabletts und begannen nun, Tee, Gebäck und frische Blumen auf dem Tisch zu verteilen.

„Was für eine Freude!“ rief Talmir. „Ich bin wirklich erleichtert über deine Ankunft, umso mehr, da sie schneller erfolgte als ich zu hoffen wagte! Mein Bote sagte mir, dass er die Nachricht an Fraj übergeben hatte, weil du nicht aufzufinden warst. Ich fürchtete schon, dieser Taugenichts hätte sich weder durch Drohungen noch durch eine hübsche Summe Silber beeindrucken lassen. Als Akosh gestern hier ankam und mir berichtete, dass du auch bald eintreffen würdest, war das die erste gute Nachricht seit Tagen!“

„Ich würde gern allein mit dir sprechen.“ erwiderte Lennys nur.

„Natürlich, natürlich. Bitte setzt euch doch. Oh, natürlich bist auch du herzlich willkommen, Sara. Es freut mich, dass Lennys dich mit hergebracht hat, obwohl ich es nicht erwartet hätte.“ Er gab seinen Dienern ein Zeichen. „Es ist gut, ihr könnt gehen. Ich wünsche keine Störungen.“

Sara machte Anstalten, den Dienern zu folgen, doch Lennys schüttelte kaum merklich den Kopf. Nachdem sich die Flügeltür wieder geschlossen hatte, ließ Talmir sich erschöpft auf einen Stuhl sinken. Lennys aber blieb stehen und Sara bemerkte verwundert, dass ihre Herrin einen recht ärgerlichen und vorwurfsvollen Gesichtsausdruck aufgesetzt hatte.

„Wie kommt es, dass du nicht dafür gesorgt hast, dass manche schlechten Nachrichten etwas entschärft werden?“

„Entschärft?“ Talmir gab sich verwundert. „Wovon sprichst du? Makk-Uras Tod lässt sich nicht schönreden!“

„Du weißt genau, was ich meine. Aber bevor wir davon sprechen, wüsste ich gern was passiert ist. Frajs Nachricht war nicht gerade ausschweifend.“ Endlich nahm Lennys Platz und nun setzte sich auch Sara.

„Bedient euch.“ sagte Talmir aufmunternd und deutete auf die gedeckte Tafel, doch Lennys schlug mit der flachen Hand auf den Tisch.

„Wir sind nicht zu unserem Vergnügen hier. Ich will so schnell wie möglich nach Semon-Sey reiten. Also? Ich höre!“

Unbeeindruckt von Lennys' scharfem Ton füllte Talmir drei Becher mit Tee und reichte Sara einen davon.

„Die letzten Tage waren entsetzlich. Ich weiß einfach nicht mehr, wo mir der Kopf steht. Nun gut, am besten, ich fange von vorne an. Makk-Ura und ich hatten uns einiges vorgenommen. Wir wollten die Silberzuteilung für die Großtempel im nächsten Jahr festlegen. Außerdem war da noch eine unschöne Geschichte zu klären. Einer der höchsten Zimmermänner, der im Übrigen auch für Makk-Uras persönliches Mobiliar verantwortlich war, steht unter dem Verdacht, heimliche Geschäfte mit den Shangu zu machen. Die mir unterstellten Richter verstehen da keinen Spaß und Makk-Ura wollte wohl bei mir ein gutes Wort für den Mann einlegen. Wie dem auch sei, wir trafen uns also in seinem Haus und wollten zuerst die Angelegenheit mit dem Silber erledigen. Es waren wirklich zähe Verhandlungen, wie immer, wenn es um dieses Thema geht. Jedenfalls kamen wir irgendwann nicht mehr weiter und Makk-Ura lud mich ein, in seinem Hause zu übernachten. Um die Gemüter zu beruhigen, tranken wir abends noch gemeinsam Tee und sprachen über die Sache mit dem Zimmermann. Alles war ganz normal. Plötzlich meinte er, dass er sich nicht wohlfühle. All das lange Reden und die Diskussionen seien ihm wohl auf den Magen geschlagen. So oder so ähnlich hat er sich ausgedrückt. Er wollte unbedingt noch einmal an die frische Luft. Auf der Treppe, die hinunter in seinen Garten führt, ist er dann zusammengebrochen und hinabgestürzt. Ich konnte nichts mehr für ihn tun.“

Talmir erzählte den Vorfall so erschüttert, als sei er dadurch gezwungen, alles noch einmal hautnah mitzuerleben. Lennys hingegen schien wenig beeindruckt.

„Also das Herz?“

„Nein... also... ich weiß nicht, warum er zusammengebrochen ist... Aber als er die Treppe herabfiel, hat er sich das Genick gebrochen.“

Überrascht horchte Lennys auf. „Das Genick gebrochen? Ich kenne sein Haus, es sind nur ein paar Stufen in den Park hinunter.“

„Ja, aber er ist wohl sehr unglücklich aufgeschlagen. Ich war wie unter Schock, aber seine Diener kamen gleich herbei und da.... da konnten sie nur noch seinen Tod feststellen.“

„Wieso hast du von Mord gesprochen? Frajs Botschaft war eindeutig.“

„Mord? Ich soll von Mord....? Nein, nein, ganz sicher nicht. Zugegeben, es sind seltsame Umstände gewesen...“ Er druckste ein wenig herum. „Nun ja, einer meiner Diener meinte, seine Zunge wäre merkwürdig verfärbt gewesen, wie es manchmal bei Vergiftungen vorkommt. Aber das ist völlig ausgeschlossen! Und er starb ja am Genickbruch, das ist ganz sicher! Ich habe wohl im ersten Moment etwas überreagiert.“

„Überreagiert?“ Lennys glaubte, ihren Ohren nicht zu trauen. „Der Shaj der Erde stirbt vor deinen Augen, sein eigener Diener äußert den Verdacht einer Vergiftung und du sagst, du hättest überreagiert?“

„Aber Lennys, es war ein Unfall! Natürlich, wir müssen der Sache nachgehen und das mit der verfärbten Zunge ist höchst verdächtig, aber ich habe mit eigenen Augen gesehen, wie er gestürzt ist. Niemand sonst war dabei. Vielleicht gab es Gift. Vielleicht fühlte er sich deshalb schlecht. Aber wir werden nie erfahren, ob es ihn auch getötet hätte.“

„Vielleicht doch. Wie konntest du die Sache nur so auf sich beruhen lassen? Wo ist die Leiche jetzt?“

„Die Lei...? Makk-Ura? Auf den Weg zum Totentempel. Sie bereiten ihn für das Abschiedsritual vor. Und nein, ich habe es nicht auf sich beruhen lassen. Meine Rechtsprecher arbeiten Tag und Nacht daran, die Sache aufzuklären, aber bis jetzt haben sie noch keine ernstzunehmende Spur gefunden. Aber ich kann ihnen nicht pausenlos auf die Finger sehen. Die Dunen sind natürlich in heller Aufregung. Sie rennen mir das Haus ein, fordern sofortige Bestrafung, obwohl wir nicht einen einzigen Verdächtigen haben und sie weigern sich, sich mir zu unterstellen. Kaum haben sie von Makk-Uras Tod erfahren, haben sie verlangt, dass der Hohe Rat einberufen wird und obwohl ich ihnen versprochen habe, alles Nötige zu veranlassen, haben sie selbst einen Boten nach Semon-Sey geschickt.“

„Willst du ihnen das vorwerfen? Würden deine Geweihten nicht dasselbe tun, wenn du so plötzlich und unter solchen Umständen sterben würdest?“

„Natürlich! Ich … ich sage ja auch nicht, dass es falsch war, aber... gerade jetzt... Sie haben die Cas unter Druck gesetzt, bis diese schließlich zugegeben haben, dass...“

„...der Shaj der Nacht verschwunden ist.“ ergänzte Lennys.

„So ist es. Kannst du dir vorstellen, was jetzt los ist? Die Dunen toben, allen voran Mela-Cor und diese Ebna. Sie wollen jetzt alles selbst in die Hand nehmen. Und die Cas...“

Doch eine flüchtige Geste von Lennys ließ ihn verstummen.

„Sara...“ sagte Lennys, ohne ihre Dienerin anzusehen. „Warte draußen.“

Ein Dienstbote Talmirs brachte Sara zu einer gemütlichen Sitzgruppe vor einer Fensterreihe, von der aus man einen herrlichen Blick auf den umliegenden Garten hatte. Dabei sprach der Mann kein Wort und hielt dabei den Blick stur geradeaus. Es war nicht zu übersehen, dass er nicht gerne den Laufburschen für eine Fremdländerin spielte. Sara versuchte gar nicht erst, ihn in ein Gespräch zu verwickeln oder sonst in irgendeiner Form seine vorgefertigte Meinung zu ändern. Zu viele Eindrücke waren heute auf sie eingestürzt und insgeheim war sie dankbar, dass sie jetzt kurz für sich war.

Lennys hatte ihr nichts über Askaryan erzählt, außer, dass es eben eine Grenzstadt war. Sie hatte nicht erklärt, warum sich die Menschen hier so seltsam verhielten, warum sie so ernst und vollkommen schweigsam waren und sie hatte auch mit keinem Wort angedeutet, dass ihr erstes Ziel das Haus des Shajs Talmir sein würde. Allerdings hatte sie auch nicht erwarten können, dass ihre Herrin sie in all ihre Pläne einweihte.

Ein wenig mehr überraschte die Novizin Talmirs Art, mit den momentanen Schwierigkeiten umzugehen. Die Umstände, unter denen dieser Makk-Ura ums Leben gekommen war, waren doch mehr als nur ungewöhnlich. Wieso tat Talmir nicht alles, um das offenkundige Verbrechen aufzuklären? Wieso versteckte er sich hinter fadenscheinigen Ausreden? Hatte er vielleicht Angst, dass man ihn zur Verantwortung ziehen konnte, weil er der einzige war, der das Geschehen beobachtet hatte? Oder fühlte er sich tatsächlich so unter Druck gesetzt, wie er betonte? Eigentlich war das doch auch verständlich, immerhin war einer der drei Herrscher tot, ein weiterer wie vom Erdboden verschluckt und er, Talmir, musste nun allein die Geschicke des ganzen Sichelreichs lenken. Ein Land der Krieger. Und er war nur ein friedliebender Priester. Zudem erwarteten offenbar ja auch die 'Geliebten der Erde', dass er sich um ihre Sorgen bemühte.

Sara wusste, was die 'Dunen' waren, von denen Talmir gesprochen hatte. Akosh hatte es ihr einmal erklärt. Unter jedem Shaj stand direkt eine Gruppe „Erwählter“ oder auch „Geweihter“, die jeweils höchsten Säulenangehörigen. Sie hatten sich durch besondere Fähigkeiten ausgezeichnet und waren direkt für das verantwortlich, was in ihrer Säule vor sich ging. Im Falle der 'Gebieter der Nacht', also der Krieger, waren es die neun Cas, die als Befehlshaber des cycalanischen Heeres nur dem Shaj Rechenschaft über ihr Tun ablegen mussten.

Unter Talmir hingegen standen achtzehn Hohepriester und Richter, die man die Yla nannte, und Makk-Uras engster Vertrautenkreis wurde durch die siebenundzwanzig Dunen, die obersten Handwerker, Bauern und Bergleute gebildet. Und eben diese Dunen waren nun auf sich gestellt, hatten keinen Shaj, bei dem die Fäden zusammenliefen und mussten sich zudem noch die Frage stellen, warum gerade ihre Säule diesen schweren Schlag hatte hinnehmen müssen. Dass ein gewisser Talmir sie nun lediglich beschwichtigte und ihre Sorgen und Befürchtungen vielleicht nicht vollständig teilte, rief natürlich Unmut hervor. Nun war erst recht eine starke Hand gefragt, die das Leben der Cycala wieder in geregelte Bahnen lenkte und diese Hand sollte – wenn es nach den Dunen ging – eher die eines Kriegers als die eines Priesters sein.

Wo war der Shaj der Nacht? Wusste es Talmir? Oder Lennys? Oder die Cas? Manche schienen ein großes Geheimnis daraus zu machen, andere wieder zeigten offenkundige Angst. Was, wenn auch er einem Angriff zum Opfer gefallen war? Würde das nicht das Sichelland ins Chaos stürzen und ihm eine noch schwerere Wunde zufügen als der Tod Makk-Uras? Wollte deshalb niemand offen darüber reden?

Irgendwann war Sara des Denkens müde. Sie hätte nicht sagen können, wie viel Zeit vergangen war, seit Lennys sie hinausgeschickt hatte, doch ein Blick aus dem Fenster verriet ihr, dass die Sonne ihren höchsten Punkt längst überwunden hatte und ihre ausgetrocknete Kehle erinnerte sie an den Tee, der drüben im Empfangssaal schon längst kalt geworden war. Ob sie den nächsten Diener, der vorbei kam, wohl um einen Schluck Wasser bitten durfte? Da kamen doch Schritte den Flur hinab... Mit etwas Glück war es nicht der mürrische Dienstbote von vorhin. Doch dann erkannte sie die Stimme.

„Ich werde gleich meinen Stallmeister rufen lassen.“ hörte Sara Talmir sagen und gleich darauf trat der Shaj des Himmels in Lennys' Begleitung um die Ecke. Beim Anblick der Novizin hellte sich seine Miene etwas auf, doch er sagte nichts. Sein Gespräch mit Lennys war wohl nicht gerade zu seiner vollsten Zufriedenheit verlaufen und auch die Cycala wirkte gereizt. Mit einem Kopfnicken erlaubte sie Sara, aufzustehen.

„Es wird Zeit, dass wir hier wegkommen. Wir werden keine Pausen mehr machen bis wir in Semon-Sey sind.“

Sie rief einen Diener herbei, gab Befehl, ihr Mondpferd bringen zu lassen und winkte Sara hinter sich her nach draußen. Talmir folgte ihnen bis zum Hauptportal.

„Eure Wasserflaschen wurden aufgefüllt.“ sagte Talmir. „Aber mir wäre es trotzdem lieber, wenn ihr bis morgen bleibt.“

„Das kommt nicht in Frage.“ sagte Lennys. „Kann ich davon ausgehen, dass du bald nachkommst?“

„Natürlich. Schon morgen werde ich aufbrechen. Nicht später. Vergiss aber nicht, dass ich zu alt bin, um mit deinem Tempo mitzuhalten.“

"Es wird sehr bald eine Ratsversammlung geben."

"Es ist nicht nötig, dass du einen Shaj daran erinnerst." Er lächelte schwach. "Ich werde rechtzeitig da sein."

Als Lennys und Sara kurz darauf wieder durch das Tor der weißen Mauer ritten und dann einen Weg nach Norden einschlugen, glühte die Abendsonne dunkelrot, durchbrochen durch die Silhouetten der schwarzen Wachtürme. Der größte Teil der Stadt Askaryan lag nun hinter ihnen.

Sara hatte keine Ahnung, wie lange sie nach Semon-Sey brauchen würden. Auf der Karte hatte es weit ausgesehen, zu Fuß wohl einige Tagesreisen. Aber sie hatte bereits erlebt, wie der Mondhengst solche Schätzungen außer Kraft setzte und jetzt, da sie sich endlich im Sichelland befanden, wo das Tier das Gelände mindestens ebenso gut kannte wie seine Reiterin, war nicht mehr mit einem gemütlichen Trab zu rechnen.

Hinter dem Stadttor Askaryans lag eine weite Grasebene, die leicht anstieg. Trotz der Kälte war es ein herrlicher Abend und obwohl die Hantua immer noch eine Bedrohung waren, obwohl in Askaryan ein Shaj ermordet worden war und obwohl sie hier eigentlich nicht willkommen war, fühlte Sara sich zum ersten Mal in ihrem Leben vollkommen sicher.

Das erste, was die Novizin wahrnahm, war ihr schmerzender Rücken und der steife Nacken. Sie fühlte sich zerschunden, alles tat ihr weh und ihre Augen wollten vor lauter Müdigkeit gleich wieder zufallen. Nur langsam wurde sie sich darüber bewusst, dass sie immer noch hinter Lennys auf dem Rücken des Mondhengstes saß und wohl während des langen Ritts eingenickt war. Vorsichtig hob sie den Kopf, der an der Schulter ihrer Herrin gelehnt hatte.

„Gut geschlafen?“

Die Sichelländerin wandte sich nicht um, hatte aber sehr wohl Saras Bewegung gespürt.

„Es tut mir leid.“

„Du musst dich nicht entschuldigen. Wäre es nötig gewesen, hätte ich dich geweckt. Allerdings hast du natürlich bisher nicht allzu viel von der cycalanischen Landschaft mitbekommen.“

Sara unterdrückte ein Gähnen.

„Verzeiht. Ich hätte sehr gern mehr von eurem Land gesehen, aber ich fürchte, meine Augen sind bei Dunkelheit auch nicht so gut wie die euren.“

„Da hast du allerdings recht. Diese Gegend hier nennt man übrigens die Cassydischen Gräben.“

Erstaunt sah sich Sara um. Sie durchquerten gerade eine felsige Landschaft, die in unregelmäßigen Abständen von tiefen Furchen durchzogen war. Anscheinend war Lennys in etwas redseligerer Stimmung als in den letzten Tagen, denn noch bevor die Novizin eine Frage stellen konnte, erklärte sie, was es mit den Gräben auf sich hatte.

„Eine Laune der Natur. Vermutlich gab es vor Urzeiten, noch bevor die ersten Menschen hier lebten, ein Erdbeben oder eine ähnliche Katastrophe. Heutzutage halten sich die neun Cas hier gelegentlich auf. Die Gegend verbirgt sie vor neugierigen Blicken und sie nutzen diesen Umstand, um in den Gräben Reit- und Kampftechniken zu trainieren. Daher auch der Name... Cassydische Gräben. Niemand, der hier durch muss, bleibt lange, denn keiner möchte den Cas in die Quere kommen. Aber es ist der kürzeste Weg nach Semon-Sey.“

„Es könnte also sein, dass wir hier diesen Cas begegnen?“

„Das ist sehr unwahrscheinlich. Akosh ist sicher schon in Semon-Sey angekommen und sorgt dafür, dass der Große Rat schnellstmöglich zusammentreten kann. Die Cas werden die Stadt jetzt sicher nicht mehr verlassen, wenn sie dort sind. Und diejenigen, die sich woanders aufhalten, werden sich auch gleich auf den Weg machen.“

„Und wenn Akosh sie nicht alle findet? Oder sie nicht auf ihn hören?“

„Du vergisst, dass Akosh selbst einer von ihnen war. Er weiß, wie er sie aufspüren kann und er weiß auch, was er ihnen sagen muss, damit sie den Ernst der Lage erkennen. Akosh mag lange im Mittelland gelebt haben, aber er hat wohl kaum Ansehen eingebüßt.“

„Und... ihr?“

„Ich?“ Lennys sah starr nach vorne, so dass Sara ihren Gesichtsausdruck nicht erkennen konnte.

„Entschuldigt. Ich sollte euch das nicht fragen. Ich dachte nur... dass ihr vielleicht auch eine Cas seid. Ich war mir sogar sicher.“

„Ich muss dich enttäuschen. Nein, ich bin keine Cas. Ich war eine. So wie Akosh. Damals. Und wie er habe ich meinen Rang abgegeben. Sogar noch vor ihm.“

„Aber... ihr müsst trotzdem noch eine sehr hohe....“ Sara verstummte mitten im Satz. Vor ihnen waren wie aus dem Nichts zwei Gestalten aufgetaucht und kamen jetzt auf sie zu. Sie waren ganz ähnlich der Stadtwachen Askaryans gekleidet und trugen prächtig geschmückte Shajkane. Argwöhnisch stellten sie sich dem schwarzen Hengst in den Weg.

„Wer wagt es, auf einem Mondpferd durch die Cassydischen Gräben zu reiten?“ fragte der eine scharf.

„Ich würde dir raten, uns nicht lange aufzuhalten.“ antwortete Lennys ruhig und ließ wie zufällig ihre Sichel unter dem Umhang hervorblitzen. Sofort verbeugten sie die beiden Wachen tief und der erste stammelte eine Entschuldigung in cycalanischer Sprache.

„Ist euch in den letzten Stunden noch jemand außer uns begegnet?“ fragte Lennys weiter.

„N...nein, Herrin, niemand sonst. Alles ist ruhig.“

Ohne noch etwas zu sagen oder eine weitere Erklärung abzuwarten, zog Lennys die Zügel an und ritt an den beiden Männern vorbei. Sara bemühte sich, ihr Gesicht im Schatten der hochgeschlagenen Kapuze zu verbergen.

Hinter den Cassydischen Gräben wurde die Landschaft wieder etwas freundlicher. Vielleicht lag es auch daran, dass inzwischen die Sonne im Osten hervorblinzelte und goldene Streifen auf das Gras malte. Wie schon südlich von Askaryan dominierten auch hier saftige dunkelgrüne Wiesen, dichte Nadelwälder und tiefblaue Flüsse, deren eiskaltes Wasser Saras Lebensgeister schnell wieder weckte. Immer wieder gab es Neues zu entdecken. Mitten in einem dunklen Forst standen sie plötzlich vor einem turmhohen Wasserfall, der sich in einen tiefen, kristallklaren See ergoss. Ein andermal durchquerten sie ein merkwürdiges Tal, das von unzähligen Silberraben bevölkert war, die sich aber allesamt von ihnen fernhielten.

Was Sara aber am meisten auffiel, war die Tatsache, dass sie nur sehr selten anderen Sichelländern begegneten. Hier und da gab es zwar sauber gemauerte Häuser, doch niemand war in ihrer Nähe zu sehen. Nur zwei- oder dreimal konnten sie in der Entfernung vereinzelte Menschen ausmachen, die aber zu weit weg waren, um auch nur ihr Geschlecht zu erkennen.

Inzwischen spürte die Mittelländerin den Schmerz nicht mehr, den das ständige Reiten in ihren Knochen hervorrief. Sie genoss die herrliche Landschaft, den Duft der wilden Kräuter und das Gefühl der Freiheit, dass sich hier unweigerlich einstellte. Keine Stadtwachen, die sie des Diebstahls bezichtigten, keine missgünstigen Tempeloberinnen, keine stinkenden Hantua. Selbst wenn die Cycala sie hier nicht mögen oder dulden würden, fühlte sie sich dennoch geschützt.

Auch in Lennys war eine gewisse Veränderung vorgegangen. Sie war ruhiger und ausgeglichener geworden und wenn sie auf Saras seltene Fragen nicht antworten wollte, schwieg sie und verzichtete auf bissige Zurechtweisungen. Trotz der ernsten Situation, in der sie sich befanden, wirkte die Sichelländerin entspannt und sie konnte es kaum verbergen, dass sie froh war, wieder in ihrer Heimat zu sein.

Zweimal machten sie kurz Rast, um etwas zu essen und ihre Wasserflaschen neu zu füllen. Für längere Ruhepausen war keine Zeit.

„Du wirst bald genug Gelegenheit haben, dich von der Reise zu erholen.“ sagte Lennys einmal, als Sara sich erleichtert ins Gras sinken ließ. „In Semon-Sey werde ich kaum Zeit für dich haben. Uns stehen ungemütliche Zeiten bevor und alle Krieger werden gefordert. Solange ich dir nichts anderes auftrage, wirst du tun können, was du willst. Natürlich musst du dich an Regeln halten. Aber das erfährst du noch früh genug."

Gegen Abend tauchten plötzlich in der Ferne die Umrisse eines kleinen Dorfes auf. Sara wunderte sich ein wenig, denn sie hatte sich Semon-Sey eigentlich um einiges größer vorgestellt. Doch ihr Irrtum wurde schnell aufgeklärt.

„Das dort drüben...“ rief Lennys ihr zu, „... ist nichts für dich. Dort wohnen Cycala, die keine Fremden in ihrem Ort dulden. Auch nicht in meiner Begleitung. Sie bleiben lieber unter sich.“

„Dann ist das nicht Semon-Sey?“

„Nein. Es ist ein Dorf der Batí. In Cycalas gibt es einige Gegenden, in denen du keine anderen Stämme antreffen wirst. Natürlich leben in Semon-Sey auch andere Cycala, aber die Batí würden niemals in Städte wie Zarcas oder Askaryan ziehen. sie gehören hoch in den Norden. Einige von ihnen leben noch viel weiter oben, in den Wäldern. Dort steht auch ihr Tempel. Selbst den anderen Sichelländern ist der Zutritt dort verboten. Halte dich am besten fern von ihnen, die meisten wollen nichts mit Fremdländern zu tun haben."

„Woran kann ich sie erkennen?“

„Du wirst schon merken, wer dazu gehört. Und die, bei denen du es nicht merkst, sind vielleicht auch weniger verschlossen und verhalten sich wie die anderen Sichelländer. Du wirst auch in Semon-Sey einigen von ihnen begegnen. Das Beste ist, wenn du zu allen Abstand hältst, die nicht von selbst auf dich zugehen."

Es war bereits Nacht geworden, als sie die Stadtgrenze Semon-Seys erreichten. Im ersten Moment fühlte sich Sara an Askaryan erinnert, auch wenn auf den Türmen der hohen Stadtmauer keine Feuerschalen entzündet waren. Doch kaum hatten sie das schwere Tor, das zu beiden Seiten von jeweils drei vermummten Kriegern bewacht war, passiert, musste sie erkennen, dass sie sich in einer völlig anderen Welt befand.

Im Gegensatz zu Askaryan schien die Stadt hier wie ausgestorben. Askaryan war still gewesen, weil die Menschen am Straßenrand kein Wort gesprochen hatten, doch hier war überhaupt niemand zu sehen. Dass es an der späten Stunde lag, konnte sich Sara nicht vorstellen, waren doch die Cycala dafür bekannt, dass sie lieber in der Nacht als am Tage ihren Beschäftigungen nachgingen. Auch in den Fenstern brannten kaum Lichter, nur vereinzelt flackerte eine Kerze einsam in der Finsternis hinter zugezogenen Vorhängen. Die Häuser waren aus demselben dunklem Stein gebaut, mit dem auch die breiten Straßen gepflastert waren, nur selten hob sich das eine oder andere durch ein helleres Grau ab. Alles war sehr sauber und gepflegt, aber zugleich auch merkwürdig unheimlich und finster. Auch hier gaben sich die Cycala sichtlich Mühe mit den kleinen Gärten, doch auf den polierten Eisenzäunen saßen glitzernde Spitzen und die Tore waren mit schweren Riegeln und Schlössern gesichert. Hier und da verbreiterten sich die Straßen zu runden Plätzen, in deren Mitte kunstvoll gemauerte Brunnen eingelassen waren und um die sich Geschäfte und Handwerksbetriebe reihten. Vor der verschlossenen Schmiede stand eine große Pferdetränke.

Lennys hielt an.

„Steig ab.“

Etwas überrascht kam Sara der Anweisung nach. Gleich nach ihr landete auch Lennys lautlos auf dem Boden. Der Rappe trottete gleichmütig zu dem Steinbecken und stillte seinen Durst.

Unbehaglich sah Sara sich um. Es war gespenstisch in dieser Stadt, weder Wachen noch späte Wirtshausbesucher oder Wanderer waren unterwegs. Keine streunenden Katzen und Hunde, kein verstohlenes Husten.

Lennys wartete wortlos, bis der Hengst fertig war, nahm ihn am Zügel und führte ihn nun hinter sich her. Seine Hufschläge waren das einzige Geräusch.

Sie bewegten sich weiter die Hauptstraße entlang, die nach einigen Biegungen schließlich schnurgerade in einen weniger dicht bebauten Teil der Stadt führte. Niedrige Gebäude wechselten sich mit kleineren Rasenflächen ab, die zu mancher Seite durch dichte Hecken begrenzt wurden. Schließlich endete der Weg erneut vor einem Eisentor, zu dessen beiden Seiten eine schulterhohe Mauer ein weitläufiges Areal einschloss. Beeindruckt starrte Sara durch die Gitterstäbe.

Eine breite Treppe führte über mehrere terassenartige Absätze hinauf. Immer wieder bildeten kniehohe Rabatte symbolische Barrieren, über die wilder Wein rankte. Hinter einer weiteren Mauer, deren Durchlass jedoch nur von zwei in Stein gemeißelten Sicheln eingerahmt wurde, erhob sich ein riesiger Schatten.

Schwarz und drohend thronte die Festung Semon-Seys über ihnen.

„Bei allen Göttern...“ hauchte Sara überwältigt.

„Das solltest du hier lieber keinen hören lassen...“ mahnte Lennys leise. „Cycalas ist kein Land, in dem man einen anderen Gott als Ash-Zaharr verehrt.“

„Entschuldigt. Ich war nur... ich habe noch nie ein solches Gebäude gesehen...“

Die Burg war gänzlich aus schwarzem Stein errichtet, der sich kaum von dem Nachthimmel dahinter abhob. Obwohl mehrere Türme und Balustraden ihr ein majestätisches Antlitz verliehen, strahlten ihre glatten und schmucklosen Wände doch eine beklemmende Nüchternheit aus. Hinter keinem der hohen Fenster gab es auch nur die geringste Spur von Leben.

„Du musst von jetzt an sehr vorsichtig sein mit dem was du sagst.“ warnte Lennys. „Man wird auf jedes deiner Worte achten.“

„Es tut mir leid. Aber es hat mich wohl auch niemand gehört. Ich habe weit und breit niemanden gesehen.“

„Hast du nicht inzwischen genug über uns gelernt? Dachtest du wirklich, wir können unbeobachtet durch eine Stadt wie Semon-Sey spazieren? Und bis zu ihrem Zentrum vordringen?“

Sara blickte sich um, doch noch immer konnte sie kein anderes Lebewesen erkennen.

„Diese Festung... Sie wirkt so... verlassen...“

Lennys nickte.

„Das ist sie. Hier lebt zur Zeit niemand. Es ist die Burg 'Vas-Zarac'. Mitternacht. Oder auch Zentrum der Dunkelheit. Es gibt viele Möglichkeiten, es zu übersetzen. Für die Krieger Cycalas' ist dies der wohl wichtigste Ort des ganzen Landes. Es ist das Zuhause des Shajs der Nacht.“

Es war nicht der beständige kalte Wind, der Sara jetzt erschauern ließ. In diesem einen Moment wurde ihr plötzlich klar, wo sie sich befand. Mitten im Sichelland, dem berüchtigten Reich der Krieger und Dämonen. Und hier, direkt vor ihr, lag der Ort, von dem all jene Macht ausging, die andere Völker so fürchteten. Hier fielen die Entscheidungen über Leben und Tod. In einem Land, das unter dem Schutz des Blutdämons stand, einem Land, das als unbesiegbar galt und dem man Blutdurst und kriegerische Perfektion nachsagte, … in einem solchen Land war dieser Ort vergleichbar mit dem Herz eines Menschen. Und der höchste Krieger, der hier lebte, war seine Seele.

… Der höchste Krieger, der hier lebte. Sara stutzte.

„Sie ist verlassen? Also ist der Shaj der Nacht immer noch verschwunden?“

„Nicht ganz verlassen.“ ertönte eine dunkle Stimme hinter ihnen. Ein sichtlich erleichterter Akosh trat aus dem Schatten. „Einige Diener und andere Untergebene haben sich in den hinteren Flügel zurückgezogen.“ Sein Blick fiel auf den Mondhengst. „Ein herrliches Tier, nicht wahr? Die Pferdebrüder werden ihm nachtrauern.“

„Achte darauf, dass er gut versorgt wird.“ Lennys überreichte Akosh die Zügel. „Hast du alles erledigt?“

„Natürlich.“ Er sah zur Festung hinauf. „Es ist ein seltsames Gefühl, wieder hier zu sein. Aber ein gutes.“

„Gibt es noch etwas, was ich wissen sollte?“

„Rahor wartet.“ Die Stimme des Schmieds war ernst.

„Er soll noch einen Augenblick Geduld haben. Du kannst gehen.“

Der Mond beschien Vas-Zarac mit seinem silbernen Glanz und spiegelte sich in den sichelförmigen Beschlägen des Hauptportals. Es wäre ein faszinierendes Schauspiel gewesen, doch Sara hatte dafür keine Augen. Irgendetwas schien unaufhaltsam auf sie zu zu kommen, aber sie konnte das Gefühl der Beklemmung nicht so recht einordnen. Als Lennys sprach, verstärkte sich die Anspannung der Novizin mit jedem Wort.

„In all den Jahren wurde noch keinem anderen Fremdländer außer Menrir die Ehre zuteil, die Räume der Burg zu betreten oder sie auch nur zu sehen. Ich bin mir nicht sicher, ob meine Entscheidung, dich hierher zu bringen, große Zustimmung findet....“

Sara wollte etwas sagen, doch Lennys winkte ab.

„Nein, sag nichts. Es gibt vielerlei Gesetze in diesem Land, die Menschen wie dich betreffen. Ich kann weder dich noch mich darüber erheben. Menrir ist für uns ein Freund. Er darf sich hier einigermaßen frei bewegen und wird von den Sichelländern geachtet. Dich kennen sie nicht. Über Menrirs Taten wurde in Cycalas gesprochen, noch bevor er das erste Mal die Grenzen in unser Land überschritt. Von dir weiß hier niemand etwas. Sie werden dich nicht offen anfeinden, aber nur wenige werden dir wirklichen Respekt entgegenbringen. Ich möchte, dass dir das bewusst ist.“

Saras Lippen bebten, doch sie sagte nichts.

„Ich weiß nicht, wie oft wir uns in den nächsten Tagen sehen werden. Aber Akosh wird da sein, wende dich an ihn, wenn du etwas brauchst. Oder an Rahor. Du wirst ihn gleich kennenlernen.“ Sie nickte zur Burg hinüber. „Deine Unterkunft ist im hinteren Flügel. Man wird dich gleich hinbringen.“

Endlich fand Sara die Sprache wieder. „Aber... ich dachte...dort lebt das Personal des Shaj?“

„Richtig. Deshalb hast du auch Anspruch darauf, dort zu wohnen.“

„Aber ihr sagtet doch, der Shaj sei zur Zeit gar nicht hier.“ erwiderte Sara. „Und außerdem... seid ihr meine Herrin. Niemand sonst.“

Lennys schüttelte matt den Kopf.

"Ich habe nichts anderes gesagt. Tu nicht so, als ob du es nicht längst wüsstest. Das ist meine Festung."

Sara hörte kaum, wie Lennys nach dem Mann namens Rahor rief. Und sie schenkte dem cycalanischen Krieger, der gleich darauf neben ihnen auftauchte, noch nicht einmal einen interessierten Blick. Noch immer hallten Lennys' letzte Worte wie ein Donnerschlag in ihrem Kopf.

Nun mischte sich dazu noch die heisere Stimme Rahors.

„Keine Worte, die angemessen sind, unsere Erleichterung über eure wohlbehaltene Rückkehr auszudrücken, Herrin. Im Namen des Hauses Vas-Zarac und insbesondere der Cas heiße ich euch, die hochehrwürdige Shaj der Nacht, oberste Kriegerin Cycalas und Bewahrerin der Sichel willkommen zurück in ihrem Lande.“

Ringsum erhob sich leises, zustimmendes Gemurmel aus der Dunkelheit.

„Gerüchte über meinen Tod sollten nicht ernst genommen werden.“ erklärte Lennys ungehalten. „Wie kommt es, dass du und die anderen Cas sie nicht zerstreuen konnten?“

Verlegen zuckte Rahor die Achseln. „Die Leute waren nur besorgt. Wirklich daran geglaubt hat sicher kein einziger. Wir haben immer wieder versucht, dem entgegenzuwirken. Doch es war schwierig, da auch wir nichts Genaues wussten. Ihr wart diesmal noch schweigsamer als sonst.“

„Ein Vorwurf, Rahor? Ich hatte meine Gründe, euch nichts zu sagen. Und auch dein salbungsvoller Ton ändert nichts daran. Spar ihn dir also und rede wieder vernünftig mit mir.“

Rahor lächelte erleichtert. „Ganz wie du wünschst. Wir sind wirklich froh, dass du zurück bist.“ Interessiert musterte er Sara.

„Bring sie in ihr Quartier. Akosh hat dich ja hoffentlich darüber informiert. Mehr bleibt dir für heute nicht zu tun.“

Den Bruchteil einer Sekunde lang sah Lennys Sara mit leisem Bedauern an, dann wandte sie sich ab und schritt allein die lange Treppe hinauf.

Die Shaj der Nacht war nach Hause zurückgekehrt.

Sichelland

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