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Kapitel 2

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„Darf ich bitten?“ fragte Rahor freundlich. Er war groß und schlank und hatte ebenso schwarze Augen wie Lennys. Auch seine Haut war blass und genau wie seine Herrscherin trug auch er eine blitzende Sichel am Gürtel.

Sara achtete nicht weiter auf ihn. Zu sehr waren ihre Gedanken mit den letzten Minuten beschäftigt. Lennys, die Shaj der Nacht und eine der drei Herrscher Cycalas'. War es wirklich so eine Überraschung? Die Ergebenheit der Sichelländer, die sie auf ihrem bisherigen Weg getroffen hatten, die Selbstverständlichkeit, mit der Lennys keinen Widerspruch duldete... ihre schwerwiegenden Entscheidungen, die sie ohne jegliche Rücksprache getroffen hatte... die Tatsache, dass sie das Privileg in Anspruch nahm, ein besonders wertvolles Pferd zu reiten, was an sich nur den höchsten Würdenträgern vorbehalten war... All das hatte im Grunde darauf hingedeutet. Und in ein oder zwei flüchtigen Momenten hatte sie, Sara, sogar einen Gedanken darauf verschwendet, dass Lennys mehr war als eine bloße Sichelträgerin. Aber hatte sie das erwartet? Nein. Talmir war ein alter Mann. Makk-Ura konnte nicht viel jünger gewesen sein, wenn man den Erzählungen glauben schenken wollte. Lennys hingegen war nur einige Jahre älter als sie selbst. Akosh war ein Cas gewesen und Rahor war immer noch einer. Sara hatte sich den obersten Krieger als narbendurchfurchten älteren Kämpfer vorgestellt, der seine Kämpfer mit eiserner Hand befehligte. Nun, zumindest was Letzteres anging, war Lennys durchaus nicht ungeeignet. Und dennoch...

„... dir sicher gefallen.“ sagte Rahor gerade. Sie hatte ihm gar nicht zugehört.

„Wie bitte?“ fragte sie verwirrt.

Rahor lachte. Seine weißen Zähne blitzten.

„Deine Unterkunft. Ich denke, du wirst sie mögen. Das Zimmer liegt in einem Seitengang, du wirst nicht viel von den anderen Bediensteten mitbekommen. Nach den Strapazen der weiten Reise bist du sicher froh, wenn du dich eine Weile ausruhen kannst.“

Ungläubig sah Sara ihn an. Rahor schien zu ahnen, was sie dachte.

„Es sind nicht alle Cycala so wie Lennys.“ erklärte er. „Und auch nicht so, wie sie es dir vielleicht erzählt hat. Natürlich, die Diener in der Festung und die Leute draußen in der Stadt werden dir misstrauisch begegnen. Aber einige von uns, zumindest die Cas und ein paar andere, sind inzwischen recht gut informiert. Wer sind wir, dass wir dich anfeinden, wenn sogar Lennys es für richtig hält, dich in die Burg einzulassen? Außerdem hast du noch weitere Fürsprecher...“

„Fürsprecher?“

„Akosh zum Beispiel. Er ist ja schon seit gestern hier und hat alles für eure Ankunft vorbereitet. Und bei dieser Gelegenheit hat er mehrfach durchklingen lassen, dass er wohl recht viel von dir hält. Auch wenn er lange Zeit keinen direkten Kontakt zu uns hatte, so zählt sein Wort doch immer noch viel in unseren Reihen. Er ist sehr beliebt.“

Sara seufzte.

„Verzeiht, aber das ist alles ein bisschen viel im Moment. Bis gerade eben wusste ich noch nicht einmal, dass Lennys eure Shaj ist. Ich habe keine Ahnung, was ich hier tun kann oder soll und wie es überhaupt weitergeht.“

„Das kann ich verstehen. Mach dir vorerst nicht zu viele Gedanken. Ich zeige dir jetzt erst einmal, wo du schlafen kannst. Leider habe ich nicht viel Zeit, ich muss zurück. Sie wartet nicht gern und es gibt heute Nacht sicher noch einiges zu tun. Wenn du etwas brauchen solltest, musst du nur nach mir fragen, normalerweise wissen die Diener, wo sie mich finden können. Und im übrigen wäre es schön, wenn wir 'du' sagen würden.“

Noch vor wenigen Tagen wäre Sara mehr als glücklich über das schöne Zimmer gewesen, in das Rahor sie gebracht hatte. Es war zwar klein, hatte aber ein breites Bett aus schwarzem, geschnitzten Holz, einen rechteckigen Tisch mit mehreren bequemen Stühlen und einen kleinen Schrank. Auf einem Hocker in der Ecke stand eine Vase mit Wildrosen und der Steinboden war fast vollständig mit einem weichen Teppich aus dicker, mitternachtsblau gefärbter Wolle bedeckt. An einer Wand hing ein silberner Kerzenleuchter. Kissen und Laken aus weißer Seide waren auf dem Nachtlager ausgebreitet. Noch nie hatte Sara in so edlen Stoffen geschlafen, noch nie hatte sie ein solches Gemach auch nur mit jemandem geteilt, geschweige denn für sich alleine gehabt. Trotzdem sehnte sie sich ein wenig zu den kalten Nächten auf dem harten Erdboden des Mittellandes zurück, in denen sie mit Lennys und Akosh am Feuer gesessen und die Sterne bewundert hatte.

Jetzt war sie allein. So allein wie nie zuvor.

Sie ging zu dem Tisch, auf dem ein Krug süßen Weins und eine Schale mit Früchten stand. Obwohl sie seit vielen Stunden nichts gegessen hatte, verspürte sie keinen Hunger. Die Müdigkeit ließ ihre Glieder schwer werden, aber ihre Gedanken gönnten ihr keine Ruhe. Es würde lange dauern, bis sie Schlaf fand. Nachdenklich füllte sie einen schweren Silberbecher mit dem Wein und nippte daran.

„Ist alles zu deiner Zufriedenheit?“

Kaum hatte Rahor Sara eine gute Nacht gewünscht, hatte er kehrt gemacht und war so schnell wie möglich in den Hauptteil der Festung zurückgekehrt. Er wusste, dass Lennys ihn dort im Kaminzimmer erwartete und als er eintrat, hatte sie es sich schon auf dem lederbespannten Lehnstuhl bequem gemacht, der direkt vor dem Feuer stand. Sie sah nicht einmal auf.

„Talmir wird morgen ankommen. Er ist ein guter Reiter und wir haben keine Zeit für Verzögerungen.“

„Es ist alles vorbereitet.“

„Sind alle Neun in Semon-Sey?“

„Ja. Balman und Sham-Yu sind am Mittag eingetroffen. Die anderen waren bereits in der Stadt.“

„Mondor?“

„Ist ebenfalls auf dem Weg. Er war nicht begeistert, wie mir zugetragen wurde. Er hat die Nordwälder seit Jahren nicht verlassen.“

„Darauf kann ich keine Rücksicht nehmen. Im Hohen Rat allein können wir nicht alle Entscheidungen treffen. Es wird Zeit, dass Mondor sich darüber klar wird, dass auch er sich diesmal nicht aus allem heraushalten kann.“

„Wird Akosh auch an der Ratssitzung teilnehmen?“

Noch immer verweilte Lennys Blick auf den tänzelnden Flammen.

„Es kann zumindest nicht schaden. Letztendlich ist er der Sprecher der Gemeinschaft jenseits der Grenzen. Warum fragst du?“

Rahor zögerte. „Es gab... keinen bestimmten Grund...“

„Lüg mich nicht an. Sollte es Probleme geben, von denen ich noch nichts weiß?“

Mit einem Anflug von Besorgnis versuchte Rahor, die richtigen Worte zu finden.

„Akosh genießt hohes Ansehen. Aber er ist lange fort gewesen. Seine Rückkehr hat für Aufsehen gesorgt. Jetzt wird der Hohe Rat tagen und neben Mondor, den die Wenigsten hier je zu Gesicht bekommen haben, darf auch noch Akosh zugegen sein. Gerüchte über einen neuen Krieg lassen sich jetzt schon kaum noch bekämpfen. Wenn erst bekannt wird, dass die Meinung eines alten Kämpfers gefragt ist, werden sie sich umso rasender verbreiten.“

„Gerüchte, Rahor? Wer spricht hier von Gerüchten? Du solltest dein eigenes Volk nicht unterschätzen. Sie spüren, dass etwas im Gange ist. Mehr noch. Und ich halte nichts davon, ihnen etwas vorzuspielen. Je mehr in Alarmbereitschaft versetzt werden, umso besser. Was nützt es, die Wahrheit zu verleugnen?“

„Ist es wirklich so ernst?“

„Wir werden darüber sprechen, sobald Talmir und Mondor da sind. Darüber hinaus ist es möglich, dass wir noch weitere Gäste haben werden. Das hängt vor allem von Oras ab und davon, ob er einen vertrauenswürdigen Boten finden konnte. Du solltest auf jeden Fall die Wachen am Stadttor informieren. Noch heute Nacht.“

„Ich werde einen Boten hinschicken.“

„Tu das. Außerdem wirst du dafür sorgen, dass die Wachen in Askaryan und Zarcas verstärkt werden. Alles weitere werde ich dann im Rat entscheiden.“ Sie griff nach einem Becher, der neben ihr auf dem Boden stand und leerte ihn in einem Zug.

„Ich werde dir noch eine Flasche Sijak bringen lassen.“ sagte Rahor.

„Nein, ich hole ihn mir selbst. Ich will heute keine Diener mehr um mich haben. Und da wir gerade bei dem Thema sind... Ich möchte, dass du in den nächsten Tagen ein Auge auf Sara hast.“

„Gern. Sie ist ein nettes Mädchen.“

Lennys warf Rahor einen scharfen Blick zu. „Ich warne dich. Lass die Finger von ihr. Sie darf sich frei auf dem Burggelände bewegen, aber ich will nicht, dass sie allein in die Stadt geht, haben wir uns verstanden?“

„So wie ich sie einschätze, wird sie nirgendwo hingehen, solange du hier bist. Obwohl ich das nicht verstehen kann...“

„Was meinst du damit?“

Rahor unterdrückte ein Grinsen.

„Nun ja.... immerhin hält sie es ja schon relativ lange in deiner Gegenwart aus...“

Nur um Haaresbreite verfehlte ihn der Kelch, den Lennys ihm entgegen schleuderte.

„Sei froh, dass du zu den besten Kämpfern gehörst!“ zischte sie. „Ich kann es mir im Augenblick nicht leisten, dir den Kopf abzuschlagen. Trotzdem rate ich dir dringend, deine Zunge zu hüten.“

„Zumindest weiß ich jetzt wieder, was dieser Festung die ganze Zeit gefehlt hat.“ gab Rahor gleichmütig zurück. „Es war wirklich langweilig ohne dich.“

Es war kein mangelnder Respekt, der aus dem Cas sprach. Er hätte es nie gewagt, seine Herrin ernsthaft zu beleidigen und wenn sie wirklich schlechter Stimmung gewesen wäre, hätte er seine Worte ebenfalls mit mehr Bedacht gewählt. Aber er kannte Lennys schon viele Jahre und wusste, dass sie ihm sein manchmal etwas vorlautes Mundwerk nicht nachtrug, solange er gewisse Grenzen nicht überschritt.

Im ersten Moment wusste Sara nicht, wo sie sich befand. Sie war aus einem langen, traumlosen Schlaf erwacht und zu ihrer großen Überraschung legte sich keine kratzende Wolldecke, sondern feinste Seide über ihre Schultern. Dann fiel ihr schlagartig alles wieder ein. Die Ankunft in Semon-Sey, die überraschende Wahrheit über den Shaj der Nacht und schließlich das behagliche Zimmer, in das Rahor sie gebracht hatte. Wann hatte sie sich schlafen gelegt? Sie konnte sich nicht erinnern.

Schwere Vorhänge waren vor das Fenster gezogen, so dass der Raum in einem merkwürdigen Dämmerlicht lag. Neugierig sah sie durch einen Spalt nach draußen und stellte erschrocken fest, dass die Sonne ihren höchsten Punkt zur Mittagszeit schon lange überschritten hatte. Nicht mehr lange und sie würde wieder untergehen. Hatte sie wirklich den ganzen Tag verschlafen?

„Ich bin froh, dass du dich etwas ausruhen konntest.“

Sara fuhr zusammen. Sie hatte die dunkle Gestalt, die in der Ecke saß, überhaupt nicht bemerkt. Es war Akosh.

„Bitte verzeih, dass ich hier so einfach in dein Schlafzimmer eingedrungen bin, aber ich wollte mich nicht den neugierigen Blicken der Dienerschaft aussetzen, indem ich vor deiner Tür warte.“

Er stand auf und warf sich seinen Umhang über. „Ich würde mich freuen, wenn wir zusammen zu abend essen... oder in deinem Fall eher frühstücken könnten. Ich habe mir erlaubt, eine Kleinigkeit mitzubringen.“

Noch immer hatte Sara keinen rechten Appetit, auch wenn das Brot ausgesprochen köstlich duftete und der kalte Braten besonders schmackhaft aussah. Akosh hingegen langte kräftig zu. Er hatte sich sichtlich Mühe gegeben und sogar wilden Honig und eine Gewürzpastete mitgebracht.

„Du solltest wirklich etwas essen.“ riet er. „Hier müssen wir nicht mehr mit Vorräten haushalten. Vas-Zarac hat gut gefüllte Speisekammern. Kein Wunder, niemand würde es wagen, die Cas hungern zu lassen, wenn sie hier sind.“

Augenscheinlich hatte der Schmied aus Goriol beste Laune.

„Warum hat sie es mir nicht gesagt?“ fragte Sara geradeheraus.

Akosh ließ das Stück Brot, das er sich gerade genommen hatte, langsam sinken.

„Sara...“

„Ich meine, ich verstehe das. Wirklich. Im Nebeltempel, in Goriol und Fangmor und Gahl... Aber hier, im Sichelland? Musste ich es unbedingt so erfahren?“

„Es war nicht meine Entscheidung, Sara.“

„Natürlich nicht. Das ist es nie. Aber vielleicht kennst du trotzdem die Antwort? Warum nicht wenigstens in Askaryan?“

„Ich weiß es nicht. Nein, sieh mich nicht so an. Ich weiß es wirklich nicht. Anfangs kannte sie dich nicht. Und du weißt inzwischen genug, um verstehen zu können, dass wir kein Risiko eingehen können. Für die Hantua wäre die Shaj der Nacht wohl die erstrebenswerteste Beute überhaupt. Nicht einmal Iandal scheint zu wissen, wer Lennys heute ist. Als er damals seinen Tod vortäuschte, war Saton gerade erst gestorben, er hat überhaupt nichts davon mitbekommen, wie es in Cycalas weiterging. Es wundert mich trotzdem, weil er ja eigentlich gut informiert ist. Oder es war ihm doch egal. Aber was Lennys betrifft.... Vielleicht hätte sie es dir gesagt, als wir aus dem Verlassenen Land zurück kamen. Aber dann erhielten wir die Nachricht von dem Mord an Makk-Ura. Kannst du dir nicht vorstellen, wie ernst die Lage war? Makk-Ura tot. Talmir ein alter Mann. Und Lennys, die dritte Herrscherin, befindet sich quasi inmitten der Hantua jenseits der cycalanischen Grenzen. Deshalb musste sie so schnell zurückkommen. Und wahrscheinlich hat sie deshalb beschlossen, ihr Geheimnis weiter für sich zu behalten. Was wäre gewesen, wenn die Hantua dich gefangen genommen hätten und die Wahrheit aus dir heraus gepresst hätten? Oder wenn ein unbedachtes Wort im falschen Moment gefallen wäre? Niemand hätte dir einen Vorwurf gemacht, Sara, gewiss nicht. Aber das Risiko war einfach zu groß. Nicht, weil wir dir nicht vertraut hätten. Sondern weil dieses Wissen eine viel zu große Gefahr dargestellt hätte. Insgeheim hat Lennys wohl gehofft, du würdest von selbst darauf kommen. Ich weiß nicht, warum sie es dir nicht erzählt hat, nachdem ihr über die Grenze gekommen seid. Vielleicht dachte sie, es käme darauf auch nicht mehr an. Aber eines solltest du wissen. Wenn du sie gefragt hättest, dann hätte sie dich nicht angelogen. Da bin ich mir sicher.“

„Ich kenne meinen Stellenwert, Akosh.“ sagte Sara. Sie klang plötzlich sehr ernst. „Ich weiß, dass ich keinen Anspruch auf irgendein Wissen habe und dass ich eigentlich gar nicht hier sein dürfte. Ich weiß nicht, was ich hier tue. Vielleicht ärgere ich mich nur über mich selbst. Noch vor einigen Wochen hatte ich mir gewünscht, Beema hätte eine andere Novizin als Leibdienerin für Lennys ausgesucht, weil ich mich der Aufgabe nicht gewachsen gefühlt habe. Und jetzt sitze ich hier und beschwere mich, weil man mir eines der größten cycalanischen Geheimnisse nicht anvertraut hat. Ich bin nicht wütend auf Lennys oder dich oder sonst jemanden, sondern nur auf mich selbst. Für euch bin ich ein Nichts, ein Niemand. Aber ihr seid für mich alles, was ich habe. Ich hatte nie eine Familie, sondern nur den Tempel. Die lange Reise mit euch hat mich verändert und mir wird immer mehr klar, dass ich meinen Platz erst noch finden muss. Er ist nicht im Nebeltempel und dort war er auch nie. Aber ich weiß auch nicht, wo er sonst sein könnte. Hier gehöre ich nicht her, ich werde nie eine von euch sein. Aber was bin ich dann? Wie kann ich euch nützen? Ich kann nicht gegen hunderte Hantua in den Kampf ziehen wie die Cas. Ich kann keine Waffen schmieden wie du. Oder wie Menrir Gespräche mit Log führen. Alles, was ich kann, ist herumsitzen und jammern.“

Akosh entspannte sich ein wenig und griff wieder zum Brot.

„Ehrlich gesagt, jammerst du viel weniger als ich es an deiner Stelle tun würde.“ erwiderte er kauend. „Es ist sicher nicht leicht für dich, hier in einem fremden Land auf dein Schicksal zu warten. Und um dir kurz zu widersprechen – du hast uns mehr geholfen als viele andere, die es schon allein aufgrund ihrer Herkunft tun sollten. Sieh dir Fraj an, der sitzt nur in Gahl und versucht, seine Schulden zu bezahlen und hofft, dass ihm neben seinen Gläubigern nicht auch noch Hantua oder Cycala auf den Fersen sind. Aber du...“ Er nahm sich noch ein Stück Braten. „Du... hast gelernt zu kämpfen und dein Talent dahingehend schon mehrfach unter Beweis gestellt. Du bist eine ausgezeichnete Köchin, eine hervorragende Heilerin und ganz nebenbei eine Leibdienerin, die Lennys nicht gleich nach ein paar Tagen zum Teufel geschickt hat. Es sind nicht immer die größten Krieger, die eine Schlacht entscheiden, Sara. Hab Geduld und warte ab. Jeder von uns muss seinen Weg gehen. Und ich bin davon überzeugt, dass der deine sich noch nicht so bald von uns trennen wird.“

„Was soll ich denn hier tun? Gibt es irgendwelche Arbeiten, die ich erledigen kann?“

„Arbeiten?“ Akosh lachte. „Nein, du musst hier nicht arbeiten. Ruh dich aus. Geh in den Burggarten oder sieh dir die Festung an. Ich kann dich gern ein wenig herumführen, soweit es meine Zeit erlaubt. Heute wird daraus aber wohl nichts mehr. Wir erwarten Talmirs Ankunft und sobald er hier ist, wird der Hohe Rat zusammentreten. Man hat mir erlaubt, an der Versammlung teilzunehmen. Aber du wirst dich trotzdem nicht langweilen. Du hast nämlich Besuch.“

„Besuch? Ich?“

Ein vielversprechendes Grinsen breitete sich auf Akoshs Gesicht aus. „Du wirst dich freuen, denke ich. Sie werden gleich hier sein, sobald sie mit Lennys gesprochen haben.“

In diesem Moment klopfte es.

„Als hätte ich es geahnt.“ Akosh stand auf und warf seine Serviette auf den Tisch. „Bitte entschuldige mich jetzt. Die Reste hier lasse ich abholen, du brauchst dich nicht darum zu kümmern.“

Er öffnete die Tür und verschwand nach draußen, allerdings nicht, ohne die nächsten Gäste mit einem freundlichen Augenzwinkern eintreten zu lassen.

„Menrir! Imra!“ schrie Sara auf und flog den beiden Männern freudestrahlend um den Hals. „Wie kommt ihr denn hierher? Wie geht es euch?“

Beide sahen müde aus, hatten aber offenkundig ebenso gute Laune wie Akosh. Imra errötete als Sara ihn genauso herzlich begrüßte wie den alten Heiler.

„Eins nach dem anderen.“ antwortete Menrir. „Uns geht es hervorragend, wenn man davon absieht, dass mir jeder Knochen einzeln weh tut. Ich bin wirklich zu alt für solche weiten Reisen. Aber ganz im Ernst: Du glaubst nicht, wie froh ich bin, dich gesund und munter wieder zu sehen. Lennys hielt es nicht für nötig, in ihren Nachrichten zu erwähnen, wie es dir geht und ob du überhaupt noch bei ihr bist.“

„Mir geht es gut, danke! Und dir, Imra?“

„Ich kann nicht klagen. Wie unser Freund Menrir schon sagte, es war ein beschwerlicher Weg hierher, aber ein solcher Empfang entschädigt uns natürlich.“

Hastig schob Sara die benutzten Teller und Platten zusammen. Von den Speisen war nicht viel übrig geblieben.

„Vielleicht kann ich euch irgendwo noch etwas zu essen...“

„Lass gut sein, mein Kind.“ Menrir zog einen Stuhl zu sich. „Wir sind schon seit heute mittag hier und haben uns bereits gestärkt. Aber wir sind ausgehungert nach Neuigkeiten. Zwar haben wir von Akosh und Oras schon das Wichtigste erfahren, aber...“

„Oras ist auch hier?“ fragte Sara überrascht.

„Nein, das nicht. Wir haben ihn zwischen Gahl und Elmenfall getroffen. Aber dazu später mehr. Erst musst du uns erzählen, wie es euch ergangen ist. Oras und Akosh haben uns von den Ereignissen im Verlassenen Land berichtet, aber in beiden Fällen hatten wir nicht viel Zeit für Einzelheiten.“

Also begann Sara mit ihrem Bericht. Angefangen von ihrem Weg nach Qorell und wie sie von dort aus in die Mittelebenen aufgebrochen waren. Von den Kämpfen bei den Gräbern und dem Aufstieg zu den Gahl-Minen. Von den Erkenntnissen, die Lennys dank der Schriftrollen aus dem Lebenstempel gewonnen hatte und von ihrem Aufenthalt im Haus des Vogelmenschen. Und schließlich berichtete sie auch von ihrem gefährlichen Abenteuer im Verlassenen Land und von der überstürzten Rückkehr ins Sichelland, nachdem sie von Makk-Uras Tod erfahren hatten.

Imra und Menrir schwiegen betroffen. Sie hatten bereits von dem Unfall des Shajs gehört und sowohl Akosh als auch Oras hatten ihnen von Iandals Verrat berichtet, doch all das waren nur vage Umschreibungen gewesen. Diese ganzen Details jetzt von Sara zu hören und den Ernst der Lage viel deutlicher zu erkennen, erschütterte sie.

„Ich habe Iandal gekannt...“ sagte Menrir. „Nicht gut natürlich, nur flüchtig. Hätte man mir damals gesagt, dass er ein Verräter ist und sogar für den Mord an Saton verantwortlich ist... meine Güte, ich hätte es nie geglaubt. Du etwa, Imra?“

Der Weber schüttelte den Kopf. „Nein, sicher nicht. Er muss vollkommen verrückt sein, wenn er sich jetzt auf die Seite der Hantua stellt. Weiß er denn nicht, dass Cycalas seinen Kämpfern weit überlegen ist?“

„Wenn ich es recht verstanden habe, ist er davon überzeugt, dass er Ash-Zaharrs Macht für sich gewinnen konnte.“ wandte Sara ein. „Er glaubt, der Dämon würde sich jetzt gegen das Sichelland stellen und ihn im Kampf unterstützen.“

„Das ist doch lächerlich!“ wetterte Menrir.

„Ich weiß nicht recht...“ sagte Imra nachdenklich. „Unsere Religion ist alt und vielschichtig. Ash-Zaharr ist kein berechenbarer Gott, der seinem Volk immer wieder vergibt. Du kannst das nicht wissen, Menrir, aber es gibt viele Beispiele dafür, dass er leichter straft als hilft. Jedenfalls bin ich froh, dass wir jetzt hier sind. Ich glaube, im ganzen Mittelland gibt es keinen sicheren Ort mehr für uns.“

„Was ist denn mit der Gemeinschaft in Fangmor? Durftest du sie so einfach verlassen? Und wie seid ihr überhaupt so schnell hierher gekommen und warum?“ Sara konnte es kaum erwarten, zu hören, wie es den beiden Freunden denn ergangen war.

Menrir zuckte die Achseln.

„Ach weißt du, viel gibt es da nicht zu erzählen. Nachdem ihr aus Fangmor abgereist seid, haben zahlreiche Sichelländer aus dem ganzen Südreich Imra einen Besuch abgestattet. Sie wollten von ihm wissen, was sie tun sollten. Aber dann gab es weitere Morde. Zwei im Mongegrund und einen weiteren in Goriol. Das hat den meisten Cycala dann gereicht und sie haben ihre Sachen gepackt und sind in ihre Heimat zurückgekehrt. Nur in Goriol selbst blieben noch ein paar. Ich bin nach dem Mord an Paccos in Qorell zurück nach Fangmor gegangen. Imra und ich haben ständig auf Nachricht von euch gewartet, aber es dauerte recht lange, bis wir wieder von euch hörten. Erst als ihr schon in Gahl angekommen wart und Lennys die Archive des Lebenstempels durchsucht hatte, hat sie uns wieder einen Boten geschickt. Wir beschlossen, zu meinem Haus nach Elmenfall zu gehen, damit wir euch im Notfall zur Verfügung stehen konnten. Doch als wir dort ankamen, erhielten wir einen Brief von Haya. Sie machte sich Sorgen, weil ihr zusammen mit Oras schon seit Tagen im Verlassenen Land unterwegs wart. Also ließen wir alles stehen und liegen und machten uns auf den Weg nach Gahl, um uns mit Haya zu treffen. Kurz vor unserem Ziel trafen wir sie dann, zusammen mit Oras. Sie erzählten uns von Makk-Uras Tod und dass sie auf dem Weg nach Osten seien, um dort unterzutauchen. Und sie sagten uns, dass ihr über den Westbogen nach Cycalas gegangen seid. Also sind wir euch gefolgt. Wir trafen einen Händler der Shangu, der uns in seinem Pferdewagen von Valahir bis nach Askaryan mitnahm. Tag und Nacht sind wir gefahren, es war eine Tortur! Aber wir kamen schnell voran und in Askaryan hatten wir euch schon fast eingeholt. Talmir schickte gerade einen berittenen Boten nach Semon-Sey und wir gaben ihn einen Brief an Lennys mit, der unser Kommen ankündigte. Und jetzt sind wir hier. Dank einer Ausnahmegenehmigung von Talmir, die es uns erlaubte, für die Reise durch das Sichelland auf Eseln zu reiten. Er meinte, es wäre wichtig, dass wir rechtzeitig zur Ratsversammlung in Vas-Zarac ankommen, für den Fall, dass man noch Fragen an uns hätte.“

„Aber... dann waren wir die ganze Zeit nicht einmal eine Tagesreise von euch entfernt?“ fragte Sara erstaunt.

„Zumindest ab dem Westbogen. Wir hätten euch wohl noch vor dem Hof der Pferdebrüder eingeholt, doch der Händler, der uns mitnahm, hat einen Umweg über Shanguin gemacht. Hättet ihr den Mondhengst nicht gehabt, hätten wir uns wohl spätestens in Askaryan getroffen.“

„Die Leute dort werden froh sein, wenn wieder Ruhe einkehrt.“ meinte Imra. „Normalerweise ist an der Grenze nicht viel los. Aber in den letzten Tagen … erst der Mord an Makk-Ura. Dann Akoshs plötzliche Rückkehr, gefolgt von Lennys in Begleitung einer Mittelländerin. Uns beide hat man da schon kaum mehr beachtet.“

„Du wusstest es auch, oder?“ sagte Sara plötzlich zu Menrir. „Dass Lennys die Shaj ist?“

Menrirs verlegene Miene war an sich schon Antwort genug. Trotzdem antwortete er in erklärendem Ton.

„Sie hat mir mit einigen abscheulichen Dingen gedroht, wenn ich es dir sage. Und ich konnte es ja auch verstehen, obwohl es mir sehr leid tat, dir diese nicht unwesentliche Information vorzuenthalten. Ich kann verstehen, wenn du mir böse bist.“

„Das bin ich nicht. Es lässt sich ohnehin nicht mehr ändern.“

Sie unterhielten sich noch eine Weile, nur kurz von einem Burgdiener unterbrochen, der das Essen abtrug und ihnen wortlos einen Krug Wein hinstellte. Lustlos schlug er die Tür wieder hinter sich zu, ohne einen guten Abend zu wünschen.

„So sind sie eben. Die Cas behandeln uns freundlich, aber die einfachen Bediensteten können mit Fremdländern eben nichts anfangen.“ meinte Menrir achselzuckend.

Etwas später erhielten sie erneut Besuch. Es war Rahor.

„Meine Güte, ihr sitzt hier zusammengedrängt wie die Ziegen im Stall.“ lachte er. „Dabei steht euch die halbe Festung zur Verfügung. Menrir, Imra, es ist mir eine Freude euch zu sehen.“

„Die Freude ist ganz meinerseits, Rahor.“ lächelte Menrir und begrüßte den Cas mit einem kräftigen Handschlag. Imra neigte nur still den Kopf.

„Ich bin nur gekommen, um euch mitzuteilen, dass sowohl Talmir als auch Mondor angekommen sind. Lennys erwartet noch heute eine erste Zusammenkunft.“

„Mondor ist auch hier?“ fragte Menrir erstaunt. „Ich war immer der Meinung, er wäre nur eine Legende. Hieß es nicht, dass er die Wälder nie verlässt?“

„Wenn es die Umstände verlangen...“ sagte Rahor ausweichend. „Aber ich fürchte, ich bin nicht befugt, es euch näher zu erklären. Heute werden nur die Cas, Talmir, Lennys und Mondor eine Besprechung abhalten. Ihr könnt euch also anderweitig vergnügen. Wahrscheinlich wird es morgen noch einmal eine größere Versammlung geben, an der dann auch ihr teilnehmen dürft. Lennys möchte, dass ihr eure Berichte über die südlichen Gemeinschaften und über die Ansichten König Logs noch einmal vor dem Rat wiederholt.“

Menrir hob ergeben die Hände.

„Ganz wie sie wünscht. Darf Sara auch an dem Treffen teilnehmen?“

„Ich fürchte, nein. Du weißt, wie streng sich Lennys an das Protokoll hält. Dass ihr beide zugelassen werdet, ist ohnehin schon eine Ausnahme. Aber eure Aussagen sind sehr wichtig in unserer momentanen Lage. Haltet euch also morgen bereit und bleibt in Vas-Zarac.“

Rahor verabschiedete sich mit einer knappen Geste und eilte wieder davon. Es war kurz vor Sonnenuntergang und gleich würde das erste Treffen des Hohen Rates beginnen.

„Wer ist Mondor?“ fragte Sara, nachdem Rahor gegangen war.

„Ein Priester.“ antwortete Imra. „Der Oberste Batí-Priester um genau zu sein. Er lebt in Yto Te Vel und ist Vorsteher des Batí-Tempels im Norden und wenn es nach ihm ginge, würde er ihn nie verlassen. Er hält nicht viel von den anderen Stämmen und hat jeden Augenblick seines Lebens dem Tempeldienst verschrieben.“

„Und trotzdem ist er jetzt in Semon-Sey?“

„Er hat wohl keine andere Wahl. Nicht einmal Mondor wagt es, einen Befehl der Shaj zu verweigern. Nun ja, sagen wir, einen Befehl von Lennys. Bei Talmir sähe das anders aus.“

„Weil Talmir ein Priester ist?“

„Weil Talmir der höchste Priester des Landes und Shaj des Himmels ist. Die Batí erkennen nur einen einzigen Kult an und das ist ihr eigener. Die anderen Stämme sind ihnen zu freimütig. Ein Batí-Priester fügt sich nicht in die allgemeinen Hierarchien ein. Sie sind zwar ebenso wie alle anderen Priester Diener des Himmels, aber sie leben in ihrer eigenen Welt und gehorchen nur den ihren. Der höchste Batí-Priester, Mondor, hat für sie einen höheren Stellenwert als Talmir. Und wenn man sie zu irgendetwas bewegen oder überreden will, hat man nur Aussicht auf Erfolg, wenn man zuerst Mondor überzeugt.“

„Gilt das nur für die Priester?“

„Es gilt für alles, was mit unserer Religion zu tun hat. Die meisten Batí sind Krieger, nur sehr wenige dienen im Tempel. Aber alle unterwerfen sich diesem Glauben und damit auch Mondors Geboten. Wenn allerdings die anderen Shaj, also Lennys und bis vor kurzem auch Makk-Ura, einen Befehl geben, werden sich auch die Batí dem nicht verschließen. Im Grunde sind sie ein sehr geachteter Stamm, wenn auch etwas gefürchtet. Nur in ihren Glauben lassen sie sich eben nicht reinreden und Talmir ist für sie nichts anderes als der Anführer von naiven Träumern, die es nicht besser wissen.“

„Pssst, Imra, du solltest nicht so reden.“ mahnte Menrir.

„Ich erkläre Sara nur, was Mondor für eine Rolle im Vergleich zu Talmir spielt. Ich selbst bin auch kein Batí und für meinen Geschmack sind sie zu radikal und blutrünstig. Und ich verehre Talmir als einen Shaj und einen außergewöhnlichen Priester. Zufrieden?“

„Entschuldige, ich wollte dich nicht beleidigen. Sara muss denken, dass wir zwei alte Dummköpfe sind, die sich wegen irgendwelcher Kleinigkeiten in die Haare bekommen. Nicht wahr, Sara?“

„Nein, natürlich nicht.“ lachte Sara. „Ich glaube, viele Dinge in diesem Land werde ich nie verstehen. Es ist alles sehr schwierig hier.“

Obwohl Menrir und Imra abends noch lange bei Sara gesessen waren und sich mit ihr unterhalten hatten, wachte sie am nächsten Tag schon beim Morgengrauen auf. Gestern hatte Menrir ihr gezeigt, dass sie von ihrem Fenster aus zum Großen Saal hinübersehen konnte, der im Hauptteil der Festung lag. Hoch oben, zwischen zwei kleineren Türmen, flackerten auch jetzt noch die Öllampen hinter einer Reihe schmaler Fenster. Das Treffen war immer noch nicht beendet. Ansonsten regte sich in der Burg kein Leben.

Nachdem sie den vergangenen Tag fast vollständig in ihrem kleinen Zimmer verbracht hatte und nur zweimal den steinernen Wasserkrug an einem Brunnen in einem nahen Hof aufgefüllt hatte, zog es die Novizin jetzt nach draußen. Die kalte Morgenluft würde ihr gut tun und ein kurzer Spaziergang war jetzt genau das Richtige, um die letzte Müdigkeit aus ihrem Körper zu vertreiben.

Eine kleine Pforte gegenüber ihres Zimmers führte direkt hinaus in den Brunnenhof, an dessen Westseite ein weinbewachsener Bogen den Durchgang zu einer gepflegten Gartenanlage bildete. Wildrosenhecken, sauber geschnittenes Gras und hohe Blutbuchen ließen sie schnell vergessen, dass sie sich eigentlich im militärischen Zentrum des Landes befand.

„Gefällt es dir hier?“ ertönte Rahors Stimme plötzlich. Er stand einige Schritte von ihr entfernt und lehnte am Stamm einer Buche.

„Guten Morgen.“ grüßte Sara höflich. „Ja, es ist wirklich schön. Ich hoffe, ich habe gegen keine Regeln verstoßen?“

„Aber nein, keineswegs. Aber nur wenige haben wie du einen Sinn für den Reiz der Natur am frühen Morgen.“

„Ich dachte, es sind alle noch im Großen Saal?“

„Nicht alle, wie du siehst. Um genau zu sein, sind nur noch Lennys, Talmir und Mondor oben. Wir Cas haben uns schon vor zwei Stunden verabschiedet. Oder sind verabschiedet worden, wenn man ehrlich ist. Aber ich bin nicht unglücklich darüber. Die Stimmung dort oben ist im Moment nicht gerade die Beste. So ist es immer wenn Talmir und Mondor aufeinandertreffen. Zum Glück ist das nur noch selten der Fall.“

„Wir können froh sein, dass sie keine Sicheln tragen.“ Ein Mann in Rahors Alter trat gerade durch den Durchgang vom Brunnenhof. Sein schwarzes Haar fiel ihm wild in die Stirn und verliehen ihm so ein verwegenes und draufgängerisches Aussehen, das hervorragend zu seinem spitzbübischen Grinsen passte. Rahor schlug ihm kumpelhaft auf die Schulter.

„Darf ich vorstellen, das ist Sham-Yu, derzeit der jüngste Cas von Cycalas. Und mein bester Freund, wenn er nicht gerade wieder irgendeinen Unsinn macht. Sham, das ist Sara, Lennys' Leibdienerin der letzten Wochen.“

„Ah, du bist die Mittelländerin, nicht wahr?“ Shams schwarze Augen leuchteten. „Ist es wahr, dass du einen Silberraben besitzt?“

„Ich... nein, eigentlich nicht.“ antwortete Sara verunsichert. Das war die letzte Frage, die sie erwartet hatte. „Ich habe mich nur ein wenig mit ihm angefreundet. Aber ich habe ihn lange nicht mehr gesehen.“

„Der kommt schon wieder.“ meinte Sham leichthin.

„Sham, was soll das? Und was machst du überhaupt hier? Ich dachte, du solltest mit dem Stallmeister sprechen?“

„Das übernimmt Faragyl. Du weißt doch, er hat da ein besseres Händchen. Und im Grunde ist es ja egal, wer ihn bequatscht.“

Aus dem Großen Saal war gedämpftes Scheppern zu hören.

„Oh...“ grinste Sham. „Das war sicher Lennys. Könnte der silberne Kerzenleuchter gewesen sein.“

„Wurde ja auch Zeit. Sie war die ganze Nacht über schon ungewöhnlich geduldig. Aber um den Leuchter ist es schade.“

Sara starrte die beiden Cas sprachlos an. Anscheinend amüsierten sie sich prächtig. Als Rahor ihren Gesichtsausdruck bemerkte, machte er eine entschuldigende Geste.

„Bitte denke nicht, dass wir respektlos sind. Aber wenn Talmir und Mondor aufeinandertreffen, endet das immer in einem mittelschweren Gewitter. Und Lennys kann diese Streitereien nicht ausstehen. Sie hat es gut als Shaj. Wir müssen dasitzen und uns alles stillschweigend anhören. Sie wirft eben mit Sachen.“

„Oder mit Essen.“ fiel Sham lachend ein. „Erinnerst du dich an das letzte Ratstreffen? Die Pflaumen? Der arme Balman, er hat heute noch Alpträume davon....“

„Er war doch selbst schuld. Wenn er schon drei Nächte in Folge ins Wirtshaus geht, dann hätte er die paar Stunden auch noch durchhalten können. Einschlafen während der Ratsversammlung... Ja, da war sie ziemlich böse.“

„Aber hier geht es doch um etwas ganz anderes!“ unterbrach Sara das neuerliche Gelächter. Die beiden Männer wurden schlagartig wieder ernst.

„Da hast du natürlich recht.“ bestätigte Rahor. „Und genau das sieht Lennys ebenso. Aber diese beiden Streithähne reiten wieder auf ihren Prinzipien herum und vergessen ganz, dass sie sich einigen sollten, anstatt einander Vorwürfe zu machen. Es ist kein Wunder, wenn Lennys da ausrastet. Ich denke, du kennst sie gut genug, um zu wissen, dass sie nicht gerade geduldig ist. Sie will Ergebnisse und keine langen Diskussionen.“

„In diesem Fall ist das aber nicht so einfach.“ erwiderte Sham. „Talmir hat seine Meinung, Mondor eine andere. Und um das Ganze noch komplizierter zu machen, sieht Lennys selbst das noch einmal ganz anders. Ich finde, sie sollte sich gar nicht lange mit den beiden herumärgern.“

„Wenn wenigstens Makk-Ura noch da wäre. Der hatte so eine herrlich beruhigende Art. Gerade jetzt könnten wir die brauchen. Ich möchte mir gar nicht ausmalen, wie viele Donnerwetter uns in den nächsten Tagen noch erwarten.“

Kalter Nieselregen setzte ein und Sara zog ihren Umhang noch ein wenig enger zusammen.

„Du solltest zusehen, dass du dich nicht erkältest.“ meinte Rahor. „Du bist dieses Klima nicht so gewöhnt wie wir.“ Plötzlich deutete er zu den Fenstern des Großen Saals. „Die Lampen sind aus. Entweder hat Lennys sie zu einem Scherbenhaufen verarbeitet oder sie sind fürs Erste fertig.“

„Letzteres!“ verkündete Sham, als sein Blick auf eine Nebenpforte der Festung fiel. „Da ist Talmir. Und da hinten Mondor. Uh, die sehen beide nicht gerade zufrieden aus... Jetzt kommt Talmir in unsere Richtung. Zieht schon mal die Köpfe ein, ich glaube er sprüht gleich Funken!“

Nur wenige Augenblicke später hastete Talmir an ihnen vorbei. Er beachtete sie gar nicht, aber sein zorniger Blick sprach Bände.

„Ich würde sagen, die erste Runde geht an Mondor...“ spottete Sham, doch sogleich erstarrte er. Vor ihnen stand ein schwarz gekleideter alter Mann, dessen Rücken zwar vom Alter gebeugt war, dessen Augen aber noch pechschwarz und hellwach durch den grauen Morgen funkelten. Ein langer grauer Bart und die grauen Haarsträhnen, die unter der Kapuze hervor wehten, bildeten einen merkwürdigen Kontrast dazu. Er stützte sich auf einen glatten Stab aus demselben schwarzen Holz, aus dem hier auch die Möbel und Türen gezimmert waren.

„Junger Sham-Yu, du solltest doch langsam gelernt haben, dass die Niederlage des einen nicht unbedingt den Sieg des anderen verheißt...“ krächzte der Alte.

„Verzeiht, Mondor, es war nicht so gemeint...“ Mit einem Mal wirkte Sham ganz verlegen und schien sich gar nicht mehr wohl in seiner Haut zu fühlen.

„Ich fürchte, du hast es genau so gemeint. Du denkst zu wenig nach, bevor du redest, junger Sham-Yu...“ Er wandte sich an Rahor. „Und du, Rahor, solltest nicht gerade du ihm ein gutes Vorbild sein? Bist nicht du gleichzusetzen mit einem älteren Bruder, den er nicht hat?“

„Er ist ein Cas, Mondor. Er braucht keine Vorbilder, er muss selbst lernen.“ Rahor sah dem Priester gerade in die Augen. Dieser verzog seinen schiefen Mund zu etwas, dass vielleicht ein Lächeln sein sollte.

„Nicht dumm, Rahor, nicht dumm. Aber jetzt geht und lasst mich mit dieser jungen Dame allein.“ Sara zuckte zusammen. Rahor und Sham wechselten misstrauische Blicke.

„Keine Sorge, ich werde sie weder dem Dämon opfern noch in eine Ratte verwandeln. Sara, nicht wahr? Ich habe interessante Dinge über dich gehört. Und ich halte es für dringend nötig, dass wir uns einmal unterhalten...“

„Weiß Lennys davon?“ fragte Rahor streng.

„Oh, sie weiß es, sie weiß es...“ Mondor schien über Rahors Reaktion eher belustigt als verärgert. „Auch wenn sie keine Notwendigkeit für ein solches Gespräch sieht. Aber … ich tue das sehr wohl. Nun, ...Sara....“

Rahor wollte noch etwas sagen, doch Sara kam ihm zuvor.

„Ich bin einverstanden.“

Zufrieden nickte Mondor. „Anscheinend ziehen es diese beiden jungen Krieger vor, an Ort und Stelle Wache zu halten. Darf ich dich also hinein bitten? Am Kaminfeuer redet es sich wohl auch viel besser als hier draußen...“

Sie waren gerade ein paar Schritte gegangen, als Rahor ihnen hinterherrief:

„Ich warne dich, Mondor! Sollte ich irgendetwas erfahren, was mir nicht gefällt, werde ich dafür sorgen, dass du den Rest deines Lebens in Shanguin verbringst!“

Im Hauptteil der Burg brannten keine Lampen. Die fahle Morgensonne vermochte die dunklen Gänge und Hallen, die sie durchquerten, kaum zu erhellen und so bekam Sara nur wenig vom Innern des Gebäudes zu sehen. Es war weit größer als der Nebeltempel und auch die Burg Orjopes konnte sich nicht mit dieser Festung messen. Zur großen Überraschung der Novizin gab es kaum Teppiche oder Läufer, keine reichen Verzierungen und keine Bilder oder sonstigen Wandschmuck. Sie kannte Lennys' Vorliebe für klare, nüchterne Einrichtungen, aber sie hätte nicht gedacht, dass ihre Herrin dies so konsequent umsetzte.

Der alte Mondor bewegte sich für sein Alter unerwartet flink und seine Schritte waren so kraftvoll wie die eines jungen Mannes. Als sie nach schier endlosen Treppenaufgängen und Fluren endlich das Kaminzimmer erreichten, war er noch nicht einmal annähernd außer Atem.

Der Lehnstuhl vor dem Kaminfeuer war verwaist. Nur ein leerer Kelch, der daneben stand, verriet, dass dort vor nicht allzu langer Zeit jemand gesessen haben musste. In einer Ecke auf der anderen Seite des quadratischen Raumes standen mehrere gepolsterte Hocker um einen niedrigen runden Tisch.

„Ich habe mir erlaubt, uns etwas zum Aufwärmen bringen zu lassen.“ sagte Mondor höflich und deutete auf die Teebecher, deren tiefroter Inhalt entfernt nach Waldbeeren duftete.

Etwas angespannt nahm Sara Platz. Sie hatte nicht die geringste Ahnung, was der Oberpriester der Batí mit ihr besprechen wollte. Mondor war ihr unheimlich. Zwar weckten seine wohlgewählten Worte kein Misstrauen, aber wenn er sie mit seinen durchdringenden Augen ansah, hatte sie das Gefühl als könne er Gedanken lesen. Ein Eindruck, den sie auch nach ihrer ersten Begegnung mit Lennys gehabt hatte.

Der Alte hielt sich nicht mit langem Geplänkel auf.

„Was weißt du über die Batí?“

'Nichts.' dachte Sara im ersten Moment. Aber dieser Impuls verschwand und so begann sie langsam, ihre Erinnerung arbeiten zu lassen.

„Nicht viel. Als Ash-Zaharr sein Blut mit den auserwählten Menschen teilte, fürchteten diejenigen, die zum Krieger ausersehen waren, das kostbare Geschenk könne vielleicht durch ein Unglück oder eine bevorstehende Schlacht verloren gehen. Also fügte sich der Blutsträger eine Wunde zu und vermischte sein Blut mit dem anderer Krieger, so dass jeder von ihnen einen Teil Ash-Zaharrs in sich trug. Der Schlangendämon aber erfuhr davon und nannte diese Krieger Betrüger und Verräter. Die Batí tragen größere und gefährlichere Kräfte in sich als die anderen Cycala, aber sie haben auch andere Eigenschaften von Ash-Zaharr geerbt und sie verehren den Dämon auf eine andere Art und Weise, als es die restlichen Cycala tun. Heute glauben die meisten, dass es sich bei diesem Blutgeschenk um eine Legende handelt.“

„Eine schöne Zusammenfassung.“ lobte Mondor. „Für eine Mittelländerin bist du erstaunlich gut informiert. Zumindest, was die Geschichte über die Entstehung der Batí angeht. Was denkst du darüber? Glaubst du, dass sie wahr ist?“

„Ich...?“ Sara hatte nicht mit einer solchen Frage gerechnet. „Eigentlich habe ich nie darüber nachgedacht.“

„Natürlich nicht. Warum solltest du auch? Du bist mit anderen Legenden aufgewachsen. Wie ich hörte, hast du im Nebeltempel im Mittelland gedient?“

„Das ist richtig.“

„Und man hat dich dort gelehrt, die Großen Mächte zu verehren, mit Ausnahme unseres Gottes Ash-Zaharr?“

„Wir haben eigentlich nie über ihn gesprochen...“

„Aber du weißt, wie Sacua entstanden ist und welche Rolle er dabei gespielt hat?“

„Natürlich.“

„Weißt du, Sara, es gibt Menschen, die halten nicht viel von diesem alten Glauben. Einige zweifeln sogar die Existenz der Mächte an... halten sie für eine Metapher für die Kraft der Natur. … Glauben nicht an Götter und Dämonen und denken, wir Priester wären alle nur Spinner...“

„Ja, ich weiß. Es ist fast unmöglich, sie zu überzeugen.“

„Weil es keine wirklichen Beweise gibt. Nur Geschichten und Erzählungen. Erinnerungen. Es ist sehr, sehr wenigen Menschen vergönnt, eine Erfahrung zu machen, die ihnen die Existenz der Mächte beweist. Man kann sie ja nicht sehen oder hören. Und ob es für diese wenigen Ausersehenen ein Segen ist, wage ich eher zu bezweifeln.“

Jetzt begann sich Sara etwas unwohl zu fühlen. Sie glaubte zu wissen, worauf Mondor hinauswollte.

„Natürlich gibt es Ausnahmen...“ fuhr der Alte fort. „Du hast auch die Geschichten über unseren Schlangendämon gehört. Über seine Manifestation, über seine Erscheinung und seine Kräfte, die er uns Menschen spüren ließ..“

Sara antwortete nicht, aber ihr Verdacht hatte sich bestätigt.

„Du gehörst nicht zu denen, die diese Geschichten als Phantasterei abtun, nicht wahr?“

„Nein...“

„Weil du es besser weißt?“

„Ich...“

„Hast du nicht den Beweis erhalten? Damals, in Sagun...?“

„Ich glaube nicht, dass ich darüber sprechen möchte.“

Sie hatte sich nie wirklich mit diesen Erinnerungen auseinandergesetzt. Und auch nicht damit, welche Bedeutung, das, was sie im Felsland erlebt hatte, vielleicht haben konnte. Sie wusste nur, dass dieser Batí-Priester ihr immer unheimlicher wurde. Was wollte er wirklich von ihr?

Mondor schien ihr die Abfuhr nicht übel zu nehmen. Im Gegenteil, er wirkte sogar recht zufrieden mit dem Verlauf des Gespräches. Er sah zum Fenster hinaus und beobachtete eine Weile lang zwei Raben, die scheinbar ziellos über dem Dienstbotenflügel kreisten.

„Es ist seltsam, dass ihr beide diesem Vorfall so wenig Bedeutung beimesst.“ sagte er dann. „Du weißt natürlich nicht wirklich, was geschehen ist. Aber Lennys hätte ich mehr Weitsicht zugetraut. Und es wäre mehr als angemessen gewesen, dich darüber aufzuklären. Doch möglicherweise... war sie zu sehr mit sich selbst beschäftigt.“

Sara stand auf. „Ich möchte jetzt lieber gehen.“

„Bitte bleib noch einen Moment. Du darfst nicht denken, dass ich ihr einen Vorwurf mache. Keinen ernstzunehmenden jedenfalls. Es ist eine schwierige Situation, für sie noch mehr als für dich. Beinahe hätte sie auch mich im Unklaren gelassen. Es war eine für sie eher unwichtige Randbemerkung, die mich aufhorchen ließ. Natürlich hat sie mich darüber informiert, was ihr in Sagun getan habt und bei dieser Gelegenheit hat sie erwähnt, dass Akosh, ganz im Gegensatz zu dir, nicht in der Lage war, im entscheidenden Moment bis zu den Altären vorzudringen. Ich hakte nach und ich muss sagen, sie hat mir nur äußerst widerwillig mehr Informationen zukommen lassen. Und sie hat sich sehr darum bemüht, den Vorfall herunterzuspielen, wie mir scheint. Deshalb möchte ich gern einiges von dir erfahren.“

„Ich glaube nicht, dass Lennys das möchte.“

„Da hast du vollkommen recht. Sie war nicht gerade begeistert, als ich darauf bestand, mit dir zu sprechen. Nur leider ist ihr Wille ausnahmsweise einmal nicht entscheidend. Es besteht eine gewisse Notwendigkeit, diese Angelegenheit besser zu durchleuchten und auch wenn Lennys das Ganze wohl nicht so ernst nimmt, wie es angebracht wäre, musste sie meinem Anliegen letztendlich doch zustimmen. Sie weiß also, dass wir jetzt hier zusammensitzen und sie weiß auch, worum es in diesem Gespräch geht. Und sie hat, wenn auch nicht unbedingt freudestrahlend, ihre Zustimmung dazu gegeben.“

Zögernd setzte sich Sara wieder. Mondor lächelte zufrieden.

„Danke. Zuerst einmal werde ich dir kurz erklären, warum das, was du zu sagen hast, für uns überhaupt so wichtig ist. Damit wären wir auch gleich an dem Punkt, an dem Lennys' Meinung von der meinen abweicht. Ich bin gespannt, wie du darüber denkst.“

„Warum sollte meine Meinung überhaupt eine Rolle spielen?“ fragte die Novizin ablehnend.

„Oh, im Grunde genommen tut sie das nicht. Aber auch Lennys' oder meine Ansichten sind vollkommen unwichtig, denn sie ändern nichts an den Tatsachen. Aber wie wir mit der Wahrheit umgehen, kann sehr entscheidend für unser Schicksal sein. Es ist wie bei einem Kaufmann, dessen Lehrjunge immer wieder Gold aus der Kasse stiehlt. Ob der Kaufmann seinem Schüler vertraut oder nicht, es ändert nichts an der Schuld des Jungen. Doch wenn er die Augen öffnet und die Wahrheit erkennt, wird er den Lehrling hinauswerfen und so sich und sein Eigentum für die Zukunft schützen. Ich möchte, dass du verstehst, warum ich dich um diese Unterredung gebeten habe. Was du daraus machst und ob du ehrlich zu mir bist, ist allein deine Entscheidung. Aber sie kann unser aller Schicksal beeinflussen.“

„Ist das nicht ein bisschen übertrieben? Lennys weiß doch viel besser als ich, was in Sagun geschehen ist...“

„Sie kennt die Hintergründe besser. Aber dennoch habt ihr Unterschiedliches erlebt. Aber dazu später. Ich habe dich vorhin nicht umsonst gefragt, ob du mit der Geschichte unserer Religion vertraut bist. Und du scheinst zumindest über die grundlegenden Dinge Bescheid zu wissen. Ash-Zaharr hat sich gegen die anderen Götter gestellt und sich stattdessen einem Menschenvolk zugewandt – den Cycala. Er schenkte ihnen sein Blut und zeugte Nachkommen. Soweit die Legende. Tatsache ist, dass seine Macht und auch die Macht seines Blutes unser Land zu dem gemacht haben, was es heute ist. Wir sind starke Krieger, mit denen sich kein anderes Volk messen kann, denn nur wir tragen sein Erbe in uns. Zu den Zeiten der Alten, die die geheimen Schriftrollen verfassten, wurden Rituale entwickelt, die es einigen Wenigen erlaubten, den Blutdämon anzurufen und seinen Beistand zu erbitten in Zeiten der Not und Bedrohung. Eines dieser Rituale wurde während des großen Krieges in Sagun durchgeführt. Du hast davon gehört. Niemandem ist es möglich, ein Volk zu besiegen, das sich diese Kraft zu Nutze macht. Wer kann schon den Gott des Todes unterwerfen oder in Schach halten? Nach allem, was Lennys und Akosh von ihrer Reise ins Verlassene Land berichtet haben, behauptet nun aber der Verräter Iandal, er habe genau das geschafft. Oder vielmehr: Er habe Ash-Zaharr dazu gebracht, sich von den Cycala ab- und ihm zuzuwenden. Er sagt, er kämpfe mit der Macht der Großen Schlange und das bedeutet nichts anderes als dass Ash-Zaharr nun auf der Seite der Hantua steht. Kannst du dir das vorstellen? Eigentlich ist es lächerlich. Warum sollte sich der Große von dem einzigen Volk lossagen, das seiner würdig ist, nur um einen feigen Verräter dabei zu unterstützen, uns mit einer Horde Bastarde im Rücken zu vernichten? Eigentlich sollten wir uns deshalb keine Sorgen machen. Aber Iandal ist mit einigen alten Riten vertraut und es ist durchaus möglich, dass er als geborener Sichelländer es geschafft hat, Ash-Zaharr anzurufen. Und wer weiß, wozu das letztendlich führen kann? Wir müssen auf der Hut sein! Wir müssen alles daran setzen, das Vertauen des Blutdämons ganz zurückzugewinnen. Er ist unberechenbar. Auch wenn er vielleicht nicht sein ganzes Volk vernichten würde, so ist es möglich, dass Iandal es geschafft hat, Ash-Zaharrs Wut neu zu entfachen. Du weißt, dass der Große nicht allen Cycala gleich wohl gesonnen ist. Sein Zorn währt nun schon viele hundert Jahre und er vergibt nicht leicht. Es könnte sein, dass Iandal ihn dazu bringt, einzelne Sichelländer zu bestrafen, die er für besonders schuldig hält. Für Ash-Zaharr wäre es ein Spiel. Iandal bedeutet ihm sicher nichts, aber für Iandal selbst wäre Ash-Zaharr ein Verbündeter von unschätzbarem Wert. Selbst wenn sich der Schlangendämon nicht hinter seine Soldaten stellt, so wäre es doch schon ein nicht unerheblicher Sieg, wenn die Schlange an ein paar hohen Sichelländern Rache für den Verrat unserer Vorväter nimmt. Im Gegenzug müsste Iandal ihm vielleicht nur ein paar wertlose Hantua opfern oder einen mittelländischen Tempel schänden. Nichts, was für Iandal ein großes Problem darstellt. Ash-Zaharr ist unser Gott und der Herr über das Sichelland. Aber er kann auch zu unserer größten Bedrohung werden.“

„Aber... was hat das denn alles mit mir zu tun?“

„Mit dir? Vielleicht nichts. Vielleicht war alles auch nur Zufall. Vielleicht auch nicht. Aber Tatsache ist, dass du ihm in Sagun begegnet bist. Allein das hat mich mehr als nur überrascht. Selbst im Sichelland kannst du diejenigen, die ihm wahrhaftig gegenübergetreten sind, an einer Hand abzählen. Ich habe unsere Geschichte mein Leben lang studiert und ich bin mir sicher, dass Ash-Zaharr sich nie zuvor einem anderen als seinem eigenen Volk gezeigt hat.“

„Er hat sich mir nicht gezeigt. Es tut mir leid, Mondor, aber du irrst dich. Da war nur schwarzer Nebel und...“

„Und? Eine Stimme? Oder zumindest das Gefühl, nicht allein zu sein? Wenn man bedenkt, dass eure Götter im Mittelland sich nicht einmal durch eine schwache Rauchwolke zu erkennen geben, finde ich allein den schwarzen Nebel schon durchaus bemerkenswert, wenngleich es nicht die endgültig wahre Gestalt des Großen ist. Mach dir nichts vor, Sara. Du warst Ash-Zaharr näher als jemals ein Fremdländer vor dir. Und umso beachtlicher ist es, dass du jetzt hier sitzt und davon berichten kannst. Er hat dich nicht angegriffen. Du bist unverletzt geblieben, nicht wahr? Ich frage mich also, warum. Was hat dich geschützt? Du hast ihn immerhin gestört. Da kommt die Shaj der Nacht und will seinen Geist in einem herrenlosen Land bannen. Das hat ihm sicher nicht gefallen. Und zu allem Überfluss taucht dann noch eine Mittelländerin auf, mehr noch, eine mittelländische Tempeldienerin. Gerade in dem Moment, da er sich der Shaj offenbart und sie an ihrem Vorhaben hindern will. Was wäre da naheliegender gewesen, als dich aus dem Weg zu räumen? Du warst für ihn doch vollkommen wertlos. Aber er hat es nicht getan. Und ganz nebenbei bemerkt, hat er auch Lennys nicht getötet. Und sei versichert, er hätte es gekonnt, wenn er gewollt hätte. Stattdessen hat er sich sogar ihrem Willen unterworfen und Sagun verlassen. Wir müssen unbedingt herausfinden, was die Gründe dafür sind. Wodurch er sich hat bändigen lassen. Verstehst du? Das ist vielleicht der Schlüssel zu unserem Überleben. Es gibt Sichelländer, die in großer Gefahr sind und sie wissen das. Sie wissen, dass sie sich seinen Zorn zugezogen haben. Dass er nur auf einen Grund wartet, sie tödlich zu bestrafen. Und es ist kein Geheimnis, wenn ich dir sage, dass wir Batí dazu gehören. Wenn es irgendeine Möglichkeit gibt, unser Leben zu schützen, dann müssen wir das herausfinden!“

Inzwischen war Mondor ganz nah an Sara herangerückt. Seine Stimme hat sich zu einem heiseren Flüstern gesenkt und der Blick aus seinen glühenden schwarzen Augen durchbohrte sie förmlich. Dennoch wich sie nicht zurück.

„Und wenn es doch nur Zufall war? Vielleicht war er einfach nicht in Stimmung....“

„Nicht in Stimmung? Seit zwölf Jahren ruhte das Echo seines Geistes in Sagun. Ein herrenloses Land, das nun seiner Macht unterstand. Glaubst du, er lässt sich das einfach wieder nehmen? Glaubst du, er würde nicht darum kämpfen, wenn es ihm möglich wäre? Glaubst du, er unterwirft sich freiwillig dem Willen eines Menschen?“

„Aber genau das hat er doch getan, oder? Er ist zurückgewichen.“

„Ja, aber … freiwillig? Oder weil er dazu gezwungen wurde?“

„Lennys hat...“ Doch Mondor unterbrach sie.

„Lennys hat sicher alles getan, was in ihren Kräften stand. Sag mir eines Sara, hattest du den Eindruck, dass sie ihm überlegen war?“

Sara schwieg. Nur allzu deutlich hatte sie die Bilder von damals wieder vor Augen. Sie sah Lennys vor sich, die wie von unsichtbarer Hand zu Boden geworfen wurde. Die sich vor Schmerzen wand und die für den mächtigen schwarzen Schatten, der um sie herum tobte, nur ein unwichtiges Spielzeug zu sein schien.

„Ich weiß nicht....“ log Sara dann.

„Oh doch, du weißt es. Kein Mensch kann den Dämon bezwingen. Er hat seine eigenen Spielregeln. Ertrage den Schmerz oder stirb. Es ist nichts weiter als ein Zugeständnis. Er quält und foltert bis Körper und Geist zwischen seinen Klauen zerbersten. Seine Kraft ist unerschöpflich. Und es ist allein sein Wille, der darüber entscheidet, wer stirbt. Ich habe Lennys nicht fragen müssen, was genau sie gefühlt hat, als er sie seine Macht spüren ließ. Ich habe es an ihren Augen gesehen. Und es war nicht das erste Mal. Schon einmal hat er sie davon kommen lassen, damals in Sagun. Vor mehr als zwölf Jahren. Und bei einer früheren Begegnung...nein, das gehört nicht hierher. Sie wird es ihr Leben lang nicht vergessen. Und du, Sara, du hast es gesehen. Vielleicht wäre in diesem Moment der Tod für sie eine Gnade gewesen. Ist das der Grund? Wollte er ihr einfach diese Gnade verwehren? Aber warum hat er sich dann auch noch aus Sagun vertreiben lassen?“

„Warum fragt ihr nicht ihn, sondern mich?“ antwortete Sara aufbrausend. „Ich habe keine Ahnung von eurem Gott und eurem Glauben!“ Zu ihrer Verwunderung verzog Mondor seinen zahnlosen Mund zu einem Grinsen.

„Leider ist Ash-Zaharr kein Gesprächspartner, mit dem man sich bei einer Tasse Tee zusammensetzen kann. Und ganz nebenbei bemerkt, gibt es offiziell nur einen einzigen Mann, dem es zusteht, den Dämon direkt anzurufen.“

„Talmir?“

„Richtig. Nur dem Shaj des Himmels gebührt dieses Recht. Ausgenommen sind Ereignisse wie Bannrituale oder sonstige Vorsichtsmaßnahmen. Und bitte denke nicht, dass Talmir nur entspannt in einem Tempel sitzt und Ash-Zaharr mal eben bittet, auf ein Wort vorbei zu schauen. Die Anrufungen kosten Kraft und werden nur in sehr begründeten Fällen durchgeführt. Ich beneide ihn nicht darum.“

„Aber dann müsste doch auch Talmir hier sitzen und mich nach all diesen Dingen fragen....“

„Da hast du recht. Nur leider gehört Talmir nicht zum Stamm der Batí. Ganz im Gegenteil. Er vertritt – wie es im übrigen die meisten Cycala tun – die Ansicht, dass die Batí sich selbst mit ihrem Schicksal als Verfluchte herumschlagen müssen. Sie achten und sie fürchten uns. Aber sie würden sich nie für uns mit Ash-Zaharr anlegen. Talmirs Hauptaufgabe ist es, die Zeremonien und Rituale durchzuführen, die Lehren weiterzugeben und zu überwachen und über die Einhaltung all der anderen Pflichten zu herrschen, die zu seinem Aufgabengebiet gehören. Ich hingegen bin ein Batí-Priester. Wir widmen unser Leben ganz der Unterwerfung durch Ash-Zaharr. Wir versuchen, ihn zu besänftigen und einen Weg zu finden, seinen Zorn auf uns und die Schuld unserer Väter zu bändigen. Mit Talmirs Dienern des Himmels hat das aber nichts zu tun. Wir dulden uns und gehen uns aus dem Weg. Ich mische mich nicht in seine Angelegenheiten und er sich nicht in meine. Ich will ganz ehrlich sein. Sein leichtfertiger Umgang mit dem Sagun-Ritual hat mich mehr als nur erzürnt, aber auch das gehört zu seinen Vorrechten. Von Chaz-Nar will ich gar nicht erst reden. Und natürlich weiß er nicht, dass ich hier mit dir spreche. Wenn er es wüsste, würde er toben, so dass man es bis Askaryan hört. Glücklicherweise ist Lennys ebenso wie ich der Ansicht, dass diese Angelegenheit in meinen Händen recht gut aufgehoben ist.“

„Und wie kann ich euch dabei weiterhelfen? Ich bin nur eine Fremdländerin und dass ich in Sagun dabei war, war reiner Zufall.“

„Ich habe in meinem Leben zwei Dinge gelernt, Sara. Zum einen, dass man immer eine Antwort findet, wenn man nach ihr sucht. Auch wenn sie unbefriedigend ist. Und zum zweiten, dass ich meinem Gefühl vertrauen kann. Es irrt sich nur äußerst selten. Und jetzt sagt es mir, dass manche Dinge, die in jener Nacht geschehen sind, eben kein Zufall waren. Deshalb bitte ich dich jetzt darum, mir noch einige Fragen zu beantworten.“

„Dann müsst ihr mir auch solche stellen, die ich beantworten kann.“

„Ich freue mich, dass du so direkt bist. Gut, ich werde mir Mühe geben. Ich werde mit etwas Einfachem anfangen. Du warst nicht von Anfang an bei den Altären, oder? Du kamst später dazu als Lennys schon dort war?“

„Ja.“

„Hast du versucht, zu ihr zu gehen?“

„Ja. Aber es ging nicht. Es war, als wäre eine unsichtbare Wand zwischen uns.“

Mondor nickte. „Aber du konntest alles sehen... und hören?“

„Ja.“

„Hattest du Angst? Um dich selbst, meine ich?“

„Nein.“

„Warum nicht?“

Sara versuchte, sich ihre Gedanken und Gefühle von damals genau ins Gedächtnis zurück zu rufen.

„Ich wusste, dass er mir nichts tun kann.“

„Du sprichst vom Herrn des Todes. Wie kommst du darauf, dass er dir nichts tun kann?“

„Weil... weil er nicht mein Gott war. Ich war eine Novizin des Nebeltempels. Eine Dienerin der Großen Mächte. Er kann mich nicht beherrschen, ebenso wenig wie die Großen Götter euch beherrschen können. Und er hat nicht das Recht, mich in seiner Gestalt zu bestrafen oder anzugreifen, auch wenn mein Leben genauso den Gesetzen von Tod und Zerfall untersteht.“

Mondor konnte sein Staunen nicht verbergen. „Hast du ihm das gesagt?“

„Ich glaube, ja. Nicht mit diesen Worten, aber im Grunde...Ja.“

„Wieso denkst du, dass er dich nicht angreifen kann? Er ist ein Gott, ein Dämon...“

„Wir alle sind an die Gesetze der Mächte gebunden. An Leben und Tod, Hunger und Durst, Tag und Nacht. Aber es ging nicht um seine Gesetze. Er hat eine Gestalt angenommen, um euch zu erscheinen. Euch, den Sichelländern. Nicht mir. Er hat sich an euer Volk gebunden, nicht an meines. Er ist wie der König eines fremden Landes, dem es nicht zusteht, Menschen zu richten, die in einem anderen Reich leben. Denn dann müsste er die Rache meines eigenen Königs fürchten. Und in diesem Fall die der Großen Mächte.“

„Dir ist hoffentlich klar, dass du dich damit auf sehr dünnes Eis begeben hast?“

„Jetzt ja. In dem Moment aber war ich mir sicher, das Richtige zu tun.“

Mondor stieß einen leisen Pfiff aus. „Mir scheint, du kannst deinem Instinkt ebenso vertrauen wie ich dem meinigen. Aber ich gebe zu, dass ich recht überrascht bin. Ich kann einfach nicht glauben, dass man Ash-Zaharr so einfach in seine Schranken weisen kann.“

„Hier sicher nicht.“

„Was meinst du damit?“

„Wir waren in Sagun. In einem herrenlosen Land. Er war nur ein Schatten seiner selbst und die einzige Macht, die er dort ausüben konnte, war die über die Sichelländer.“

„Ich verstehe eines nicht, Sara. Wieso muss ich das alles jetzt von dir erfahren? Warum nicht von Lennys oder Talmir? Sie kennen doch deine Antworten, warum haben sie sie nicht an mich weitergegeben?“

Sara antwortete nicht sofort. Sie hatte begriffen, dass es hier um Wichtigeres ging als nur um den Gehorsam einer Dienerin gegenüber ihrer Herrin. Trotzdem hätte sie sich in diesem Augenblick gewünscht, dass Lennys ebenfalls hier wäre, um ihr diese Antwort abzunehmen.

„Mich hat nie jemand danach gefragt.“ sagte sie schließlich.

Sichelland

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