Читать книгу Sichelland - Christine Boy - Страница 6

Kapitel 3

Оглавление

Die meisten Mitglieder der Großen Ratsversammlung hatten den Tag dazu genutzt, Schlaf nachzuholen oder wichtige Sendschreiben zu verfassen oder zu lesen. Immer wieder kamen Boten in Semon-Sey an, um Nachricht von verschiedenen Kundschaftern zu bringen.

Jetzt, da die Sonne wieder unterging, saßen sie alle erneut um den langen Tisch, der die Große Halle in zwei Hälften teilte. An der einen Stirnseite hatten Diener ein großes weißes, samtenes Laken über einen Stuhl mit breiten Armlehnen geworfen. Hier hatte sich Talmir, der Shaj des Himmels niedergelassen und unterhielt sich hinter vorgehaltener Hand mit einem Cas mittleren Alters. Gegenüber, am anderen Kopf der Tafel, saß Lennys mit versteinerter Miene und musterte die Anwesenden.

„Wo ist Balman?“ fragte sie, als ihr Blick einen leeren Stuhl am hinteren Teil des Tisches erreichte.

Es war Rahor, direkt zu ihrer Linken, der die Antwort gab.

„Er muss jeden Moment hier sein. Er hat eben noch einen Kundschafter zum Westbogen geschickt.“

In diesem Moment stürzte ein recht kräftig gebauter Mann herein, an dem besonders die langen roten Haare auffielen, die wild auf seine Schultern herabfielen.

„Verzeihung....“ murmelte er und schlich errötend zu dem leeren Stuhl, wohl in der Hoffnung, dass man sein spätes Erscheinen doch ignorieren würde. Er wurde enttäuscht.

„Das nächste Mal lasse ich dich im Fluss ertränken!“ drohte Lennys. „Deine Disziplin lässt sehr zu wünschen übrig, Balman. Ich verlange, dass alle Geladenen pünktlich zu den Versammlungen erscheinen.“

„Es tut mir leid, Lennys, ich habe nur...“

„Deine Erklärung wird den Beginn des Treffens nur noch mehr verzögern. Genug davon!“

Sham-Yu beugte sich zu seinem Tischnachbarn Rahor.

„Wir sollten schon mal das Geschirr bringen lassen...“ flüsterte er. Doch Rahor antwortete nur mit einem Räuspern, nachdem er einen sehr zornigen Blick von Lennys aufgefangen hatte.

„Können wir jetzt endlich anfangen?“ fragte die Shaj der Nacht ungeduldig. Alle Anwesenden bemühten sich um gespannte Aufmerksamkeit. Lennys erhob das Wort.

„Ihr habt bereits festgestellt, dass heute auch Menrir, der mittelländische Heiler und Imra, der Weber aus Fangmor, anwesend sind. Zusätzlich zu Akosh aus Goriol, der ja auch gestern schon dem Treffen beiwohnte, werden sie uns heute mit Informationen aus dem Süden versorgen. Ich erinnere außerdem daran, dass Menrirs Sohn Log der König Manatars ist und wir somit durch Menrir über seine Absichten unterrichtet werden. Hat irgendjemand Einwände gegen die Anwesenheit von Imra und Menrir?“

Niemand sagte etwas. Doch gerade als Lennys fortfahren wollte, hob Mondor die Hand.

„Meldest du etwa Bedenken an?“ fragte Lennys sarkastisch.

„Keineswegs. Ich möchte aber darum bitten, noch einen weiteren Gast in unserer Runde zuzulassen.“

Erstaunt wanderten alle Blicke zu Mondor. Es war nicht üblich, dass Ratsteilnehmer solche Anträge stellten. Allein den Shaj gebührte das Vorrecht, den engen Kreis der Vertrauten zu erweitern.

„Einen weiteren Gast? Ich wüsste nicht, wessen Aussage sonst noch von Interesse sein könnte.“

Mondor beschloss, nicht lange drumherum zu reden.

„Es handelt sich um deine Dienerin Sara.“

„Was?“

Schnell nutzte Mondor die Gelegenheit für eine kurze Erklärung.

„Ich habe Erkenntnisse erlangt, die mich zu dem Schluss bringen, dass Sara möglicherweise eine große Hilfe für uns darstellen könnte. Sollte ich mich irren, ist sie aber gewiss ebenso vertrauenswürdig wie Menrir, so dass wir dahingehend keine Bedenken haben sollten.“

„Erkenntnisse? Welche denn?“ Es war nicht zu überhören, dass Lennys ihre Wut nur mit Mühe zügelte.

„Nun, es handelt sich um Informationen, die direkt meine Zuständigkeit betreffen. Im Augenblick mögen wir noch in vielerlei Hinsicht im Dunkeln tappen, doch schon sehr bald könnte sich Sara als wertvolle Verbündete erweisen. Ich hielte es für sinnvoll, sie bereits jetzt in unser Vorgehen einzuweihen, da später vielleicht die Zeit für lange Erklärungen fehlt.“

Die Stille, die nun folgte, währte nicht lange. Dann donnerte Lennys' Stimme durch den Saal.

„Was erlaubst du dir eigentlich? Hast du plötzlich dein Interesse für junge Frauen und Exotinnen entdeckt? Wenn dem so ist, solltest du dich besser auf den Wanderfesten von Goriol herumtreiben! Es gibt Gesetze in diesem Land und gerade Menschen wie du sollten sie kennen! Willst du vielleicht unsere ganze Dienerschaft an diesen Zusammenkünften teilhaben lassen? Oder mittelländische Wanderer, die halb verhungert in Askaryan stranden? Was kommt als nächstes?“

Es war Talmir, der sich zuerst zu Wort meldete.

„Ich persönlich denke, dass Mondors Vorschlag zumindest überdenkenswert wäre. Zwar glaube ich nicht, dass Sara für uns eine wirkliche Hilfe darstellen könnte, aber ich bin auch überzeugt davon, dass ihre Anwesenheit nicht schaden würde. Wie ich in Erfahrung bringen konnte, hatte sie sogar Einblick in den Dämonenbann in Sagun. Wer weiß, vielleicht wird ihre Erfahrung uns noch nützen...“

„Mein lieber Talmir...“ fiel jetzt Mondor wieder ein. „Wenn du dich auch nur annähernd mit den Dingen auseinandersetzen würdest, die eigentlich deine Aufgabe sind, würdest du Saras Teilnahme an der Ratsversammlung mit gewichtigeren Argumenten befürworten als mit bloßer Sympathie. Leider hast du immer noch nicht begriffen, wie bedeutsam die alten Legenden noch heute für uns sind...“

„Halte deine Zunge im Zaum, Mondor!“ fiel Lennys ihm wieder ins Wort. „Du sprichst mit dem Shaj und auch wenn es dir noch so wenig gefällt, er ist der oberste Priester des Landes und nicht du!“

„Sobald er bewiesen hat, dass er diesen Titel zu Recht trägt, werde ich mich gerne seinen Anweisungen beugen...“ erwiderte der alte Batí.

„Das genügt! Noch ein Wort und ich werde dich in den Kerker werfen lassen!“

„Sogar das würde ich in Kauf nehmen, wenn du im Gegenzug Sara holen lässt.“

„Also, ich hätte auch nichts dagegen, wenn sie dabei wäre...“ mischte sich jetzt Akosh ein. „Auch wenn du das nicht gern hörst, Lennys, aber sie hat zur Genüge bewiesen, dass sie unser Vertrauen verdient. Und auch, wenn ich nicht genau weiß, was Mondor gemeint hat, so glaube ich, dass es nicht schadet, jemanden in unserer Mitte zu haben, der auch mit den fremdländischen Glaubenslehren vertraut ist. Wer weiß, wie groß der Kreis unserer Feinde bald sein wird und wir sollten möglichst viel über sie wissen.“

„Ich bin auch dafür!“ rief Rahor zaghaft, allerdings nicht, ohne vorher mit seinem Stuhl aus der Reichweite von Lennys' Sichel herauszurücken.

„Du solltest dich lieber zurückhalten!“ zischte die Shaj. „Ich erinnere dich daran, dass die Frauen der Dienerschaft tabu für dich sind!“ Sie blickte warnend in die Runde. „Es ist schön, dass ihr euch ausnahmsweise einmal alle einig seid. Ich hoffe, euch allen ist klar, dass unsere Gesetze nicht grundlos bestehen. Der Hohe Rat ist ein Zusammenschluss der führenden Kräfte Cycalas' um gewichtige Entscheidungen für die Sicherheit unseres Landes zu treffen. Dass wir diese Gemeinschaft um Akosh, Menrir, Imra und Mondor erweitert haben, war wohl überlegt und begründet. Das hier ist keine unterhaltsame Feier, bei der man eine Gästeliste nach Sympathien erstellt. Denkt darüber nach, bevor ihr euch entscheidet.“ Sie funkelte jeden einzelnen durchdringend an. „Also, hat jemand – abgesehen von mir – etwas dagegen einzuwenden, dass die Mittelländerin Sara zur Ratssitzung hinzugezogen wird?“

Keine Hand, keine Stimme erhob sich.

Der Diener, der Sara aus ihrem kleinen Zimmer abholte, war ebenso mürrisch wie das restliche Personal, dem die Novizin bisher begegnet war. Er würdigte sie kaum eines Blickes und seine Aufforderung, ihr in den Großen Saal zu folgen, erklärte er auch nur mit den Worten „Befehl der Shaj.“ Er erlaubte ihr nicht, sich noch zurechtzumachen oder auch nur die Haare zu ordnen und auf dem Weg in den Hauptteil der Festung legte er ein ordentliches Tempo vor.

Sara hatte nicht einmal Zeit, sich über die merkwürdige Anweisung zu wundern. Nach dem Gespräch mit Mondor, das sich noch bis zum Mittag hingezogen hatte, waren wieder Menrir und Imra erschienen. Sie hatten sich lange unterhalten und ebenso wie ihre beiden Freunde war Sara zu dem Schluss gekommen, dass sie im Augenblick nur abwarten konnten. Es machte keinen Sinn, nervös über alle möglichen Varianten der Zukunft nachzudenken.

Der Große Saal lag direkt neben dem Kaminzimmer, in dem Sara einige Stunden zuvor mit Mondor gesessen hatte. Ein großes Portal, das sonst mit schweren Riegeln verschlossen wurde, glitt wie von Zauberhand auf, als der Diener an einem Seil daneben zog. Fünfzehn Augenpaare richteten sich gespannt auf die Novizin. Sara hörte, wie sich hinter ihr die Flügeltüren wieder schlossen.

„Bitte, Sara, nimm Platz.“ Talmir machte einen einladende Geste zu einem freien Stuhl neben Imra. Etwas verunsichert folgte sie seiner Bitte und erst als sie sich gesetzt hatte, glitt ihr Blick über die anderen Ratsmitglieder. Als er die Stirnseite gegenüber Talmirs Platz erreichte, fuhr sie fast unmerklich zusammen.

Viele Wochen hatte sie in Lennys' Begleitung verbracht und stets hatte sich in Gegenwart ihrer Herrin das gleiche Bild geboten. Streng zurückgebundene Haare, schwarze enge Lederkleidung und derbe Schnürstiefel, dazu ein cycalanischer Umhang und ein schwerer Gürtel, an dem Waffen und Beutel baumelten. Doch jetzt war ihr, als säße ein völlig anderer Mensch vor ihr. Und unzweifelhaft war es nicht Lennys, die Kriegerin, sondern eine sichelländische Herrscherin.

Die Ledergarderobe hatte sie gegen ein schwarzes, weites Ritualgewand getauscht, das aus dem gleichen glänzend-fließenden Stoff gewebt war wie die Umhänge er höchsten Würdenträger des Landes. Statt des breiten Gürtels hatte sie nur einen schmalen Riemen um die Hüften geschlungen, der nichts außer der schimmernden Sichelklinge trug und ihre langen schwarzen Haare lagen nun offen und seidig glänzend über ihren Schultern. Ein schmales, schlichtes Silberdiadem zierte Lennys' Stirn.

„Dein Freund Mondor war der Meinung, dass deine Anwesenheit in diesem auserwählten Kreis von Nutzen sein könnte.“ sagte Lennys kühl. „Die Mehrheit der hier Versammelten stimmte ihm zu. Also verbleibt mir nur, dich darauf hinzuweisen, dass all das, was hier gesprochen wird, an niemanden sonst weitergegeben werden darf. Wenn du gegen diese Regel verstößt, hast du dein Leben verwirkt.“

„Ich habe verstanden.“

„Dann können wir jetzt endlich mit der Besprechung beginnen. Wir haben schon mehr als genug Zeit verschwendet. Heute werden uns vor allem Menrir und Imra berichten, was im Süden vor sich geht. Vorher wünsche ich aber noch einen Bericht über die derzeitige Verwendung unserer Streitkräfte und Kundschafter.“

Es folgte eine längere Wortmeldung von Rahor und zwei weiteren Cas, die Sara nicht kannte. Sie leierten eine Reihe von Zahlen herunter und erklärten, welche Einheiten sich gerade zu Übungszwecken in den verschiedenen Teilen des Landes aufhielten. Auch eine genaue Aufschlüsselung der Wachdienst leistenden Soldaten sowie ein Bericht über ausgesandte Boten und Spione wurde verlesen und schließlich fügte Rahor noch die Anzahl vorhandener Streitrösser hinzu. Obwohl Sara von derlei militärischen Dingen nicht viel verstand, musste sie doch zugeben, dass es selbst Logs Armee schwerfallen würde, dem Sichelland ernstzunehmenden Schaden zuzufügen.

Anschließend folgte eine Erklärung von Talmir zum Fortschritt der Vorbereitungen für die Bestattung Makk-Uras und über die Regelung der Nachfolge des toten Shaj. Man hatte sich darauf verständigt, die Trauerzeit auf fünfundvierzig Tage zu begrenzen, was nur im Kriegsfall möglich war. Obwohl es noch keinen klaren militärischen Angriff der Hantua gegeben hatte, hielten es die beiden verbliebenen Shaj für sicherer, dem Land möglichst schnell ihren dritten Herrscher zurückzugeben. Dieser sollte in gut vier Wochen von den siebenundzwanzig hochrangigsten Vertretern der Geliebten der Erde erwählt und ernannt werden.

Nachdem mehrere Dienstboten frisches Obst und eine reiche Auswahl an Getränken serviert hatten, wurde schließlich Imra das Wort erteilt.

Auch den jüngeren Cas wie Sham-Yu war der Weber wohl bekannt. Obwohl er kein Krieger war und auch innerhalb der Handwerkersäule nur einen mittleren Rang bekleidete, hatte er doch einen guten Ruf im Sichelland. Er galt als verschwiegen, geduldig und stets gut informiert und in punkto Fleiß und Ausdauer war er auch heute noch vielen ein Vorbild. So war es wenig verwunderlich, dass seiner Berichterstattung die gleiche Aufmerksamkeit zuteil wurde wie seinen Vorrednern.

„Die jüngsten Morde im Mongegrund haben nun auch die letzten Zweifler wachgerüttelt.“ erklärte er. „In beiden Fällen handelte es sich um ältere Männer, je einer in Mongetal und einer in Fangmor, die vor allem als Händler bekannt waren. Sie hatten keine Feinde, aber auch wenig Freunde. Es ist ziemlich sicher, dass auch hier die Hantua am Werk waren. Anders sieht es bei der toten Frau in Goriol aus. Sie gehörte zu einer Spielmannskapelle und hatte zahlreiche Männerbekanntschaften, die aber allesamt weniger gut auf sie zu sprechen waren, weil sie, wie es für eine Cycala typisch ist, in ihrem Alter nicht dazu neigte, feste Bindungen einzugehen. Wir können nicht vollkommen ausschließen, dass nicht vielleicht ein enttäuschter Liebhaber der Schuldige ist. Aber das ändert nichts an den Auswirkungen. Beinahe alle Sichelländer, die in kleineren Städten lebten, haben diese verlassen. Einige haben sich in Manatara verschanzt, wo es ja bis heute noch keinen einzigen Zwischenfall gegeben hat, die meisten sind aber ins Sichelland zurückgekehrt. Dasselbe gilt für die mittelländischen Gemeinschaften. Ein harter Kern ist in Goriol zurückgeblieben und Oras, der Vogelmann, bewohnt derzeit Menrirs Haus in Elmenfall, zusammen mit seiner Frau Haya, die ja ein Fremdblut ist. Von Fraj aus Gahl fehlt inzwischen jede Spur, was aber nicht unbedingt etwas heißen muss. Er ist ja ständig auf der Flucht vor irgendwelchen Leuten, bei denen er sich verschuldet hat. Natürlich ist den Wachen am Westbogen und den Einwohnern von Gahl nicht verborgen geblieben, dass in den letzten Tagen erstaunlich viele Menschen den Weg nach Norden angetreten haben und dass es sich hierbei nicht nur um kräftige Wanderer, sondern auch um Frauen, ältere Menschen und Kranke handelte. Zum Glück haben viele geistesgegenwärtig reagiert und sich als Shangu ausgegeben. Insgesamt dürften augenblicklich etwa zwanzig Cycala in Goriol leben, etwas mehr in Manatara. Unbekannt ist der Aufenthalt von weiteren etwa zwei Dutzend Sichelländern, wobei bei den wenigsten Grund zur Sorge besteht. Dass sie sich sogar vor ihren Gemeinschaften verborgen halten, ist vielleicht nur eine Vorsichtsmaßnahme. In den nächsten Tagen wird sich zeigen, ob von diesen Vermissten noch welche über die Grenze kommen. Im Falle eines offenen Krieges werden sie sich uns gegenüber aber mit Sicherheit zu erkennen geben und uns auch unterstützen. Dasselbe gilt für die Gruppe in Goriol. Was Manatara angeht, bin ich mir nicht ganz so sicher. Die Cycala dort haben es zu Reichtum und Wohlstand gebracht und hoffen wohl darauf, möglichst unbeschadet durch die dunkle Zeit zu kommen. Wohl werden sie zur Waffe greifen, aber sie werden es nicht früher tun als nötig. Es ist vielleicht auch ganz gut, wenn wir noch Kräfte in Reserve haben. Aber das zu beurteilen gebührt anderen.“

Er räusperte sich abschließend und sah erwartungsvoll in die Runde. Rahor hatte die Stirn gerunzelt.

„Mir gefällt das nicht. Es scheint, als hätten einige unserer Landsleute allmählich Gewohnheiten der Mittelländer und Manatarier übernommen. Die einen fliehen im Angesicht des Krieges, andere verschanzen sich hinter ihren Goldvorräten tief im Süden. Imra und Akosh haben auch lange in diesen Städten gelebt und trotzdem wissen sie, was sie ihrem Land schuldig sind.“

„Du vergisst, dass es meist Handwerker und Künstler waren, die damals im Süden geblieben sind.“ meinte ein Cas mit Lederhaut und schon recht ergrautem Haar. „Es sind keine Kämpfer wie wir. Und viele von ihnen haben Familie, um die sie natürlich besorgt sind.“

„Niemand hat sie gezwungen, ihrem Land den Rücken zu kehren! Willst du etwa ihre Feigheit entschuldigen, Zom?“

„Willst du ihnen zu Unrecht Feigheit vorwerfen?“

„Ruhe!“ unterbrach Lennys die beiden Streithähne. „Rahor, setz dich wieder hin!“ Widerwilig zog Rahor wieder den Stuhl heran, von dem er aufgesprungen war.

„Ihr habt beide recht.“ sagte Lennys. „Niemand hat sie gezwungen, fortzugehen und manch einer hat sich mehr den Fremdländern angeglichen, als uns recht sein kann. Aber es ändert nichts daran, dass es geborene Cycala sind, die jetzt vor einer Entscheidung stehen. Weiter den Schein waren und ein geordnetes Leben im Süden führen? Oder alles zurücklassen, was sie sich in den letzten Jahren erarbeitet haben und zurückkehren in ein Land, das kurz vor einem Krieg steht? Ich bin um jeden Sichelländer froh, der sich innerhalb unserer Grenzen befindet. Wir haben in der Welt dahinter nichts zu suchen und sie ist es auch nicht wert, dass wir uns groß mit mit ihr abgeben. Aber es kann auch hilfreich sein, wenn wir noch Kräfte in der Hinterhand haben, die sich im Augenblick noch zwischen Mittelländern und Manatariern verbergen, zwei Völkern, die sich vielleicht schon bald gegen uns wenden werden. Ich mache niemandem einen Vorwurf, ganz gleich wie er sich entschieden hat. Und damit eines klar ist, Rahor.... Niemand hat das Recht, einen Sichelländer der Feigheit zu bezichtigen. Auch du nicht!“ Sie wandte sich an den grauhaarigen Zom. „Und du solltest nicht alles und jeden blindlings in Schutz nehmen. Mag sein, dass es keine Krieger waren, die sich zum Leben im Süden entschlossen haben. Aber allesamt sind Nachkommen unseres Volkes und somit dazu bestimmt ihr Land zu verteidigen. Ich dulde es nicht, dass ein Cycala die Waffe verweigert, wenn das Schicksal es verlangt!“

Imra hob die Hand.

„Ja?“

„Da ist noch etwas...“ Er warf Akosh einen langen Blick zu. „Seit eurem Aufenthalt in Goriol, bei dem ihr zu der Gemeinschaft dort gesprochen habt, sind in dieser Gegend dort etliche Hantua ums Leben gekommen. Noch interessiert sich kaum jemand dafür, da die Mittelländer im Gegensatz zu Manatar noch keine engeren Bande zu Zrundir geknüpft haben. Sollte man aber dahinterkommen, dass versteckte Cycala für diese Anschläge verantwortlich sind, könnte das... nun ja, die Stimmung gegen uns lenken.“

„Es steht jedem Sichelländer frei, jeden Hantua zu töten, der ihm begegnet.“ erwiderte Lennys unnachgiebig. „Keiner von ihnen verdient es, am Leben zu bleiben. Das ist schon immer so gewesen. Und es war notwendig, die Gemeinschaft in Goriol daran zu erinnern. Dass es jetzt mehr tote Hantua in dieser Gegend gibt, liegt aber in erster Linie daran, dass diese Bastarde dort häufiger auftauchen als früher. Ich werde mit Sicherheit keinen Befehl geben, der von meinem Volk verlangt, Hantua zu verschonen!“

„Im Süden sieht man das nicht so gleichmütig wie im Mittelland...“ mischte sich jetzt Menrir ein. „Ich fürchte, dort geht man inzwischen schon einen Schritt weiter.“

Lennys zog die Brauen zusammen. „Das war zu erwarten. Wenn niemand mehr Fragen an Imra hat, wäre es jetzt an der Zeit, zu hören, was du zu sagen hast.“

Die anderen nickten zustimmend und Menrir begann in seiner gewohnt ruhigen Art, die unangenehmen Neuigkeiten zu verkünden.

„Natürlich ist euch inzwischen bekannt, dass Log sich nicht offen gegen die Hantua stellen wollte. Mehr noch, er stärkte ihnen eher den Rücken und distanzierte sich allmählich von seiner früheren Meinung, nach der er die Cycala schon fast als Freunde bezeichnete. Anscheinend hat Zrundir es geschafft, ihn durch gewisse... nennen wir es Argumente, auf seine Seite zu ziehen. Zum einen sind sie schon seit Wochen sehr viel präsenter in Manatar als die Sichelländer. Die Menschen dort haben sich an ihre Anwesenheit schon fast gewöhnt und da es keine offenkundigen Übergriffe gegeben hat, empfinden sie die Hantua nicht als Bedrohung. Diebstähle, Überfälle oder gar Morde an Manatariern werden geleugnet oder anderen Sündenböcken zugeschrieben. Es ist erstaunlich, wie verblendet die Leute sein können. Log und seine Vertrauten haben ganze Arbeit geleistet. Desweiteren scheute sich Iandal wohl nicht, Log eine Art Bündnis gegen Cycalas im Kriegsfall anzubieten. Und Log weiß natürlich, dass er eine derartige Verbrüderung mit dem Sichelland nie zu erwarten hätte, also geht er auf Nummer sicher. Sicherlich hat Iandals Auftreten als geläuterter Cycala, der sich von seinem wie er es nennt „verabscheuungswürdigen“ Volk abgewandt hat, dafür gesorgt, dass Log Zrundir inzwischen mehr Sympathien entgegenbringt als euch. Und nicht zuletzt hat wohl auch eine beträchtliche Summe Gold den Besitzer gewechselt. Gerade auf die einfachen Menschen hatte das eine enorme Wirkung. Sie interessieren sich nicht für Politik und das manatarische Heer wiegt sie in Sicherheit. Ihnen wäre es egal, wer Freund und wer Feind ist, denn sie fürchten keine Angriffe. Aber Fakt ist, dass die Hantua bereit sind, ihre Kassen zu füllen. Und, dass sie keinerlei Aussicht auf erneute einträgliche Handelsbeziehungen zum Sichelland haben.“

„Und ich dachte immer, die Mittelländer wären dumm und naiv...“ kommentierte Sham, doch Menrirs Blick ließ ihn sofort wieder einlenken. „Verzeih, ich wollte dich nicht beleidigen.“

„Du beleidigst mich nicht, Sham. Ich weiß sehr wohl, dass beide Völker leicht zu beeinflussen sind. Aber das hat nicht unbedingt etwas mit ihrer Intelligenz zu tun. Sie haben viele hundert Jahre für sich gelebt und erst in ihrer jüngsten Geschichte Kontakt zu Völkern wie den Cycala oder den Hantua gehabt. Sie haben keine Erfahrung in solchen Dingen und verlassen sich ganz darauf, was vermeintliche Anführer ihnen erzählen. Wie dem auch sei, jedenfalls ist es inzwischen nicht mehr bei leeren Worten und Versprechungen geblieben. Log hat mittlerweile Taten folgen lassen.“

„Ist das Bündnis mit Zrundir denn jetzt offiziell?“ fragte Talmir besorgt.

„Nein, das nicht. Aber er hat einige neue Gesetze erlassen und schon bestehende verschärft. Zum Beispiel müssen Cycala, die die Grenze nach Manatar überschreiten, sich jetzt umgehend bei den Wachen der nächsten Stadt anmelden. Log will über jeden Sichelländer in seinem Land informiert werden. Angriffe auf die Hantua stehen unter Todesstrafe, um die Freundschaft zu Zrundir nicht zu gefährden. Dabei spielt es keine Rolle, ob der Angreifer ein Manatarier ist oder einem anderen Volk zugehört. Außerdem gibt es noch eine ganze Reihe kleinerer Regelungen, die allesamt der Kontrolle von Sichelländern oder dem Wohle der Hantua dienen. Das hatte zur Folge, dass Log, ohne klare Erklärungen abzugeben, seinem Volk unterschwellig den Eindruck vermittelt hat, dass man Cycalas misstrauisch gegenübertreten sollte und dass die Hantua es verdienen, sie als Freunde anzusehen.“

„Hast du ihm nicht versucht, ins Gewissen zu reden?“ hakte Talmir jetzt nach.

„Mehr als einmal. Während Lennys, Akosh und Sara in Sagun waren, empfing er mich sehr zurückhaltend und ich stieß mit meinen Argumenten auf taube Ohren. Aber immerhin hatte ich die stille Hoffnung, dass er noch einmal in Ruhe über meine Worte nachdenken könnte. Später habe ich noch zwei weitere Male versucht bei ihm vorzusprechen, aber er ließ sich verleugnen.“ Menrir konnte seine Trauer kaum verbergen. „Er ist mein Sohn. Es ist kein schönes Gefühl, wenn der Sohn seinen Vater ablehnt und sich dafür in sein Unglück stürzt. Meine Briefe blieben unbeantwortet und ich fürchte, er wird jede weitere Bitte um eine Unterredung als Versuch sehen, ihn zu manipulieren. Er verdreht die Realität und sieht in den Cycala das, was die Hantua eigentlich sind. Als verlogen, barbarisch und habgierig. Ich sehe im Augenblick keine Chance, ihn von seinem Irrglauben abzubringen.“

„Du solltest nicht vergessen, sein Bestreben zu erwähnen, das Mittelland zu unterwerfen.“ erinnerte Lennys.

Menrir nickte.

„In der Tat scheint er sich mit seinem beachtlichen Reich nicht mehr zufriedenzugeben. Übrigens könnte ich mir gut vorstellen, dass Iandal ihm in Bezug auf eine mögliche Angliederung des Mittellandes an Manatar einige Zugeständnisse gemacht und Hilfe angeboten hat. Beweise habe ich dafür aber nicht. Ein Freund von mir, der an Logs Hof als Stallmeister tätig ist, hat mir berichtet, dass einige hochrangige Mittelländer in der letzten Zeit zur Audienz geladen wurden, unter anderem auch der Vorsteher von Goriol und der Oberpriester des Lebenstempels. Es ist kein Geheimnis, dass sich viele Menschen im Mittelland, insbesondere in den kleineren Dörfern, nach einem König sehnen, der ihr Land beschützt und an dessen Gesetzen sie sich festhalten können. Man denke nur an Diebesbanden und an das zwielichtige Gesindel, dass sich dort überall herumtreibt. Log hat mit seinen Mitteln dafür gesorgt, dass die Manatarier kaum Verbrechen fürchten müssen und natürlich hat das auch auf das Mittelland Eindruck gemacht. Und nicht zu vergessen das schlagkräftige Heer des Südreichs. Einem militärischen Angriff wäre das Mittelland hilflos ausgeliefert und der Schutz durch eine Armee wie die König Logs würde sie sicher beruhigen. Noch konnte ich nicht in Erfahrung bringen, wie groß der Erfolg seiner bisherigen Bemühungen ist, aber ich habe keinen Zweifel daran, dass er letztendlich bekommt, was er will. Einen Zusammenschluss beider Länder unter seiner Herrschaft.“

Sofort erhob sich zahlreiches Gemurmel. Kaum einer hatte es für möglich gehalten, dass König Log zu einer Bedrohung oder auch nur einem ernstzunehmenden Hindernis hätte werden können. Die Nachrichten, die Menrir ihnen überbracht hatte, waren alles andere als beruhigend, auch wenn die Soldaten Manatars den Sichelländern weit unterlegen waren. Im Pakt mit den Kriegern aus Zrundir aber wären sie vielleicht in der Lage, dem cycalanischen Heer einigen Schaden zuzufügen. Dass jetzt auch noch kampferprobte Männer aus dem Mittelland den Reihen des Feindes beitreten könnten, machte die Situation nicht besser.

„Wenn Log es schafft, neben Manatar auch noch das Mittelland zu beherrschen, hat Iandal leichtes Spiel.“ gab Rahor zu Bedenken. „Er muss sich nur einen Namen machen und sein Ansehen am Königshofe mehren. Dann schafft er Log aus dem Weg und ganz Sacua gehört ihm. Das Mittelland. Das Südreich. Und Zrundir.“

Betroffenes Schweigen folgte. Lennys schüttelte den Kopf.

„So schnell geht das nicht. Aber zweifellos ist das sein Ziel. Und sicherlich wird er mit einem Gesamtangriff auf das Sichelland noch so lange warten, bis er alle anderen Armeen des Kontinents unter seinen Befehl gestellt hat.“

„Dann ist die Sache ja wohl klar.“ platzte Sham heraus. „Wir werden ins Verlassene Land einmarschieren und Iandal vernichten und danach greifen wir uns Log und bringen ihn wieder zur Vernunft.“

„Lass es uns wissen, wenn du das erledigt hast...“ erwiderte Lennys zynisch. „So wie man dich reden hört, schaffst du das sicher im Alleingang.“

„Ich meinte ja nur...“

„Wir werden nicht blind in einen Kampf stürzen, solange wir unseren Gegner nicht kennen. Wir wissen nicht, wie groß Zrundirs Heer wirklich ist. Wir wissen nicht, wie eng die Bande zu Manatar und dem Mittelland inzwischen tatsächlich sind. Gehe mit hundert Mann in Orjopes Burg und sieh dich einer Streitmacht gegenüber, die von drei Ländern gestellt wird. Oder schicke all unsere Krieger hin und lasse Cycalas ungeschützt zurück. Welche Wahl ist die bessere?“

Verlegen rutschte Sham auf seinem Stuhl zusammen.

„Du bist ein Hitzkopf, Sham. Du handelst und redest, ohne nachzudenken. Ich gebe dir recht, wenn du der Meinung bist, dass wir Iandal und Log an ihren Plänen hindern müssen und dass wir es uns nicht erlauben können, untätig zu bleiben. Uns läuft die Zeit davon. Aber ein Sturm auf die Festung im Verlassenen Land könnte zu einem Gegenschlag führen, der uns weit zurückwirft. Noch wissen wir zu wenig von unseren Feinden und sie, dank Iandal, zu viel von uns.“

Sham sagte nichts mehr und auch sonst war das Stimmengemurmel am Tisch verstummt. Schließlich hob Mondor den Kopf.

„Wir sollten nicht vergessen, dass Iandal möglicherweise einen weiteren Trumpf im Ärmel hat.“

„Ich bitte dich....“ Talmir verdrehte die Augen. „Nicht schon wieder diese seltsamen Theorien von einem Seitenwechsel Ash-Zaharrs. Allmählich langweilst du mich damit. Kein Mensch kann dir diesen Unsinn abnehmen...“

„Solange sich der oberste Priester des Landes selbstsicher auf seinem Sessel in Askaryan räkelt, anstatt sich seiner wahren Bestimmung hinzugeben, erwarte ich auch kein Verständnis für die hohen Mysterien unseres Glaubens.“ erwiderte Mondor gleichmütig. Talmir sprang auf.

„Du wagst es...!“ rief er zornig. „Du kannst dich glücklich schätzen, dass ich dich in deinem Tempel schalten und walten lasse, damit sich eine Bande religiöser Fanatiker gut aufgehoben fühlt! Eigentlich sollte man jemanden, der derartig den Geist der Sichelländer zu vergiften versucht, sofort in den Kerker werfen! Sprich du nicht von hohen Mysterien! Du hast keine Ahnung von dem, was...!“

„Das reicht!!!“ Lennys Stimme übertönte sogar Talmirs Geschrei. „Es reicht mir langsam mit eurem ständigen Gezanke! Talmir, du bist der Shaj des Himmels, aber dies hier ist meine Festung und der Rat tagt unter meiner Führung! Wenn du dir noch einmal eine solche Entgleisung erlaubst, dann werfe ich dich hinaus, das schwöre ich dir! Und du Mondor, du hast kein Recht, deinen Shaj zu beleidigen! Ich habe dich schon einmal gewarnt und jetzt zum zweiten Mal. Es wird kein drittes Mal geben und glaube mir, ich habe kein Problem damit, deinen Kopf rollen zu lassen, wenn du nicht bereit bist, dich an unsere Gesetze zu halten!“

Es ließ sich nicht mit Sicherheit sagen, wessen Augen am meisten vor Wut glühten. Talmir und Mondor funkelten sich so böse an als wollten sie sich am liebsten sofort gegenseitig die Kehle durchschneiden und Lennys donnernde Stimme ließ keinen Zweifel daran, dass sie ihre Drohungen ohne zu zögern wahrmachen würde, wenn die beiden Streithähne ihr erneut Anlass dazu gaben.

„Ich denke....“ begann Mondor etwas vorsichtiger, „... dass ich nicht nur hier bin, um mir militärische Strategien anzuhören. Wie auch Menrir, Imra und Akosh wurde ich aus einem bestimmten Grund hierher gebeten und deshalb sollte man mich auch anhören. Talmir vertritt den Glauben des Landes, aber eben nur zehn Stämme schließen sich seinen Richtlinien an. Und ich bin der Sprecher des elften Stammes, der eine etwas andere Auffassung zu unserer Religion hat. Deshalb bitte ich um das Wort, um meine Sicht der Dinge darzulegen.“

„Dann tu das, aber vergiss nicht, was ich dir gesagt habe.“ warnte Lennys.

„Danke. Nun, ich denke, wir sollten uns zuerst bemühen, unsere Situation richtig zu erkennen. Wir sehen manches vielleicht etwas im falschen Licht. Wir sind die Diener Ash-Zaharrs. Nicht umgekehrt. Er beherrscht uns, nicht wir ihn. So war es, so ist es und so wird es immer sein. Und natürlich ist auch Iandal nicht so dumm, zu glauben, er könne einem Gott Befehle erteilen. Ganz gleich, was er sagt oder womit er droht, im tiefsten Innern weiß er, dass er niemals die Macht haben wird, Ash-Zaharr als eine Art übermenschlichen Soldaten zu rekrutieren. Und ich bin mir sicher, dass wir alle...“ Sein Blick streifte Talmir. „..in diesem Punkt übereinstimmen. Aber darum geht es vielleicht gar nicht. Es geht nicht darum, dass wir fürchten müssen, dass Ash-Zaharr dem Sichelland voll und ganz den Rücken kehrt und plötzlich ein Gott Zrundirs wird. Aber wir sollten uns auch nicht zu sehr auf seine Hilfe verlassen. Er hat uns einst als sein Volk erwählt und ohne ihn wären wir nicht das, was wir heute sind. Auch darüber sind wir uns sicher einig. Wir existieren nur, weil er es uns gestattet und unsere zahlreichen Stärken und Fähigkeiten sind nur deshalb so ausgeprägt, weil er sie uns vermittelt hat. Aber wir haben ihn erzürnt. Wir haben seine Wut geweckt und diese währt bis heute. Doch wir leben. Sogar jene, die in seinen Augen verflucht sind. Verräter. Nicht wert, in seiner Gunst zu stehen. Aber immer noch am Leben. Wie lange noch? Und nun begebe ich mich zugegebenermaßen ins Reich der Spekulationen und Mutmaßungen. Ich glaube, dass Iandal Kontakt zu Ash-Zaharr aufgenommen hat. Er hatte genug Wissen, um dies zu tun. Ein sehr gefährliches Unterfangen, aber möglich. Und ich glaube auch, dass er versucht, sich Ash-Zaharrs Wut und seine Rachegelüste zu Nutze zu machen. Er wird den Blutdämon nie dazu bringen, das Volk Cycalas' zu vernichten. Doch wie viel braucht es, um den Zorn des Gottes so weit zu entfachen, dass er die von ihm Verdammten auf tödliche Art und Weise straft? Es gibt Rituale, Anrufungen, Opfer... Seit Urzeiten in den alten Schriften überliefert und ich habe Grund zu der Annahme, dass Iandal sich einen beachtlichen Teil dieses alten Wissens angeeignet hat. Ash-Zaharr lässt sich nicht von einem abtrünnigen Größenwahnsinnigen hinters Licht führen. Er ist ein Gott. Aber er könnte sich auf einen Handel einlassen. Könnte sich dazu hinreißen lassen, seine Rache zu vollenden. Gnade liegt nicht in seiner Natur. Hatten wir bislang nur Glück? Iandal hatte schon immer ein Talent dafür, zu erkennen, wie er das Wohlwollen seiner Herren gewinnen kann. Erinnert euch nur an seinen schnellen Aufstieg zum Cas. Wir dürfen uns nicht darauf verlassen, dass Ash-Zaharr uns in jeder Situation zur Hilfe kommt. Wenn Iandal mit seinen Bemühungen Erfolg hat, erwartet uns vielleicht eine viel größere Gefahr als nur eine Bündnisarmee. Und ich denke, die meisten von euch wissen, wovon ich spreche. Ihr wisst, wen er verdammt. Ihr wisst, dass er nicht ein ganzes Volk auslöschen muss, um Genugtuung zu erfahren. Und ihr wisst, dass unsere Zukunft sehr verwundbar ist.“

Niemand sagte etwas. Selbst Talmir, dem man förmlich ansah, dass er Mondors düstere Ahnung für übertrieben hielt, presste die Lippen aufeinander. Jeder hing seinen Gedanken nach und keiner wagte, sie auszusprechen. Alle waren erleichtert als Lennys endlich die Spannung löste.

„Entscheidend ist, was wir tun. Und dass wir nichts übersehen. Jeder von euch ist gefragt und gefordert. Die Cas als Heerführer und oberste Krieger. Menrir und Imra für die Erkundigungen in den Fremdländern. Akosh kann sie dabei unterstützen, aber er sollte sich auch auf seine frühere Berufung besinnen. Talmirs und Mondors Aufgaben sind klar, auch wenn ich es für besser halte, wenn sie ihnen getrennt nachgehen. Ich erwarte bis morgen von jedem einen Bericht, der seine Zuständigkeit betrifft. Übersichten über unsere Streitkräfte, die Waffenproduktionen und alle sonstigen militärischen Belange. Aufstellungen der Cycala, die sich außerhalb unserer Grenzen befinden. Den gesammelten Schriftverkehr mit unseren Kundschaftern und Spionen aus den letzten sechs Wochen. Außerdem alle alten Schriften und Informationen aus den Tempeln, die Iandal möglicherweise unter die Augen gekommen sein könnten und die er jetzt gegen uns verwenden könnte. Ohne Ausnahme. Eine detaillierte Zusammenfassung über alle außenpolitischen Vorgänge, unter anderem in Bezug auf Log und den Vorsteher von Goriol. Insbesondere neue Gesetzesentwürfe, Heeresbewegungen, Handelsbeziehungen und alle Gerichtsverhandlungen, die Hinrichtungen zur Folge hatten. Sämtliche Unterlagen zum Tode Makk-Uras. Und ich will die Namen aller Cycala, die bis zu seinem Untertauchen engeren Kontakt zu Iandal hatten. Verwandte, Freunde, Ausbilder. Und alles, was sonst noch von Belang sein könnte. Jeder, der sich seinen Aufgaben nicht mit vollem Einsatz widmet oder sich unnötiger Verzögerungen schuldig macht, wird sich wünschen nie geboren zu sein!“

„Hat sie eigentlich in den nächsten paar Monaten eigentlich auch einmal die Absicht zu schlafen?“ fragte Sham kopfschüttelnd, als er etwas später zusammen mit Rahor den Großen Saal verließ. „Wann will sie sich denn all diese Berichte und Listen und was sie sonst noch haben will, ansehen?“

„Frag mich nicht.“ Rahor machte ein ratloses Gesicht. „Auf jeden Fall ist es im Moment besser, sie nicht zu verärgern. Sie bringt es noch fertig und lässt jeden von uns in den Kerker werfen, wenn wir ihr auch nur den Hauch einer Information vorenthalten.“

„Und das alles bis morgen....“ ächzte Sham. „Wie sollen wir das denn schaffen? Ich muss sämtliche Stadtwachen erfassen. Allein für Zarcas bräuchte ich schon drei Tage, wenn ich genau arbeite. Und denk nur an die Grenzposten bei Askaryan.“

„Mir geht es nicht besser. Mein oberster Verwalter hat zuletzt im Frühling eine Generalinspektion durchgeführt. Aber es hat keinen Sinn, sich zu beklagen. Lennys ist nicht in der Stimmung sich irgendwelche Entschuldigungen anzuhören. Vielleicht sollten wir uns mit Tinogal zusammenschließen. Er ist doch für die Ausbildung der Säbelkämpfer zuständig und hat ein Register über alle Ränge und Zuteilungen.“

„Du hast recht. So könnten wir es schaffen. Aber bitte nicht jetzt. Mir brummt schon der Schädel. Können wir nicht wenigstens eine kurze Pause machen, bevor wir loslegen? Lass uns zu Sara hinuntergehen. Ich würde sie gern näher kennenlernen....“

„Sham, lass das. Lennys bringt dich um, wenn du dich an ihre Dienerin heranschmeißt. Mir hat sie deswegen auch schon die Hölle heiß gemacht. Aber eine Pause könnte ich auch brauchen. Meinetwegen, gehen wir also zu Sara, aber mach um Himmels Willen keine Annäherungsversuche. Ich habe wirklich keine Zeit, jetzt noch einen Ersatz für dich einzuarbeiten, wenn Lennys dich zu Hackfleisch verarbeiten lässt.“

Zu Rahors und Shams Überraschung war Sara nicht allein, als sie an ihre Zimmertür klopften.

„Akosh? Du hier? Solltest du nicht Imra und Menrir helfen?“

„Die beiden kommen gerade ganz gut ohne mich klar.“ antwortete der Schmied. „Aber das heißt nicht, dass ich mich langweile. Wie Lennys es gewünscht hat, werde ich mich so schnell wie möglich mit den Schmiedemeistern treffen, die für die Shajkane zuständig sind. Vor Sonnenaufgang kann ich da aber nichts ausrichten.“

„Dafür, dass Lennys es so eilig hat, lassen wir es aber alle sehr ruhig angehen.“ bemerkte Rahor grinsend. „Sara, du kannst wirklich froh sein, dass du dich nicht durch irgendwelche Papierberge arbeiten musst.“

„Leider...“ seufzte die Novizin. „Ich komme mir gerade ziemlich nutzlos vor. Kann ich euch nicht irgendwie helfen?“

„Ich fürchte, nein.“ antwortete Akosh. „Alle Cas haben Verwalter, Schreiber und Heerführer unter sich, die sich gut in diesen militärischen Angelegenheiten auskennen. Ich selbst werde nicht viel zu tun haben, mein Nachfolger ist sehr zuverlässig und wird mir morgen alle nötigen Informationen übergeben können. Und Menrir und Imra haben ebenfalls gut vorgearbeitet und alle Erkenntnisse, die sie in den letzten Wochen gewonnen haben, fein säuberlich niedergeschrieben. Was Talmir und Mondor angeht, so kannst du dir sicher denken, dass sie keinen anderen als ihren höchsten Priestern Zutritt zu den alten Archiven gewähren. Lennys' Erwartungen an uns scheinen im ersten Moment unerfüllbar, aber im Grunde ist es nur eine Frage der guten Organisation.“

„Du hast leicht reden...“ murmelte Sham.

Akosh ging nicht weiter darauf ein. „Sara, ich kann verstehen, dass du nicht gerne zusiehst, wie alle anderen ihren Beitrag leisten. Aber niemand erwartet irgendetwas von dir. Und niemand wird dir irgendeinen Vorwurf machen, wenn du dich einfach ein paar Tage ausruhst. Das hast du dir verdient. Vergiss nicht, dass wir Sichelländer auch mehrere Tage und Nächte durchwachen können, ohne zu ermüden. Zumindest für eine gewisse Zeit. Auch Menrir gönnt sich regelmäßig Pausen und keiner würde es wagen, darüber ein Wort zu verlieren. Entspanne dich einfach ein bisschen.“

„Das ist nicht leicht. Ich wäre schon froh, wenn ich den anderen Dienstboten beim Waschen und Kochen helfen dürfte. Aber ich fürchte, sie sind froh, wenn sie mich nicht sehen...“

„Du hast es nicht nötig, dich darüber zu ärgern. Überlege doch, was du erreicht hast. Und wer du bist. Was du schon alles geleistet hast. Jetzt bist du ein Teil des Hohen Rates und trotz allem noch Leibdienerin der Shaj der Krieger des Sichellandes. Auch wenn du sie jetzt kaum noch zu Gesicht bekommst, an deinem Rang ändert das nichts. Viele junge Cycala würden dich sehr beneiden.“

Als die drei Besucher Sara kurze Zeit später allein ließen, fand die Novizin keine Ruhe. Noch lange lag sie wach, starrte an die Zimmerdecke und dachte nach.

Jeder sollte tun, wozu er bestimmt war, hatte Lennys gefordert. Jeder sollte dafür sorgen, dass in seinem Aufgabenbereich keine Versäumnisse vorlagen. Im Grunde war es ganz einfach. Und es war Akosh gewesen, der sie daran erinnert hatte, was sie eigentlich zu tun hatte.

Die Versammlung am nächsten Abend dauerte nicht lange. Lennys war immer noch schlechter Stimmung und verlangte nur nach den angeforderten Berichten und Dokumenten. Nacheinander wanderten Pergamentrollen, in Leder gebundene Bücher und unzählige lose Bögen aus handgeschöpftem Papier über den Tisch. Die Shaj prüfte jedes Schriftstück nur mit einem kurzen Blick und übergab schließlich alles in gewaltigen Stapeln an mehrere Diener, die sie herbeigerufen hatte.

„Bringt alles ins Kaminzimmer.“ befahl sie knapp. Dann befragte sie die Ratsmitglieder noch einmal nach Neuigkeiten, doch keiner wusste etwas zu berichten. Lediglich Imra merkte kurz an, dass anscheinend in Thau vermehrt Hantua auftauchten und dort größere Einkäufe tätigten.

„Sie brauchen Vorräte für Orjopes Festung.“ nickte Lennys wenig überrascht. „Sie können ja nicht alles selbst herstellen oder von Zrundir herunterbringen. Also kaufen sie ihre Nahrung zum Teil in Gahl und Thau. Versuche herauszukriegen, was genau sie dort mitnehmen und in welchen Mengen. Vielleicht gibt uns das einen Hinweis auf die Anzahl ihrer Soldaten dort.“

Sie stand auf. „Ich erwarte sofort Mitteilung, wenn jemand etwas Relevantes erfährt. Ansonsten wünsche ich keine Störung bis zum nächsten Treffen. Wann es stattfindet, lasse ich euch zu gegebener Zeit wissen.“

Froh, diesmal so glimpflich davongekommen zu sein, zerstreuten sich die Ratsmitglieder schnell. Sie alle waren erleichtert darüber, dass für den Moment keine neuen Aufgaben verteilt worden waren. Im Angesicht der drohenden Gefahr hatte jeder mehr als genug zu tun, die Verteidigungen zu stärken und ständig neue Kundschafter auszusenden und ihre Berichte auszuwerten. Langweilig würde es keinem werden, aber wenigstens konnten sie ihren Tagesablauf wieder selbst bestimmen. Und bis Lennys sich durch all die Papiere gearbeitet hatte, die sich nun im Kaminzimmer stapelten, würden wohl mehrere Tage vergehen. Schon allein die ausgewählten Schriften aus Mondors und Talmirs Bibliotheken konnten nicht in so kurzer Zeit durchforstet werden.

Auf dem Korridor warteten Menrir und Imra auf Sara.

„Wie geht es dir?“ fragte der Heiler. „Es tut mir sehr leid, dass wir noch nicht viel Zeit füreinander hatten. Was hältst du davon, wenn wir uns auf eine Tasse Tee im Lesesaal der Bibliothek treffen? Da können wir uns ungestört unterhalten...“

„Das ist wirklich nett.“ sagte Sara. Dann fügte sie aber bedauernd hinzu: „Leider habe ich noch etwas Wichtiges zu erledigen. Vielleicht morgen?“

„Ja... gern...“ erwiderte Menrir verwirrt. „Darf ich fragen, was du...?“

„Bitte nicht. Vielleicht bin ich auch schnell zurück, dann komme ich gern. Aber ich kann es nicht versprechen.“

„Na gut, ganz wie du meinst. Ich werde mit Imra sicher noch eine ganze Weile dort sein. Die Bibliothek liegt genau ein Stockwerk unter dem Großen Saal, du kannst sie gar nicht verfehlen.“

„Danke.“

Sara wartete, bis Menrir und Imra als Letzte den Gang verlassen und die breite Treppe am Flurende hinabgestiegen waren. Dann setzte sie sich auf einen kleinen steinernen Absatz in einer dunklen Nische, die sie bereits Tags zuvor bemerkt hatte und lauschte. Es dauerte nicht lange bis sich Schritte näherten.

Ein junges Mädchen in dunkelrotem Umhang, wie er für die Dienstboten der Burg üblich war, kam die Stufen hinauf. In den Händen trug sie ein rundes Silbertablett mit einem schlichten Kelch und einer Flasche Sijak darauf. Sie hielt direkt auf die Flügeltür des Kaminzimmers zu.

„Warte!“

Die Dienerin zuckte erschrocken zusammen, als Sara plötzlich aus dem Dunkel hervortrat. Doch kaum hatte sie die Mittelländerin erkannt, wurde ihr Mund schmal.

„Ich mache das.“ sagte Sara und deutete auf das Tablett.

„Nein.“ erwiderte das Mädchen kurz und schickte sich an, achtlos an Sara vorbei zu gehen, doch die verstellte ihr den Weg.

„Was soll das?“

„Ich sagte: Ich mache das.“

„Es ist meine Aufgabe. Der Kämmerer hat ausdrücklich mich hinaufbefohlen.“

„Und ich bin die Leibdienerin der Shaj. Es ist mein gutes Recht, ihr selbst das Gewünschte zu bringen.“

Die Dienerin machte ein ärgerliches Gesicht.

„Na schön!“ zischte sie und reichte Sara das Tablett so schwungvoll, dass die Sijakflasche bedenklich ins Schwanken geriet. „Aber du weißt sicher, dass die Herrin es gar nicht schätzt, wenn man bestehende Regeln einfach über den Haufen wirft. Wirst schon sehen, was du davon hast, wenn sie dir ordentlich den Marsch bläst!“

Mit diesen Worten machte sie auf dem Absatz kehrt und stolzierte mit hocherhobenem Haupt davon.

Kaum waren ihre Schritte verklungen, klopfte Sara sachte an die Tür.

„Herein!“

Lennys saß wieder auf ihrem Lehnstuhl direkt vor dem Feuer. Der runde Tisch, der einst in der Ecke gestanden war, war von einem Diener zum Stuhl gerückt worden und verschwand nun fast völlig unter einem großen Berg von Papieren. Daneben stapelten sich auf dem Boden zahlreiche Bücher. Die Shaj hatte sich über ein langes Schreiben gebeugt und nahm von ihrer Umgebung keine Notiz.

Vorsichtig schob Sara einige Pergamente zur Seite, um so Platz für Kelch und Flasche zu schaffen. Das Tablett lehnte sie an ein Tischbein. Dann blieb sie stehen.

„Worauf wartest du noch?“ fragte Lennys ungeduldig, ohne aufzusehen.

„Ich hätte gern gewusst, ob ich euch helfen kann.“

Endlich hob Lennys den Kopf.

„Was machst du denn hier?“ fragte sie erstaunt.

„Meine Arbeit.“

„Unsinn. Dafür haben wir die Burgdiener. Wir sind hier nicht im Nebeltempel.“

„Ich tue es gern.“

„Du solltest deine Zeit sinnvoller nutzen.“

„Indem ich euch helfe?“

„Mir helfen? Mach dich nicht lächerlich.“

„Ihr könntet jemanden brauchen, der all diese Schreiben ordnet und das Wichtige von dem Unwichtigen trennt.“

„Woher willst du wissen, was wichtig ist?“

„Wenn ich nicht sicher bin, kann ich fragen.“

Lennys schüttelte den Kopf. „Das meiste hier ist Cycalanisch, das verstehst du ohnehin nicht.“

„Nein, ist es nicht. Ich habe es gesehen. Nur die Tempelschriften kann ich nicht lesen.“

„Das ist auch besser so. Abgesehen davon brauche ich keine Hilfe.“

Sehr zu Lennys' Erstaunen wurde Saras Ton nun schärfer.

„Ich bin vielleicht keine Cycala, aber das heißt noch lange nicht, dass ich dumm und nutzlos bin. Und vor allen Dingen bin ich nicht blind. Seit wir Valahir überquert haben, habt ihr so gut wie nicht geschlafen. Und so wie ich euch kenne, werdet ihr euch keine Ruhe gönnen, solange ihr diesen Haufen nicht durchgearbeitet habt. Und deshalb werde ich euch dabei helfen, ob es euch passt oder nicht!“

„Wie kannst du es wagen, so mit mir zu sprechen?“ fuhr Lennys sie zornig an. „Ist dir deine Ernennung zum Ratsmitglied zu Kopf gestiegen?“

„Nein. Und ich habe auch nicht darum gebeten. Ich weiß nicht, warum Mondor mich für wichtig hält oder was ich mit eurer Religion zu tun haben soll! Aber ich weiß, dass ich immer noch eure Dienerin bin und dass jeder das tun soll, wozu er bestimmt worden ist. Ich kann keine Säbel schmieden oder Dämonen beschwören. Aber ich weiß, dass ich andere Dinge tun kann! Und deshalb bin ich hier.“

Und noch ehe Lennys die Sprache wiedergefunden hatte, kniete sich Sara neben dem Tisch auf den Boden und griff nach einer Notiz die oben auf dem Stapel lag.

„Eine Rechnung eines Priesters über sechsundachtzig Pergamentrollen?“ fragte sie verwundert. „Und so etwas ist wichtig für den Kampf gegen Zrundir?“

Resigniert ließ sich Lennys in ihren Stuhl zurückfallen. „Du musst auf die Unterschriften und Siegel achten.“ erklärte sie matt. „Manchmal sind scheinbar unwichtige Schreiben bedeutsam, wenn man sie in Zusammenhang mit anderen Schriftstücken aus der gleichen Quelle betrachtet.“ Doch Sara hatte inzwischen weitergelesen.

„Meine Güte, das ist ja ein Wucherpreis! Wieso bezahlt eine Turmwache Askaryans zweieinhalb Deben Gold für einen Korb voll Pergament? Und warum lässt er es aus Zarcas schicken?“

Sofort schnellte Lennys' Hand nach vorn und entriss ihr das Schreiben. Ungläubig überflog sie die Zeilen.

„Wenn man sich ansieht, wie hier Pergament verschwendet wird, kann es doch eigentlich gar nicht so teuer sein. Aber hier wurde ein Vermögen bezahlt!“ meinte Sara.

„Es ist nicht nur die Summe. Etwas anderes ist viel seltsamer. Und ich spreche nicht von der Lieferung an sich.“ Lennys konnte den Blick nicht mehr von dieser mysteriösen Rechnung lassen. „Und nach allem, was du über Cycalas weißt, müsste es dir eigentlich auch sofort auffallen."

Erst jetzt begriff Sara.

„Gold....“

„Eben. Hier gibt es kein Gold. Wir handeln mit Silber oder anderen Wertgegenständen. Gold hat für uns keinerlei Nutzen und du wirst es auch nirgends auf den cycalanischen Märkten finden. Ganz abgesehen davon, dass ein Priester damit nichts anfangen könnte, wäre es für einen gewöhnlichen Wachsoldaten vollkommen unmöglich, an eine solche Menge heranzukommen.“

„Vielleicht hat er es von den Shangu?“

„Theoretisch ist das zwar möglich. Aber für die Shangu ist Gold ein ähnlich begehrtes Zahlungsmittel wie im Mittelland. Ich wüsste nicht, wodurch er sich zweieinhalb Deben hätte verdienen können, wenn er nicht gerade Haus und Hof verkauft hätte. Und das alles für eine Ladung Pergamentrollen? Was will er überhaupt damit? Und wie du schon sagtest, warum lässt er sie sich von einem Tempel aus Zarcas schicken? In Askaryan bekommt er genug davon.“

Inzwischen hatte Lennys vollkommen vergessen, dass sie Sara eigentlich hatte hinauswerfen wollen.

„Aber vielleicht waren es keine leeren Rollen. Vielleicht stand etwas darauf...?“ überlegte die Novizin.

Lennys wusste sofort, worauf sie hinauswollte. „Etwas, das diesen hohen Preis wert ist? Etwas, dass er nur aus einem Tempel bekommen kann? Das wäre ein ungeheures Verbrechen. Aber wieso Gold?“

Sara dachte weiter nach. „Eine Turmwache Askaryans.... Dieser Mann könnte doch ein Mittelsmann sein. Er könnte in seiner Position die Rollen problemlos weitergeben – über die Grenze. An jemanden, der eben in Gold bezahlt und nicht in Silber....“

„Das wäre Hochverrat. Wenn tatsächlich jemand Tempelschriften an einen Außenstehenden verkauft... Ihm wäre ein grausamer Tod gewiss. Niemand wäre so dumm, so etwas auch noch schriftlich festzuhalten.“

„Aber es war sicher nicht beabsichtigt, dass euch das Dokument in die Hände fällt. Vielleicht wollte der Händler oder Bote, der die Pergamente nach Askaryan gebracht hat, einen Nachweis über die Lieferung haben. Oder er hat diese Notiz sogar selbst verfasst. Sie trägt ja kein Siegel, jeder hätte sie schreiben können.“

„Das wäre immerhin möglich. Ausnahmsweise zahlt es sich aus, dass manche Schreiber keinen Sinn für Ordnung haben. Sonst wäre das hier sicher nicht zwischen die Militärberichte gerutscht. Ich werde morgen früh umgehend veranlassen, dass sowohl der betreffende Priester als auch der Wachsoldat eindringlich verhört werden. Heute hat das keinen Sinn mehr. Und wenn an unserem Verdacht etwas dran sein sollte, wäre die Situation sehr viel ernster, als wir bisher angenommen haben.“

Da sie in diesem Augenblick nichts weiter unternehmen konnten, legten sie das verdächtige Schreiben beiseite und widmeten sich nun den anderen Dokumenten.

Sara stellte schnell fest, dass der Großteil der Schreiber und Verwalter peinlich genau und ordentlich arbeitete. Schnell hatte sie begriffen, nach welchen Kriterien die Säbelkämpfer aufgelistet wurden, welche Waffenschmiede welche Kasernen belieferten und welche geheimen Bezeichnungen und Namen die Kundschafter in ihren Briefen verwendeten. Zuerst war sie erstaunt gewesen, dass tatsächlich nur sehr wenige Schriftstücke in Cycalanisch verfasst wurden, doch Lennys erklärte ihr, dass die „Alte Sprache“ normalerweise nicht für allgemeine Geschäftsangelegenheiten verwendet wurde. Nur die Priester und einige enge Kriegerzirkel sowie der Stamm der Batí bevorzugten das Cycalanische auch in weniger formellen Gesprächen. Briefe, die die Welt jenseits der Grenzen erreichten oder durchquerten, durften hingegen auf keinen Fall eine sichelländische Redewendung enthalten, damit sie nicht zu leicht zugeordnet werden konnten.

Lennys war mittlerweile nicht mehr ernsthaft verärgert über Saras Anwesenheit. Im Gegenteil, sie musste zugeben, dass die Novizin ihr wirklich eine Hilfe war und durch Saras unverkennbares Talent, Ordnung in das angehäufte Chaos zu bringen, kamen sie schneller voran als erhofft. Dennoch war Mitternacht längst vorüber, als sie auch die letzte beschriebene Seite auf dem richtigen Stapel legten. Ein beträchtlicher Teil der Schriftstücke war schon auf einem großen Haufen gelandet, den Lennys verächtlich als „Müll“ bezeichnete. Sie enthielten keine Informationen, die im Augenblick für sie von Interesse waren und so hatte sich der Bestand an Schreiben, die sie noch einmal gründlicher durchgehen musste, schon merklich reduziert.

„Ich könnte mich um den Schriftverkehr der Kundschafter kümmern.“ schlug Sara vor. „Von euren Kriegern habe ich kaum Ahnung, aber was die Fremdländer angeht, könnte ich euch vielleicht nützlich sein.“

„Eigentlich ist es die Aufgabe von Menrir, Imra und Akosh, alles Wichtige zusammenzufassen und mir sofort mitzuteilen. Aber auch sie können das eine oder andere übersehen. Schau dir die die Briefe an, ob du etwas Neues findest, aber rechne nicht zu sehr damit, fündig zu werden. Ich werde mich inzwischen mit den Einsatzberichten des vierten Shajkan-Grades auseinandersetzen. Es wird wirklich Zeit, dass sie eine anständige Schlacht schlagen dürfen. Wenn man sich das hier ansieht, könnte man meinen, sie wären genauso überflüssig wie die Wachen des Westbogens.“

„Verzeiht, aber ich denke, ihr solltet euch heute nacht nicht mehr länger damit herumärgern.“

Lennys warf Sara einen strengen Blick zu. „Willst du mich etwa ins Bett schicken wie ein kleines Kind?“

„Wenn ihr es so nennen wollt – ja. Auch ihr müsst irgendwann schlafen. Und es ist doch besser, das jetzt zu tun als dann, wenn die ersten Kämpfe toben oder wenn eine lange Reise ansteht.“

„Allmählich fängt deine ständige Vernunft an, lästig zu werden.“ erwiderte Lennys, aber es klang nicht besonders böse. „Aber meinetwegen, machen wir eben Schluss für heute nacht. Viel Zeit zum Ausruhen bleibt ohnehin nicht, ich muss so schnell wie möglich Akosh nach Askaryan schicken, damit er sich um diesen Turmposten kümmert. Meine Güte, warum müssen wir uns jetzt auch noch mit solchen Sachen herumärgern?“

Die Ratsmitglieder waren sehr überrascht, als Lennys bereits am nächsten Mittag wieder eine Versammlung einberief. Aufgrund der zahlreichen Tagesgeschäfte, die in der letzten Zeit liegengeblieben waren, hatten einige von ihnen Semon-Sey verlassen, um sich um dringliche Angelegenheiten zu kümmern, doch es kümmerte Lennys nicht besonders, dass sie nicht zu dem heutigen Treffen erscheinen konnten. Neben fünf Cas, darunter Balman und Sham-Yu, fehlten auch Talmir und Imra, wobei Letzterer aber durch Menrir vertreten wurde. Die verbliebenen Anwesenden wirkten müde und überarbeitet.

„Natürlich konnte ich die Schriftstücke noch nicht in allen Einzelheiten sichten.“ erklärte Lennys knapp. „Aufgefallen ist mir aber, dass zwar alle Vorgänge in diesem Land sehr genau dokumentiert werden, dass sich aber anscheinend niemand näher mit ihnen befasst, wenn sie erst einmal abgelegt wurden. Einige bedenkenswerte Abhandlungen wurden einfach achtlos beiseite gelegt und schnell vergessen.“

Verlegene Blicke senkten sich ringsum.

„Ich erwarte also, dass jeder in seinem Zuständigkeitsbereich jede einzelne Ungereimtheit noch einmal genau unter die Lupe nimmt. Was die Verteidigungs- und auch die Angriffskraft Cycalas' angeht, bin ich einigermaßen zufrieden. Die Cas sind dafür zuständig, dass wir jederzeit marschbereit sind und dass alle Krieger unseres Landes bestmöglich auf die bevorstehende Kämpfe vorbereitet sind. Ist das klar?“

Die vier verbliebenen Cas nickten.

„Was ist mit den Berichten über Iandals Kontakte? Habe ich nicht klar und deutlich gesagt, dass ich sie ebenfalls haben will? Warum hat sich niemand darum gekümmert?“

Ein sichtlich verunsicherter Rahor stand auf.

„Verzeih, aber wir mussten uns um so vieles kümmern. Und wen hätten wir denn fragen sollen? Es gibt kaum noch jemanden, der Iandal so gut gekannt hat und er hatte wohl hauptsächlich Verbindung zu den damaligen Cas...“

„Keine Ausreden!“ fuhr Lennys ihn an. „Wenn ihr nicht in der Lage seid, seine Vergangenheit aufzurollen, obwohl es wichtiger ist als alles andere, dann wird es eben jemand tun, der sich nicht von der kleinsten Schwierigkeit abschrecken lässt!“

Jetzt meldete sich Akosh zu Wort. „Ich werde das übernehmen.“

„Du hast genug mit den Waffenschmieden zu tun. Und als ehemaliger Cas kannst du Rahor bei der Inspektion der Shajkan-Truppen unterstützen. Das liegt dir mehr!“

„Aber ich...“

„Hast du mich nicht verstanden? Ich will, dass jeder Tag, jede Stunde aus Iandals Leben ans Licht kommt! Ich will wissen, wie er an all seine Informationen gekommen ist. Und wer ihm dabei geholfen hat! Er konnte unmöglich alles allein schaffen. Und anscheinend erkennt keiner von euch, wie bedeutungsvoll dieser Punkt ist!“

„Natürlich verstehe ich das.“ protestierte Akosh. „Ich kann mich gern darum kümmern und...“

„Nein! Bist du taub? Für dich habe ich sowieso noch eine andere Aufgabe. Ich will jemanden, der sich ausschließlich mit Iandals Kontakten beschäftigt! Jemand, der sich nicht von anderen Angelegenheiten ablenken lässt! Jemand, der Iandal kennt! Ich will, dass ihr Wandan hierher bringt. Sofort!“

Im Großen Saal herrschte mit einem Mal Totenstille.

„Wandan?“ flüsterte Akosh schließlich erschüttert. „Aber... Wandan...ist tot...“

„Unsinn. Das ist er nicht.“ zischte Lennys. Der Schmied erbleichte. Es war Rahor, der Akosh die Erklärung lieferte.

„Lennys hat recht, Akosh. Wandan ist nicht tot. Wir glaubten es, damals. Dass er ebenso wie Iandal in der brennenden Burg Orjopes umgekommen sei. Aber, auch genau wie Iandal, hat er überlebt. Nur ist er zurückgekehrt in sein Land. Doch es heißt, er habe kein einziges Wort mehr gesprochen. Schwer verletzt zog er sich in die Nordwälder zurück und ließ sich vom Batí-Tempel gesundpflegen. Jetzt lebt er als Einsiedler in den Wäldern und hat seitdem zu niemandem mehr Kontakt, abgesehen von den Batí in Yto Te Vel.“

„Das... wusste ich nicht...“

„Kaum jemand wusste es.“ sagte Lennys ungerührt. „Er hat seine Pflichten gegenüber Cycalas erfüllt und es hat ihn mehr gekostet als nur seine Gesundheit. Wenn ich die Wahl hätte, würde ich ihn in seinen Wäldern lassen, er hat den Frieden mehr verdient als die meisten von uns. Aber ich habe keine Wahl. Rahor, schicke einen Boten zu ihm. Befehle ihn hierher, in meinem Namen.“

„Er wird nicht kommen.“ Alle starrten Mondor an. Der alte Batí-Priester hatte bei seinen Worten geradewegs Lennys angesehen.

„Er wird.“ sagte die Shaj verbindlich. „Ich selbst werde das Schreiben verfassen. Und sei dir sicher, er wird sich meinem Willen nicht verschließen.“

„Warum? Warum Wandan? Warum kannst du nicht einen anderen beauftragen? Hat er nicht schon genug Leid erfahren in einem Krieg, in dem sein Shaj starb und beinah alle seine Freunde?“ Mondor schien wütend, obgleich er seine Stimme ruhig hielt.

„Ich habe meine Gründe! Und wage es nicht, über die Toten des Krieges zu sprechen, wenn du vor mir stehst!“

„Aber man sagt, er wäre nicht mehr er selbst! Wie kann er uns jetzt helfen?“

„Auch das ist allein meine Sache! Zügle dich, Mondor!“

Sara fühlte sich mehr als nur unwohl. Sie begriff nicht, was hier vorging, sie wusste nicht, wer Wandan war und sie verstand nicht, warum Lennys so darauf bestand, einen alten Veteranen zurückzurufen. Doch ihr war völlig klar, dass die meisten Anwesenden Mondors Meinung teilten, auch wenn niemand sonst es so offen aussprach. Die Novizin war erleichtert, als Lennys das Treffen für beendet erklärte und alle Ratsmitglieder auffällig schnell das Weite suchten. Nur sie selbst, die Shaj und Akosh blieben.

„Warum hast du mir nicht gesagt, dass Wandan noch am Leben ist?“ fragte der Schmied fassungslos. Lennys zuckte die Achseln.

„Was hätte das geändert?“

„Was das geändert hätte? Wir waren Freunde! Du wusstest das! Ich habe um einen toten Freund getrauert und habe versucht, die schrecklichen Ereignisse zu vergessen, als ich ins Mittelland ging!“

„Du wärst auch gegangen, wenn du von ihm gewusst hättest. Und ich glaube nicht, dass ich dir eine Erklärung schuldig bin.“

„Aber...“

„Das reicht jetzt, Akosh. Du solltest dich lieber um das hier kümmern!“ Sie hielt ihm die Pergamentrechnung vor die Nase, die sie in der Nacht zuvor dank Saras Hilfe aus den zahlreichen Schreiben herausgelesen hatte. „Reite nach Askaryan und verhöre den Wachposten dazu. Ich will umgehend wissen, was dahintersteckt. Und jetzt geh!“

Ungläubig starrte Akosh auf das Papier, ohne es auch nur zu überfliegen, sah tief betroffen wieder zu Lennys auf und verließ den Saal ohne ein weiteres Wort. Selbst das Geräusch des zufallenden Portals klang in Saras Ohren traurig.

„Bringe mir Sijak ins Kaminzimmer. Wir werden uns heute die Berichte der Kundschafter genauer vornehmen. Geh in die Bibliothek und lass dir dort Pergamentbögen geben, du wirst mir das Wichtigste aus den Berichten zusammenfassen.“

Sara nickte nur. Dieser Tag hatte einen sehr düsteren Anfang genommen und sie fragte sich, was wohl noch kommen konnte.

Es war ungewöhnlich, dass Lennys schon um diese Zeit Sijak trank. Für gewöhnlich wartete sie bis zum Abend damit und wenn ihre volle Aufmerksamkeit gefragt war, verzichtete sie ganz darauf. Doch obwohl sie sich heute die kompliziert verschlüsselten Schreiben der Spione vornahm, die man ständig miteinander in Verbindung setzen musste, leerte sie einen Kelch nach dem anderen.

Sara saß auf dem Boden neben Lennys' Lehnstuhl, schrieb auf, was ihre Herrin ihr diktierte und ergänzte alles mit eigenen Anmerkungen, die ihr wichtig und hilfreich erschienen. Als sie glaubte, dass der Sijak Lennys' Temperament etwas beruhigt hatte, hielt sie inne.

„Es tut mir leid, aber das alles ergibt keinen Sinn.“ sagte sie kopfschüttelnd.

„Was?“ fragte die Shaj.

„Hier, diese ganzen Todesfälle. Ihr sagtet doch, dass beinah alle Cycala, die ihr Land verlassen haben, dies erst taten, nachdem der Krieg beendet war. Also auch, nachdem Iandal schon längst untergetaucht war. Er kann ihre Identität also gar nicht kennen. Es sei denn, er hat jedes Dorf in Sacua bereist und genau Buch über die Einwohner geführt. Aber dann wäre er doch auch erkannt worden. Er war ja einer der Cas.“

„Wenigstens dir fällt das auf.“ nickte Lennys. „Abgesehen davon hätte er die wenigsten der Auswanderer gekannt, es waren meist einfache Leute, die mit den Cas nichts zu tun hatten. Du kennst ja auch nicht jeden Mittelländer und Log kennt nicht jeden Manatarier. Iandal hätte nicht ohne weiteres herausfinden können, wo überall verborgene Sichelländer leben.“

„Aber woher...“

„Spione aus Zrundir vielleicht. Oder er hat sich Dokumente beschafft, die ihm die nötigen Informationen gegeben haben.“ Die Shaj schien nicht in der Stimmung, darüber nachzudenken.

„Aber es gibt keine einzige Liste, in der diese Cycala genannt werden. Akosh hat sie zusammen mit Imra selbst zusammengeschrieben, aber es gibt keine weitere Aufstellung. Was für Dokumente hätten das sein sollen?“

„Es gibt vieles, was geklärt werden muss. Die Frage ist nur, was wirklich wichtig ist.“

„Iandals Kontakte sind euch sehr wichtig...“ rutschte es Sara heraus und sie hätte sich am liebsten auf die Zunge gebissen. Zu ihrem Erstaunen blieb Lennys ganz ruhig.

„Hätten wir vorher gewusst, dass Talmir zusammen mit Iandal in Chaz-Nar war, wären wir vielleicht auch besser auf Sagun vorbereitet gewesen. Ich möchte uns gerne weitere Überraschungen ersparen.“

„Aber wenn Akosh sich darum...“

„Akosh hat, wie ich schon sagte, andere Dinge zu tun.“ Lennys richtete sich auf und legte das Sendschreiben beiseite, das sie gerade gelesen hatte. „Abgesehen davon hatte er damals keinen besonders engen Kontakt zu Iandal. Sie wurden beinahe zeitgleich zu Cas, aber vorher sind sie sich so gut wie nie begegnet. Sie wuchsen an unterschiedlichen Orten auf, wurden von verschiedenen Säbelmeistern ausgebildet und sie mochten sich nicht besonders. Was nützt uns das dann?“

„Und Wandan kannte Iandal besser?“

„Wandan...“ Nachdenklich betrachtete Lennys ihren Kelch. Es dauerte eine Weile, bis sie antwortete.

„Er hat nichts dem Zufall überlassen. Er war ein erfahrener Kämpfer, ein Krieger vom alten Schlag. Aber er war aufmerksam. Hellhörig. Ihm entging kaum etwas und er hatte einen Instinkt und eine Menschenkenntnis, wie man es heute bestenfalls noch Silberraben nachsagt. Er hatte ein Gespür für die guten und die schlechten Seiten der Menschen. Mehr noch als Mondor.“

Sara schwieg. Sie hatte viele Fragen, doch sie durfte sie nicht stellen. Das hier war eine Geschichte aus der Vergangenheit. Umso überraschter war sie, als Lennys von selbst weitersprach.

„Du hast sicher schon festgestellt, dass Rahor unter den Cas eine Sonderstellung einnimmt. Er ist so etwas wie der Befehlshaber der Leibwache des Shajs. Der Oberste der Festung, wenn man von mir einmal absieht. Nichts in der Nähe des Shajs geschieht, ohne dass er es weiß. Er hat laut Gesetz keine Befehlsgewalt über die anderen Cas, er hat keinen höheren Rang und auch nicht mehr Macht. Aber eben nur laut Gesetz. Die Wahrheit sieht anders aus. Und so wie Rahor heute hatte damals auch Wandan eine Rolle inne, die sich nicht mit denen der anderen Cas vergleichen ließ. Ein Shaj vertraut niemandem wirklich. Nur sich selbst. Aber manchmal ist man gezwungen, Risiken einzugehen. Auch ein Shaj kann nicht alles allein machen. Es gab nicht eine Sekunde, in der ich Zweifel an Wandan gehabt hätte. Er ließ sich nie von seinem Weg und seinem Ziel abbringen. Und nur deshalb stehe ich überhaupt noch hier.“

„Heißt das....?“

„Wandan hat mich aus der Burg gebracht. Nach Orjopes Tod. Alles brannte. Kennst du das Gefühl, wenn man versucht, sich an einen Traum zu erinnern? Je mehr man sich bemüht, desto schneller verrinnen die Bilder im Gedächtnis. Werden zu Nebel, zu Staub. Und verschwinden. Manchmal bleiben aber Bruchstücke. Feuer. Die Trümmer der Mauern. Schmerzen. Der beißende Rauch in den Lungen. Und Wandan, der mich hinaus brachte. Ohne ihn wäre ich vermutlich tot.“

Sie hatte wie zu sich selbst gesprochen, doch plötzlich wurde ihr Blick wieder fest und richtete sich auf Sara.

„Niemand weiß das.“

Die Novizin schluckte, aber sie sagte nichts.

„Er hätte das beinahe mit seinem Leben bezahlt. Als der Seitenflügel der Festung einstürzte, wusste er, dass nur einer von uns es durch den letzten offenen Spalt nach draußen schaffen würde. Er hat keine Sekunde gezögert. Ich kann mich kaum daran erinnern, aber ich weiß, dass ich es allein nicht durchgekommen wäre. Und er blieb hinter mir. Und wusste, dass er deshalb vielleicht sterben würde.“ Sie nahm einen Schluck Sijak. Obwohl das, was sie erzählte, so dramatisch und beklemmend war, sprach sie ganz ruhig und sachlich.

„Die oberste Pflicht der Cas ist es, ihr Land und die drei Shaj zu beschützen. Vor allem den Shaj der Nacht. Wir hatten keinen. Der Shaj war tot. Wandan wusste es. Alle wussten es. Für Wandan stand aber fest, wer den Thron besteigen würde. Er wusste es vielleicht noch besser als ich selbst. Zumindest in diesem Moment. Mag sein, dass der Eid der Cas sich auch auf mich bezogen hat. Mag sein, dass sie verpflichtet waren, ihr Leben für meines zu geben. Aber wie viele hätten es wirklich getan?“

„Also... vertraut ihr ihm doch?“

„Ich glaube, ein Shaj ist nicht in der Lage dazu, jemandem zu vertrauen, selbst wenn er es wollte. Aber wenn ich es könnte, …. Als Wandan nach Cycalas zurückkehrte, war er nicht mehr er selbst. Noch viele Tagen und Wochen war nicht sicher, ob er seine Verletzungen überlebt. Aber er hat es geschafft. Er ist nicht verrückt, auch wenn viele das denken. Er spricht nicht mehr. Zumindest sagt man das. Ich könnte mir vorstellen, dass er manchen Menschen in Yto Te Vel gegenüber dieses Schweigen bricht. Er will niemanden in seiner Nähe haben, außer denen, die dort ebenso zurückgezogen leben wie er. Aber er wird kommen, wenn ich danach verlange. Das weiß ich. Und ich kann es mir in unserer jetzigen Situation nicht erlauben, auf Wandan zu verzichten.“

Sie füllte den leeren Sijak-Kelch nach. „Du bist der einzige Mensch, dem ich das bisher erzählt habe. Viele wissen, dass er in der Burg war. Dass er dort gekämpft hat. Aber mehr nicht. Er hatte einen größeren Gegner als Orjope oder Iandal. Ich glaube nicht, dass ich es ihm sehr leicht gemacht habe in jener Nacht. Behalte es für dich. Du tätest weder ihm noch mir einen Gefallen, wenn jemand davon erfährt.“

„Warum ...habt ihr es mir erzählt?“

„Du hast viel mit ihm gemeinsam. Ich weiß nicht, warum ich es dir gesagt habe. Vielleicht habe ich einfach zu viel getrunken und bereue es morgen. Wahrscheinlich. Erinnere mich besser nicht mehr daran.“

Sichelland

Подняться наверх