Читать книгу Wo geht´s denn hier zu mir? - Christine Dohler - Страница 10
Kapitel 3 TRÄUMEN UND AUFWACHEN
ОглавлениеDas Abenteuer startet mit einer Jeepfahrt durch einen reißenden Fluss. Ohne mit der Wimper zu zucken, steuert unsere isländische Wanderführerin Sigrun das rappelige Ding in die Fluten. Zu ihren filzigen langen Haaren trägt sie den klassischen Wollpullover mit wild gestricktem Muster und einen langen Rock. Sie wird die Woche über das Outfit nicht wechseln. Natürlich bleiben wir stecken und müssen uns vom zweiten Jeep rausziehen lassen. Sigrun ist eigentlich Künstlerin, so wie gefühlt alle Isländer, und lebt im Winter in Stockholm, im Sommer führt sie Menschen durch die raue Natur Islands. Allein kann es brenzlig werden, sagt sie. Wer in den Fluss fällt, wird nie wieder gefunden. Wer auf dem Berg in den Nebel gerät, findet nicht mehr nach Hause. Und bei Sturm wird man vom Felsen gepustet. Aber der Fußweg zur Hütte dauere nur eine Stunde und sei für Anfänger, versichert Sigrun, nachdem sie den Jeep geparkt hat. Doch müssen wir zu Beginn gleich einen felsigen Abhang mit unserem Gepäck runterklettern. Die Retreatleiter aus Kopenhagen Christian und Jana, beide Therapeuten Ende vierzig, können hier schon mal mit ihrer Arbeit beginnen. Zwei von den sieben Teilnehmern bleiben stehen und bekommen eine Panikattacke. Ich tue so, als ob ich stark wäre, lasse mir von niemandem helfen. Typisch ich. Die Frau, die alles allein schaffen will. Der schwere Rucksack zieht mich nach unten. Es nervt manchmal, emanzipiert zu sein. Unten angekommen, merke ich, dass ich allgemein zu viel Ärger habe und sich viel zu wenig Wut entlädt. Am liebsten würde ich jetzt Sigrun verbal zusammenfalten, aber den Job übernimmt jemand anderes. Eine ältere Dame aus den USA prustet los: »Das ist doch kein Weg für Anfänger!«
Sigrun bleibt gelassen. »Bist du Anfängerin?«
»Ja«, sagt die Amerikanerin mit rotem Gesicht.
»Siehst du! Du bist hier unten angekommen. Also ist es ein Weg für Anfänger.«
Ich muss danach eher lachen als schimpfen und freue mich, als ich die Holzhütte sehe, in der wir nun ein paar Tage träumen werden. Erst später merke ich, dass ich wohl allein meinem Herzen gefolgt bin, nicht meinem Verstand. Denn schließlich kenne ich die Leiter des Retreats »Bewusst träumen« nur von ihren Bildern aus dem Internet: ein Paar aus Kopenhagen und eine isländische Wanderführerin. Ich weiß null, was da auf mich zukommt. Manchmal frage ich mich bei solchen spontanen Aktionen meinerseits: Wie hast du dir das alles vorgestellt? Aber am Ende weiß ich, wozu es gut war. Erst als mir die Wanderführerin ein Hammelbein kocht, wird mir klar, dass es kein streng vegetarisches Retreat werden würde. Ich bin Vegetarierin, aber ich bin ja nicht zum Essen hier, ich will mir ausmalen, wie dieses zweite Leben in mir aussehen soll, das geboren werden möchte. Was will ich wirklich, wirklich, wirklich? Also, nicht: Was erwarten andere von mir? Und ich werde die Ideen dazu tatsächlich in diesem verrückten Island erträumen.
Ein paar Wochen zuvor plagten mich noch Zweifel. Wenn ich von einer Reise nach Hause komme, den Koffer voller neuer Erfahrungen, das Herz erfüllt von wunderbaren Inspirationen, dann möchte ich ihn erst gar nicht auspacken und lieber wie im Tagtraum das Erlebte immer wieder nachspielen. Zu Hause ist ja alles beim Alten geblieben, so scheint es. Zwei Zimmer, Küche, Bad – und das Büro wartet auch schon, der Briefkasten quillt über. Während meines vierwöchigen Aufenthalts in Nepal haben mich keine Nachrichten erreicht, und ich habe nichts verpasst. Die Welt hat sich in Hamburg bewegt, aber nicht mitbewegt, scheint es mir. »Wie war es?«, werde ich da gefragt. Und am liebsten würde ich gar nicht so viel erzählen, damit niemand etwas infrage stellt oder gnadenlos kaputtredet. Zweifler finden komisch, was ich so erlebt habe, obwohl sie auch nach Abenteuern gieren, denke ich. Ich bilde mir ein, dass sie wollen, dass ich mittrotte in diesem Gewohnheitsleben, das sich für mich nicht richtig anfühlt.
Zugegeben: nicht alle. Meine Herzensfreunde befeuern mich und nehmen an allem teil, was ich erlebe. Aber ich habe ab und zu das Gefühl, dass ich mitleidig angeschaut werde, als ob ich diese ganze Sinnsuche brauchen würde, weil ich sonst nicht klarkäme. Weil ich immer überlege, meinen guten Job zu kündigen. Weil ich keine Kinder habe. Sie denken vermutlich, dass ich etwas aus der Spur geraten bin, dabei finde ich sie gerade. Wie soll ich jemandem erzählen, dass ich niemals persönlich mit dem Lama in Nepal gesprochen habe – er mir aber alle Fragen beantwortet hat? Wie kann ich erklären, wie sich Stille im Herzen anfühlt und tiefe Verbundenheit mit Menschen, die ich kürzer kenne als langjährige Freunde? Wie kann ich jemandem den Geschmack von Wasser beschreiben, wenn er es nie gekostet hat? Und würde es überhaupt Sinn ergeben? Denn es schmeckt doch für jeden anders.
Und bald fängt die Arbeit im Büro wieder an. Die Tage im Kloster hatten auch eine feste Struktur, doch die ergab für mich mehr Sinn als diese hier mit den Endlos-Konferenzen, dem Kaffeeklatsch in der Küche und der Fließband-Textproduktion zwischendurch. Nach so einem Tag auf dem Bürostuhl kippen meine Schultern nach vorne, sind meine Batterien leer, und ich weiß nicht, wie ich sie nachhaltig aufladen kann. Die Tage ziehen wieder leblos dahin. So melde ich mich wenigstens schon einmal bei einem Swing-Kurs an, um das lebendige Gefühl nicht zu verlieren. Mir fehlen aber die zauberhaften Glocken aus dem Kloster, die murmelnden Gebete der Mönche, und vor allem vermisse ich mich. Die Verbundenheit mit mir und anderen verliere ich in meinem Alltag. Der Retreat-Jo-Jo-Effekt setzt ein: Es ist alles noch schlimmer als vorher. Die Cafés sind mir plötzlich viel zu laut – wie soll ich mich hier in Ruhe unterhalten? Und über was überhaupt? Es kann sein, dass ich abhebe, aber mich interessiert es immer weniger, über Menschen zu reden, die nicht anwesend sind. Zu bewerten, zu verurteilen. Daraus bestehen ja viele Gespräche: andere Menschen oder die eigenen Probleme. Und oft fällt dann das Negative schneller auf als das Positive. Ich glaube, das raubt mir mehr Energie, als es mir welche gibt. Und doch mache ich mit, obwohl ich es besser weiß. Erstaunlich. Mir ist immer noch wichtig, was andere von mir denken, bloß nicht auffallen.
Und mich allein hinzusetzen zum Meditieren fällt mir auch schwer. Wenn ich die Augen schließe und nur noch meine eigene Stimme höre, ist die so wahnsinnig laut und schreit mich an: »Mach doch was, Christine! Befrei dich von dem Wahnsinn!« Der angeschriene Teil von mir stottert dann nur hilflos. Natürlich sitze ich weiter, aber ein Auge schielt schon immer auf das Smartphone, und allein fehlt mir die Disziplin, lange so zu sitzen. Zwischendurch erreicht mich eine Nachricht von Sofia aus Neuseeland. Ich habe ihr vor einer Weile mal geschrieben, um zu hören, wie es ihr geht. Ihre Antwort: »Ich weiß nicht viel. Aber ich weiß: Ich liebe dich.« Ich breche sofort in Tränen aus. »Ich dich auch!«, schreibe ich und bekomme nie wieder eine weitere Nachricht.
Und nun? Ganz aussteigen ist ja nicht so meins. Die Erfahrungen aus dem Kloster sind nicht verschwunden, aber ich stehe vor der Aufgabe, sie nun zu leben. Wie? Indem ich mir selbst treu bleibe und nicht von meinem Weg abweiche, würde mir jetzt die Kloster-Crew raten. Stattdessen schlinge ich eine zu große Portion Wahnsinnsleben mit Arbeitsmarathon und Tagen ohne Meditation herunter, um dann Bauchschmerzen zu bekommen und ganz schnell freiwillig wieder zum bewussten Leben zurückzufinden. Nicht einfach.
Für die tief greifenden Antworten brauche ich wieder die Stille, um zu hören: Wie finde ich heraus, was ich eigentlich will, was ich so im Keller horte und was ausgepackt werden möchte? In Selbsthilferatgebern heißt es oft, dass man sich dafür mit seinem inneren Kind verbinden soll, den Träumen und Sehnsüchten, die damals so hochkamen. Wahrscheinlich, weil diese ungefärbt und rein waren. Ich überlege, wo ich immer schon mal hinfahren wollte, als Kind. Jedes Land bringt andere Facetten in einem zum Vorschein, deswegen reise ich so gerne. Auch wenn ich mich schon ein paar Jahre kenne, woanders entdecke ich mich stets neu. Ich träumte mich damals als Schulkind nach Island, weil ich die Serie »Nonni und Manni« unheimlich gern mochte. Ich verliebte mich nicht nur in den Hauptdarsteller, sondern auch in die Landschaft mit ihren wilden Pferden und den lebendigen Vulkanen. So mache ich es mir auf der Suche nach meinen inneren Sehnsüchten und Träumen einfach und tippe »Island + Retreat« in die Suchmaske. Und siehe da: Es gibt nur ein Angebot. Hauptthema: bewusst träumen. Gut, wenn ich mich mal nicht entscheiden muss. Gut, dass es ums Träumen geht.
Island ist eines der Länder, das mich sofort packt. Entweder ein Ort kriegt mich, oder nicht. Das ist gar nicht rational zu erklären. Schon als ich Island von oben aus dem Flugzeug im Wasser schwimmen und Rauch aus einer heißen Quelle aufsteigen sehe, fühle ich mich wie ein Kind unterm Weihnachtsbaum. Sollen doch alle sagen, dass es hier immer regnet, dunkel ist und keine Bäume auf dem tristen Vulkanstein wachsen. Ich steige aus dem Flieger, ziehe die schwefelige Luft ein, und die kleine Christine schaut aus dem Autofenster, sieht einen Regenbogen und fühlt sich gleich angekommen. Ich spüre die Energie der Vulkane und die stolze Eigenständigkeit dieses abgelegenen Flecks Erde, das frei und verbunden mit dem Rest der Welt ist. Denn Island ist supermodern und am Puls der Zeit, auf jeden Fall die Hauptstadt. Die Einwohner machen hier gefühlt alle ihr Ding, da kann ich was lernen.
Ich steige für die erste Nacht im Land, noch vor dem Retreat, in einer WG auf der Hauptstraße Reykjavíks ab. Als ich den Besitzer frage, wie es ihm gehe, antwortet Matti: »Ach, ich fühle mich gerade wie der Wind.« Und schon fliegt er die Treppen hinunter, um irgendwo in der Natur zu sein. Genau das habe ich nun auch vor: eine Woche nur in der Natur sein. Wandern, meditieren und träumen. In dem Land, wo die Einwohner die Extreme lieben: Softeis im Winter und danach ein Bad im 42 Grad heißen Thermalbecken, in denen sie den neuesten Klatsch austauschen. Jeder kennt fast jeden ein bisschen, behaupte ich jetzt mal. Die Isländer würden mich nun tadeln und sagen: »Christine, du bedienst Klischees!« Aber ich habe es so erlebt.
Hier blühe ich auf, wo die Menschen Lehrer sind, nebenbei Krimis schreiben und zusätzlich einen Kaugummiautomaten betreiben. Ich glaube, das brauche ich, dass jemand mich nicht schräg anguckt, wenn ich nicht nur einen Beruf ausüben möchte, wenn ich mich mal wie die Sonne oder der Wind fühle und wenn ich sage, dass ich Elfen spüre. Gleich an meinem ersten Tag hat sie mir Matti gezeigt, in einem Grünstück, das niemals bebaut werden würde, weil hier eben die Elfen und andere unsichtbare Wesen leben. Ich habe sie nicht gesehen, aber wieso sollte es sie nicht geben? An diesem Ort zu sitzen und zu meditieren hat sich besonders angefühlt, so als würde mich jemand permanent kitzeln. Aber die meisten Menschen werden für verrückt erklärt, wenn sie etwas fühlen, das für andere nicht sichtbar ist. Mir ist das mittlerweile egal, denn ich vertraue nur noch dem, was ich wahrnehme. In Nepal habe ich für kaum etwas den Beweis geliefert bekommen, weder für die Existenz der Hölle noch für das Nirwana. Und genauso wenig konnte mir jemand erklären, warum in diesem Land Menschen ein siebenjähriges Mädchen als Arbeitssklavin verkaufen, für vierzig Euro im Jahr. Diese Welt ist unerklärlich, finde ich.
Ich bin dankbar, dass meine Reise in Nepal begann, denn das hat mich nachhaltig auf den Boden gebracht. Zum ersten Mal in meinem Leben habe ich wirklich bewusst erkannt, wie privilegiert und frei ich bin. Meine Eltern haben mir nie etwas vorgeschrieben, mir hat es nie an materiellen Dingen gefehlt, ich bin topfit und ich kann überall hinreisen. Ich kann meinen Partner, meinen Wohnort und meinen Beruf frei wählen. Ich darf entscheiden, ob ich blonde oder rote Haare haben möchte. Sogar meinen Namen und meine Religion kann ich mir aussuchen. Mein Ausweis und mein Gepäck werden überall auf der Welt immer durchgewinkt. Ich bin frei, nur will ich mich auch so fühlen.
Hier auf Island liegt Freiheit in der Luft. In einem Land, wo der Boden außer ein paar Wikingerschlachten kein Blut aufgesogen hat. Wo die emanzipiertesten Frauen leben, was auch immer das heißt und wer das nun wieder mit Studien belegt hat. Wo die Natur in Ruhe gelassen wird und die kleinen Pferde (niemals »Pony« sagen, es sind keine Ponys) selbst entscheiden, wen sie aus dem Sattel werfen.
Hier also verziehe ich mich mit einer Gruppe für eine Woche in eine Holzhütte mitten in die Wildnis im Osten der Insel.
Ich teile mir ein Stockbett mit der amerikanischen Dame Rose, die so freundlich ist, dass ich sie manchmal gar nicht greifen kann. Ab und zu kommt auch Sigrun bei uns vorbei und fummelt an dem Telefon an der Wand herum. An Tag drei atmet sie auf und murmelt vor sich hin: »Okay, so funktioniert also das Notfalltelefon.« Ich erzähle es keinem. Sigrun hat auch vergessen, wo überall in dieser Hütte unser Essen für die nächsten Tage gelagert ist. Sie hat es im Winter per Motorschlitten hierherfahren lassen, weil das einfacher ist, als es im Sommer runterzutragen, dann hat sie alles unter den Betten und in Schränken verteilt wie Ostereier. Und nach und nach entdecken wir Nudeln, Kichererbsen und Müslitüten. Auch das erzähle ich keinem, (denn glücklicherweise bekommt niemand der anderen Teilnehmer etwas von Sigruns und meinen Funden mit), damit hier nicht die Panik ausbricht. Wir sind eh angehalten, zu schweigen. Heißt es nicht immer, man müsse die persönliche Komfortzone verlassen, um zu wachsen? Ja, aber wir haben hier schon genug Herausforderungen. Wenigstens will ich gerettet werden können, wenn ich mir hier ein Bein breche. Das ist ja zum Glück jetzt, wo das Nottelefon benutzt werden kann, kein Grund zur Sorge mehr.
Wir stellen uns unseren Ängsten, suchen unsere Träume und wandern im Schweigen. Das bringt viele an ihre Grenzen. Ich flippe aus, weil das Wasser nur dafür reicht, dass jeder einmal in dieser Woche duschen kann und es heute nur Trockenfisch und Kichererbsen gibt und weil ich keine eigenen Vorräte mitgenommen habe. Ich fange wie ein kleines Kind an zu heulen. Nanu? Ich wundere mich über mich selbst und kann es nur damit erklären, dass ich über Nacht zwanzig Jahre jünger geworden bin. Maria, eine junge Schwedin, überlässt mir sofort ihre Dusche und ihre Süßigkeiten. Und ich schäme mich ein wenig, dass ich alles sofort annehme. Aber etwas Sicherheit muss her. Ich weiß nicht, warum. Doch ich habe Angst, dabei soll ich nur träumen und meiner Sehnsucht folgen, die ja schon seit Jahren anklopft.
Wir tauchen hier nachts tief in unsere Träume ein und schauen sie uns am nächsten Tag an. Wenn man sich vornimmt, sich an seine Träume zu erinnern, und wenn man sie gleich am nächsten Morgen aufschreibt, dann bleibt etwas. Und wenn es nur eine Farbe oder ein Gefühl ist. Die Kursleiter Jana und Christian sind erfahrene Therapeuten, die uns mit Meditation und Traumanalyse nach dem Schweizer Carl Gustav Jung, einem Schüler von Freud, knacken wollen. Man verbringt wohl nachts mindestens zwei Stunden träumend. Insgesamt sind das sechs Jahre während eines gesamten Lebens. Ich behaupte sogar, dass mir manchmal das Leben wie ein Traum vorkommt und der Traum wie das Leben, und ich frage mich oft: Was ist denn nun eigentlich die Realität?
Ich erfahre: Träume behandeln alle Themen, die momentan wichtig sind. Sie geben versteckte Hinweise auf gegenwärtige Probleme und auch auf ungelebte Ressourcen. Und davon, so vermute ich, hat jeder eine ganze Menge!
Wir malen die Traumfetzen auf, an die wir uns am nächsten Tag noch erinnern, und sprechen darüber. Ich kann nicht malen, spreche aber trotzdem über die Strichmännchen und Farbklekse auf meinen Bildern. Und was da so rauskommt, ist, dass in mir ein kleines Mädchen im Käfig sitzt, obwohl es frei sein könnte. Trotzig wirft dieses Mädchen in der Pause Steine in den Fluss, verweigert sich der Tageswanderung und ist von Christian genervt, der alle Befindlichkeiten aufs Ego schiebt und über mich lacht, weil ich seine Regeln nicht akzeptieren kann. Dazu gehört eine Redezeit von zehn Minuten. Ich mag keine Regeln, ich habe mich zu lange angepasst.
»Ich rede so lange, wie ich will!«, sage ich. Und Christian lacht wieder, findet mich wohl niedlich. Ich will aber ernst genommen werden. Also rede ich lieber mit den Schafen als mit den Menschen – und träume in der Nacht, dass ich mit Zwillingen schwanger bin, einem Jungen und einem Mädchen. Und das Absurde daran: Ich hole die Kinder immer heimlich raus und stecke sie dann wieder rein. Sie können schon laufen, aber geboren werden sie nicht. Ich wundere mich über mich selbst, was ich so alles kann. Und ich muss sagen, dass Jana und Christian ganz kluge Einschätzungen meiner Lage parat haben. Ich erkenne, dass sie für uns die Rollen fürsorglicher Eltern übernehmen, was sie sehr gut machen. Sie riskieren, auch doof gefunden zu werden. Und wir können einfach mal wieder nur spielen. Sie weisen mich darauf hin, dass ich in mir meine weibliche und männliche Seite gerade zusammenpuzzle und meine Ideen längst reif sind, um rauszukommen. Ja, jetzt hört sich das alles logisch an. Aber man muss erst mal hinter die absurde Fassade dieses Traums kommen. Und Jana, ein engelsgleiches Wesen mit langen blonden Haaren, sagt mir etwas, das meinen inneren Widerstand sofort schmelzen lässt und mich zum Weinen bringt: »Jetzt bist du schwanger, also pass gut auf dich auf. Kümmere dich um dich und deine Babys und lass sie dann auf die Welt kommen.«
Ich fasse mir an den Bauch und komme endlich mal zur Ruhe. Ich lege mich in mein Bett und mache nichts. Nicht mal schlafen, einfach ruhen. Das habe ich seit Jahren nicht geschafft. Alles schiebe ich auf meine »Schwangerschaft« und nicht auf Faulheit oder Erschöpfung. Und ich frage mich: Wer oder was hält mich eigentlich davon ab, meine Babys rauszulassen? Das kann ja nur ich selbst sein.
Als hätten die Kursleiter meine Gedanken gehört, stellen wir uns am nächsten Tag unseren Dämonen. In einer geführten Meditation sollen wir uns unsere größten Ängste vor dem inneren Auge vorstellen. Sofort bäumt sich vor mir ein roter, fauchender Drache auf. Er ist zum Fürchten, aber ich finde ihn auch cool, weil er so viel Energie hat. Ich glaube, meine Angst hat auch nur Angst.
Die Übung geht damit weiter, dass wir mit dem Dämon sprechen sollen. Mal fragen, was er wirklich will und von uns braucht. Ich hake beim Drachen nach, und er hat sofort eine Antwort: »Ich will deine Liebe!« Ich frage ihn, wie ich die rüberschicken kann, und er will mein Blut durch einen Strohhalm trinken. Gut, das machen wir so, und ich werde immer größer und stärker, der Drache schrumpft. Und siehe da, plötzlich verwandelt sich das Ungetüm in einen kleinen, schlauen Igel mit Brille, der sich hinsetzt, Pfeife raucht, mich anschaut und fragt: »So, Christine, wo soll es denn nun hingehen? Ich berate dich, ich bin dein Wegweiser.« Der Igel ist mir gleich sympathisch, er passt irgendwie zu mir. Bis auf die Pfeife. Vorsichtig bin ich auch, dennoch zielstrebig. Wir sind sofort Freunde, aber das kann man eigentlich niemandem erzählen.
Wir gehen in den nächsten Tagen öfter zusammen spazieren und schmieden Visionen, Zukunftspläne und Wünsche. Er ist immer da, wenn ich eine Hand auf mein Herz lege. Dann spüre ich den Puls im Körper und dass es keinem Gesetz, sondern eher einem Strom folgt. Den kann ich nicht steuern, sondern nur leben. Der Igel und ich sind uns bald einig, dass ich viel ändern werde, und es soll damit beginnen, dass ich meinen Job kündige.
Übrigens, eins der Schafe, mit dem ich besonders viel Zeit verbringe, war über Nacht Mutter von Zwillingen geworden. Ich muss wohl jetzt nicht dazusagen, dass es ein Junge und ein Mädchen waren, wie in meinem Traum. Die anderen machen noch viel abgefahrenere Erlebnisse und bewegen mich alle mit ihren Geschichten. Die junge Schwedin, das erfahre ich dann, ist Waise. Sie hat ihre Eltern bei einem Unfall verloren und fasst gerade wieder Lebensmut. Mein Herz hüpft jedes Mal vor Freude mit, wenn ich sie lachend über die Wiese rennen sehe, und ich gebe ihr die Süßigkeiten zurück. Meine liebe Zimmergenossin Rose, schon über siebzig Jahre alt, entdeckt in ihren Träumen ihr Klavier wieder. Sie hatte es für ihren Mann in den Keller geräumt und bekommt jetzt schon leuchtende Augen bei dem Gedanken, es zu entstauben und dann wieder in die Tasten zu hauen. Es gibt noch so viele berührende Geschichten von meinen Weggefährten, doch ich habe versprochen, ihre Träume nicht mit anderen zu teilen. Zu schnell werden solche magischen Momente zerredet und entwertet. Aber ich trage sie immer noch in meinem Herzen und habe in jeder Geschichte auch einen Teil von mir nachempfunden: Angst vor dem Scheitern, fehlende Kraft, Selbstzweifel, Unsicherheit, neue Hoffnung, gewagte Wünsche und diese vielen Stimmen in einem. Ich bekomme eine Ahnung davon, dass wir nie alleine mit unseren tiefsten Sorgen sind.
Es bestärkt mich zu wissen, dass meine Träume eine eigene Sprache haben und auf kreative Weise zu mir sprechen. »Träume lügen nie«, sagt Jana. Und ich ärgere mich, dass ich den Botschaften nicht schon früher gefolgt bin. »Träume urteilen nicht und haben keine Moral. Sie zeigen dir Schatten oder Teile von dir, die du ignorierst.« Ich glaube nun, was Künstler und Kreative von anderen unterscheidet, ist, dass sie in den sprichwörtlichen Keller gehen und schauen, was sie da für Leichen, aber auch Schätze haben. Dann öffnen sie die Truhe und lassen alles raus, was ja extrem verletzlich macht, aber am Ende können sich so andere in den Erfahrungen und Gefühlen wiederfinden. Keiner möchte sich allein fühlen. Und Träume wollen uns letztlich nur ausbalancieren. Und wir alle haben noch Hühnchen zu rupfen mit anderen Menschen. Habe ich schon erwähnt, dass ich mich einfach nicht mehr bei dem Mann gemeldet habe? Er war raus aus meinem Leben, aber präsenter als je zuvor in meinem Inneren. Ich wollte nicht mehr darauf warten, dass sich an unserer Beziehung etwas ändert und die Verbindlichkeit einzieht, denn das tut es ja selten, wenn man klammert. Ich glaube an keine Ausreden mehr. Und wenn sich der andere nur sporadisch meldet, dann liegt das nicht daran, dass der Handyakku ständig leer ist. Doch es ist das eine, jemanden auf den Mond zu schießen, das andere sind die Erinnerungen, die bleiben. Und meist sind dies ja die schönen Momente der Zweisamkeit: die zarten Berührungen, gemeinsames Lachen und Hand in Hand durch Hamburg laufen.
Zum Glück bin ich jetzt nicht alleine. Unsere Leiter kümmern sich auf so liebevolle Art und Weise um uns alle, dass wir uns gleich adoptieren lassen wollen. Zwischendurch üben wir mit dem Gruppenleiter, der auch Meditationslehrer ist, aus der tibetischen Tradition kommt und dessen Lehrer der Lama aus dem Kloster in Nepal ist (Zufall?) liebende Güte, eine meiner Lieblingsmeditationen für das Mitgefühl. Dabei schickt man Liebe und gute Wünsche an sich selbst, an seine Liebsten und dann an die schwierigen Menschen in seinem Leben. Eine wunderbare Übung, weil ich diese Liebe an den Kern der Menschen schicke und ich mir vorstelle, wie sie wären ohne ihre komischen Eigenarten, die sich auch nur durch Verletzungen gebildet haben. So entwickele ich Mitgefühl für mich und andere. Ich glaube, dies ist stärker als Liebe – oder ist es die wahre Liebe?
Der Gruppenleiter liest uns auch oft aus der Biografie von Dipa Ma vor, einer buddhistischen Lehrerin mit einem stolzen Weg. Die Inderin war eine Hausfrau, die zwei Kinder und ihren Mann verlor – vor Kummer wurde sie sehr krank und begann aus Verzweiflung zu meditieren. Dies heilte und erleuchtete sie. Ihre Geschichte beruhigt mich, denn insgeheim habe auch ich Angst, dass mir Schicksalsschläge das Leben rauben. In diesem Fall schenkte es Leben. Sie gab ihr Wissen vor allem an andere Hausfrauen weiter und motivierte sie mit ihren Worten: »Du bist zu allem in der Lage, was du tun willst. Das Einzige, was dich abhält, ist dein Glaube, du könntest es nicht.« Mich beeindruckt diese Frau, und ich lerne fast lieber von ihr als von Männern in Roben und mit Titeln. Dies wirkt auf mich authentisch: eine Frau, die mitten im Leben aufwacht und andere inspiriert, die nicht wochenlang ins Kloster gehen können. Ich werde spontan geflutet von Liebe. Und mir wird auch klar, dass man so einen Weg zu sich immer auch für andere geht. Denn nur durch eigene tiefe Erfahrungen kann ich andere wieder inspirieren und mitnehmen.
In meinem Zustand der »Schwangerschaft« sehne ich mich natürlich danach, nicht allein zu sein. Ich lasse mich von einem der männlichen Teilnehmer, er heißt Jeppe, öfter in den starken Arm nehmen, und wir ruhen uns zusammen aus, schauen den Sternenhimmel an, und alle meine Hoffnungslampen gehen an. Jeppe ist wortkarg und geheimnisvoll, aber immerhin spricht er in der Gruppe über seine Gefühle und rührt in seiner emotionalen Suppe. Das finde ich ja schon mal attraktiv. Außerdem beruhigt er mich durch seine stille Anwesenheit. Und am letzten Abend sehen wir am Nachthimmel ein Polarlicht aufleuchten. Es ist ganz zaghaft, erst nur wie ein schmaler Strich, und öffnet sich dann für einige Sekunden zu einem Farbenmeer. Magisch werde ich in dieses Licht gezogen und verschwinde darin. Als ich wieder auftauche, sage ich: »Wow, was für ein tolles Pink!« Und Jeppe sagt: »Nein, das war doch grün!« Hätten wir besser weiter geschwiegen, für diesen Moment der Erleuchtung hätte ich ihn nicht gebraucht.
Auch dieses Retreat endet in Harmonie, und ich schwebe mit strahlenden Augen raus, voller Zuversicht. Ich will lebendig sein und mich gleichzeitig sicher fühlen. Ich will meine kindliche Kreativität nicht verlieren, aber ebenso eine starke, moderne Frau sein. Ich glaube, dass es für mich gilt, noch einmal richtig erwachsen zu werden. Und frei sowieso. Eben hüpfte ich noch über Mooshügel, weil mein inneres Kind danach verlangte, bald muss ich Rechnungen bezahlen, Entscheidungen treffen und sie dann auch durchziehen.
An irgendeinem Punkt zerspringt die Retreatblase so richtig. Besser, das vorher zu wissen. Bei mir war das spätestens dann, als ich mit Jeppe nicht mehr auf der Wiese, sondern in einem Hotelzimmer liege und die Idee von uns beiden wie eine zu sehr vorher durchgeträumte Illusion zerplatzt. Ich habe gar keine Lust auf ihn, sondern eher auf den Hamburger Mann, und er erzählt mir, dass er sich eigentlich in die junge Schwedin verliebt habe. Ich bin enttäuscht und atme gleichzeitig auf.
Am nächsten Tag ziehe ich wieder bei Matti in der WG ein, und der Mann verschwindet. Und ich werde sauer auf mich, dass ich nicht gleich gemerkt hatte, dass dieser Mann quasi eine Kopie meines Ex-Freundes ist, charakterlich wie optisch, nur mit dunkleren Haaren, und somit eine Zeitverschwendung. Ich hänge wohl in dem Muster fest, dass ich auf unnahbare Männer stehe. Das ist mir nun klar. Aber wie ich da rauskommen soll, weiß ich nicht.
Einsamer als je zuvor wälze ich mich in meinem Bett. Ich träume darin schlecht, von meinem Ex-Freund in Hamburg. Nichts klappt, keine meiner Meditationsübungen. Schwanger fühle ich mich auch nicht mehr, aber mir bleiben noch wie Wochen im Lieblingsland.
Ich fliehe in mein Lieblingscafé in Reykjavík mit der Sonnenterrasse, auf der einem eher der Wind kalt ins Gesicht bläst. Das war mir gerade recht. Durchgepustet werden, aufwachen! Ich habe lang genug in einer Fantasiewelt gelebt.
An der Café-Pinnwand entdecke ich einen Flyer, auf dem steht, dass ich in einen magischen Bus einsteigen kann, der mich zur Kakao-Zeremonie bringt. Klingt traumhaft. Ich steige ein und werde wenig später an einem Sommerhaus mit See abgesetzt. Im Raum sitzen rund zwanzig Frauen. Und komischerweise fühlt es sich so an, als würde ich sie bereits kennen. In solchen Momenten sagen manche spirituell interessierte Menschen, dass sie sich aus früheren Leben kennen. Ich finde das genauso kurz gedacht wie Auralesen, Schutzedelsteine um den Hals und Engelkarten. Ich meine, das ist alles ja gut und schön, aber ich möchte nicht so ein Mensch sein, der sich ständig vor negativen Einflüssen schützen muss und für den alle nicht-empathischen Menschen Energievampire sind. Ich will auch keine Engel um Rat fragen, sondern selbst genau wissen, was ich will.
Ich möchte einen besonderen Moment nicht bedeutender machen, indem ich ihn erkläre. Aber immerhin kann ich sagen, und das hört sich vielleicht auch esoterisch an: Obwohl ich hier niemanden kenne, komme ich nach Hause. Ich setze mich neben Aki, und mir gefallen sofort ihre unrasierten Beine und dass sie zur Begrüßung rülpst. Diese Isländerin aus dem Klischee-Bilderbuch sieht aus wie ein Model, aber es ist ihr egal. Augenblicklich legt sie einen Arm um mich, und ich schwöre, sie hat sofort gespürt, wie einsam ich mich wirklich fühle. Ohne etwas dazu zu sagen, was mich in diesem Moment genervt hätte. So sitze ich da und trinke Kakao. Denn das ist es, was wir heute gemeinsam machen: Kakao trinken und meditieren, ehrlich von uns erzählen. Ich kenne das ja bereits und weiß, wie es ist, in solchen Runden über mich zu sprechen. Und meine Stimme bleibt mir dabei immer weniger weg. Dieser Kakao schmeckt anders als alle anderen, die ich vorher getrunken habe. Bitter, dick und porös wie eine Schaufel Erde. Aber er soll angeblich magische Kräfte haben, erzählt die Gruppenleiterin. Sie hat ihn aus Guatemala von einem Kakao-Schamanen. Und dieser wiederum erhielt die Heilpflanze von den örtlichen Maya. Die Kakaobohnen haben nie eine Maschine gesehen und sind keine hybriden Züchtungen. Auch wurden sie nicht von Kindern aus sklavischer Arbeit in Afrika geerntet. Das bedeutet, dass man hier von einem fairen Superfood sprechen kann, das angeblich wirklich glücklich machen soll durch einen Cocktail aus Theobromin, Kalzium und noch mehr als tausend weiteren Wirkstoffen. Roher Kakao enthält so viele Antioxidanzien und Magnesium wie kein anderes natürliches Lebensmittel. Das Phenethylamin sorgt wohl dafür, dass man sich ein bisschen wie verliebt fühlt. Es soll im Kopf klar und wach machen sowie das Herz ein wenig höher pulsieren lassen. Die ungesättigte Fettsäure Anandamid wurde bisher nur in Kakao nachgewiesen und soll für Freude sorgen. Das klingt für mich wie ein Zaubertrank! Der Kakao wird einfach im Wasser geschmolzen wie Schokolade und roh getrunken. Den bitteren Geschmack kann man sich mit Honig oder Zimt versüßen.
Nach drei Schlucken rutsche ich komplett in mein Herz und ertrinke darin. Die Tränen fließen, und ich lache gleichzeitig, damit die anderen nicht denken, es ginge mir schlecht. Wie kann in einem so grundfröhlichen Menschen, der immer auf sein lautes Lachen angesprochen wird, Traurigkeit wohnen? Sie muss alt sein, beschließe ich!
Ich halte eine Hand auf mein Herz und sage laut »Aua«. Ups! Aber ich habe echte Schmerzen. Und ich bin fast froh, dass ich den Kummer fühlen und verorten kann. Dann muss ich ihn doch auch beseitigen können!
Keiner lacht, alle schauen mich liebevoll und offen an.
»Ich fühle mich einsam, obwohl ich gerne allein bin«, sage ich. Und schon allein es einfach nur zu sagen, tut gut. Ich glaube, das habe ich noch nie getan, aber es ist authentisch und befreiend. Die Leiterin spricht in meine stummen Tränen: »Wir sind doch niemals allein, erinnere dich!« Simpel gesagt, aber mir geht es schlagartig besser, und mein Herz fühlt sich seit langer Zeit endlich nicht mehr kalt, sondern warm an. Tatsächlich spüre ich, dass mein Herzschlag leicht erhöht ist, mein Blut schneller pulsiert und mein Kopf sich hellwach anfühlt, die Gedanken klar. Ich fühle mich zusätzlich voller Energie und Tatendrang. Dieser Kakao schießt mir durchs Blut. Das Gefühl kenne ich: Es stellt sich ein, wenn ich leicht verliebt bin oder mich besonders auf etwas freue und irgendwie alles gut ist. Das ist es aber doch nicht, denke ich. Oder doch?
Die Harmonie im Raum kann ich greifen. Jede Frau erzählt einfach frei, was ihr so auf dem Herzen liegt. Endlich fließen die Tränen bei mir ohne Scham weiter. Einen ganzen Nachmittag verbringen wir gemeinsam, sprechen über unsere Gefühle und nehmen uns am Ende in die Arme. Danach laufen wir alle nackt und kreischend in den kalten See, um zu baden. Als ich mich schlotternd abtrockne, fühle ich mich bestärkt und wie neugeboren. Außerdem finde ich an diesem Tag zwei neue Freundinnen, Aki und Soley. Schwestern, so fühlt es sich sofort an.
Ich buche meinen Flug um, wie fast immer auf meinen Reisen, und ziehe bei Aki ein. Ihr neun Jahre alter Sohn Bjarne muss noch zustimmen. Er checkt mich kurz ab und sagt dann, ich könne sein Zimmer bewohnen, wenn ich sein Schlagzeug nicht anrühren würde. Deal. Ein verrücktes, freies und harmonisches Leben startet. Mit Aki hält es kaum jemand aus, weil sie so authentisch ist und einfach immer macht, was sie will. Dabei kratzt sie an den Grenzen des Egoismus, finde ich. Nachdem sie als Model gearbeitet und ein spießiges Familienleben nach der Norm geführt hatte, brach sie einfach aus. Seit der Trennung und seitdem sie in bunten Gewändern ohne BH rumläuft und andere in Yoga unterrichtet oder mit den Händen heilt, wird sie für verrückt erklärt, sogar ihre Mutter wollte ihr schon den Sohn wegnehmen. Aki sprach im Radio öffentlich darüber, dass Frauen ihre Vagina heilen müssten und dass sie selbst viel dafür getan habe, um nun wieder befreit Sex zu haben, da sie als junge Frau missbraucht worden war.
Über das Thema Sex reden wir auch viel. Aki ist schamlos, was ich bei Frauen selten erlebe. Ich kann ihr alles erzählen, und sie packt ebenso aus. Ich fühle mich trotz allem, was man ihr vorwerfen könnte, einfach nur wohl bei ihr und erlebte sie in wichtigen Momenten immer bei völlig klarem Verstand und wirklich anwesend. Sie redet nie schlecht über jemanden, obwohl viele schlecht über sie reden. Sie gibt nie jemandem die Schuld für irgendetwas. Sie traut mir alles zu und lässt mich komplett unbewertet, und ich sie. Nur einmal, als ich in Selbstmitleid versinke, sagt sie zu mir: »Liebes, wir sind alle so abgefuckt!« Und ich lache befreit, weil sie es ernst meint und recht hat.
Ich liebe es, dass sie morgens erst einmal nackt im Wohnzimmer tanzt, ohne die Vorhänge zuzuziehen, und unter der Dusche irgendwelche Laute produziert. Ihr Sohn, ein kleiner Spießer, reagiert mit seinen eigenen Tönen wie ein Walbaby auf seine Mutter. Ich stehe mal bei so einem »Gespräch« mitten zwischen den beiden und bekomme überall Gänsehaut. Was für eine schöne Verbindung von Mutter zu Sohn!
Wenn Aki meditiert, dann spielt Bjarne für sich, ohne sich zu beschweren, denn er weiß, dass Mama danach wieder ganz für ihn da ist und ihn ansonsten einfach machen lässt. Er komponiert kleine Lieder und zaubert mit einem Zauberstab. Na, wenn das so sein kann, will ich auch Kinder. Wenn ich für sie nicht mein eigenes Leben aufgeben und sie mit dem Schnuller im Café ruhigstellen oder mich irgendwelchen Krabbelgruppen anschließen muss. Okay, ich erwähne jetzt mal nicht, dass Aki ihren neunjährigen Sohn sogar Vespa fahren lassen wollte, aus lauter Vertrauen und Regelfreiheit. Irgendwann sagte Bjarne dann, das sei nicht erlaubt, also sei es besser, er fahre mit dem Rad zur Schule. So war die Sache ja auch geregelt.
Ein Kumpel von Aki war schon oft kurz davor, für verrückt erklärt zu werden. Aber ihm verzeiht man wohl eher als Aki, weil er ein alleinstehender Mann ist und auf seinem Waldgrundstück, wo auch schon Björk eines ihrer Lieder geschrieben haben soll, jede Menge psychedelischer Pilze wachsen, die er sehr gern selbst isst. Aber wen soll man da bestrafen, wenn die Natur die kleinen Dinger vor die Haustür stellt? Immer wenn wir ihn besuchen, fackelt er gerade ein riesiges Feuer ab oder hackt Holz im Wald. Wir haben immer ein bisschen Angst vor ihm und dieser Axt, sind aber trotzdem gern in seiner Nähe, weil es lustig ist. Und jedes Mal erzählt er mir: »Du könntest mich jetzt mit der Axt umbringen, ich hätte keine Angst zu sterben, so frei bin ich.« Ich denke lange darüber nach. Außerdem sagt er mal: »Gestern hatte ich in meinen Träumen Sex mit dir, jetzt ist das auch erledigt.« Das lasse ich dann mal so stehen, Aki lacht einen Tag darüber. Ich finde es ein bisschen übergriffig, denn was ist ein Traum und was ist das Leben? Gefragt wurde ich nicht. Außerdem plädiere ich dafür, Träume auszuleben.
Ab und zu empfängt Aki Botschaften für mich von ihren unsichtbaren Begleitern, die alle sehr hilfreich scheinen. Meistens ist sie sogar zu egoistisch, mir diese mitzuteilen. Einmal sitzen wir im Café, sie legt sich gerade die Karten, und ich muss mich mit mir selbst unterhalten, weil sie gerade so in ihrem Flow ist. Plötzlich schüttelt sie sich, als müsste sie einen Parasiten loswerden, und sagt: »Jetzt nicht!« Ich frage, was los sei, doch sie schaut gar nicht auf und erklärt nur: »Oh, Liebes, ich kriege gerade eine wichtige Botschaft für dich.«
Ich reiße die Augen auf, sie legt weiter Karten. »Das ist doch wichtig«, sage ich ungewohnt forsch. Da schaut sie genervt hoch. »Okay, es geht um deinen Liebeskummer. Ich soll dir sagen, dass du den Typen vergessen sollst. Es geht auch gar nicht um ihn, sondern du suchst eigentlich immer Männer, die genauso unnahbar sind wie dein Vater. Du denkst, das sei normal. Aber das ist es nicht, und schon gar keine Liebe, kapier das endlich!« Erstarrt sitze ich da und schnappe nach Luft. Wie ein Igel rolle ich mich ein. Und Aki packt nun doch das Mitgefühl. Sie stoppt ihren Flow und drückt mich an ihre riesigen Brüste, Stacheln hin oder her. Sie sagt: »Liebes, dieser Mann geht schlafen, und du wachst auf. Lass dich nicht aufhalten!«
Am nächsten Tag schickt sie mich zu einer weisen, alten Frau. Es kommt mir so vor, als habe hier auf Island jeder so eine Frau zur Hand, die einem hilft. Keine Therapeutin, auch keine Wahrsagerin oder selbst erklärte Heilerin oder Schamanin. Einfach eine weise Frau. Mir gefällt das System, und ich rufe sie gleich an, um einen Termin zu vereinbaren.
In der Nacht träume ich wild, und ein kleines Mädchen erscheint mir. Sie sieht mir ähnlich und fragt fordernd mit Panik in den Augen: »Was ist passiert, als ich sieben Jahre alt war?« Ich kann ihr keine Antwort geben, aber die Frage macht für mich aus einem unerklärlichen Grund Sinn. Irgendetwas war da geschehen, ich erinnere mich nur nicht.
Am nächsten Tag fahre ich zu der weisen Frau und denke, ich würde in einer Waldhütte landen. Stattdessen spuckt mich der Bus in einer spießigen Reihenhaussiedlung aus, und eine ganz herkömmliche Dame im Rentenalter, die genauso gut auf einem Kreuzfahrtschiff Bingo spielen könnte, öffnet die Tür. Ich kann nicht sagen, dass sie mich besonders herzlich empfängt, dafür aber mit Klarheit. Das Erste, was sie sagt, bevor überhaupt ein Wort aus meinem Mund fällt, ist: »Endlich kommst du.« Und dann fragt sie direkt noch: »Christine, was war denn jetzt, als du sieben Jahre alt warst?« Ich habe ihr bei unserem vorhergehenden Telefonat nichts erzählt von meinem Traum, ebenso wenig habe ich ihn Aki gegenüber erwähnt. Ich schlucke und erhole mich, bis wir beide in einem kleinen Raum Platz genommen haben, ich auf einem schwarzen Ledersofa, sie auf einem passenden Sessel davor.
Sie schaut mich aus stahlblauen Augen an und lässt mich damit nicht los. Immer wieder fragt sie mich diese Frage. Wahnsinn.
»Ist da jemand gestorben?«, fragt sie.
»Nein!«, antworte ich verzweifelt – und einige panische Atemzüge später fällt mir die Antwort ein. »Ich wäre fast gestorben!«, bricht es aus mir heraus. Auf diese Information reagiert die weise Frau erleichtert und froh. »Das ist es!« Sie hatte seit unserem Telefonat nach einer Antwort gesucht. Jetzt konnte sie loslegen.
»Ja, das ist es, was dir Angst gemacht hat. Du warst dem Tod als Kind so nahe, hast Dinge gesehen, mit denen du nicht umgehen konntest, und dann hast du einfach alle Kanäle dichtgemacht!«
Ja, ich hatte als Kind eine Routine-OP, mir wurden die Mandeln rausgenommen, und dabei wäre ich fast verblutet. Jahre zuvor bin ich einmal fast im Teich ertrunken. Ich erinnere mich jetzt daran, dass ich im Krankenhaus mindestens zwei Tage lang Panik hatte und mir niemand helfen konnte. Alle dachten, ich sei von der Narkose etwas durchgeknallt oder würde träumen. Ich musste da sehr einsam gewesen sein. Das sollte mir noch nachhängen? Interessant. Doch ich merke, dass allein durch die Erinnerung und die Bestätigung, dass meine Erfahrungen alle wahr und kein Traum waren, innere Ruhe in mir einkehrt.
»Jetzt fasse Vertrauen in deine Wahrnehmung und öffne dich dem Leben!«, rät mir die weise Frau.
Gleichzeitig entgeht ihr natürlich auch nicht, dass mein Herz gebrochen ist. Sie schiebt für dieses Thema ihre Brille auf die Nasenspitze und rät mir ungefragt, diesem Mann und mir selbst zu vergeben, dass das mit uns nicht geklappt hat. Dafür müsse ich mir final eingestehen, dass es wirklich vorbei sei. Ich will es versuchen, auch wenn ich daran zweifle. In mir drinnen spüre ich diese magnetische Anziehung, diese Sehnsucht und sehe tatsächlich ausschließlich die positiven Aspekte dieses Mannes. Alle anderen finden ihn nur schrecklich, vor allem für mich. Ich nicht, das ist das Problem. Sie sagt mir, dass er auf meiner Leitung stehe und ich niemand anderen kennenlernen würde, wenn ich nicht alle Verbindungen zu ihm trennen würde.
»Ich sehe ihn doch gar nicht mehr«, protestiere ich panisch. Sie winkt gleich harsch ab, richtig herzlich ist sie ja nicht. Aber klar und überzeugend, das macht sie authentisch.
»Hast du aus deiner Wohnung alle Spuren von ihm entfernt?«
»Ja!«
»Bist du sicher?«
»Ja!« Sie zweifelt und schaltet sich in mein System. Ihre Augen suchen.
»Nein, da ist noch was in der Küche. Ein Magnet, den er dir geschenkt hat. Den wirfst du sofort weg!« Sie hat recht. »Am besten wickelst du ihn in Alufolie und vergräbst ihn.« Ich bin an dem Punkt, alles zu tun. Auch komische Dinge.
Zum Schluss bekomme ich noch einen Rat von der weisen Frau mit auf den Weg: »Du solltest immer vierzig Tage warten, bis du mit jemandem Sex hast. Das ist die richtige Zeit, um den anderen kennenzulernen. Wenn du einmal körperlich verbunden bist, ist es für dich schwieriger, klar zu sehen und dich emotional zu trennen, falls es nicht passt.« Ich finde vierzig Tage erst viel, und dann doch nicht. Wenn ein Mann nicht einen Monat und zehn Tage warten kann, dann ist er vermutlich auch nicht wirklich an mir interessiert.
Ich glaube, da müssen noch ein paar Meditationsrunden vergehen und noch ein paar Kakaos getrunken werden, um diese Stunde bei der weisen Frau und diese Traumreise zu verarbeiten. Fürs Erste brauche ich Erholung von dem ganzen Selbstfindungskram und mache Quatsch, wie um Mitternacht mit Aki im Fluss zu baden.
Ich treffe mich auch mit meiner zweiten neuen Schwester Soley, die mich in allen meinen Ideen bestärkt. Wir verstehen uns so gut, weil wir beide aus demselben Material gestrickt sind. Wir sind auf der einen Seite sehr sensibel, flippen in lauten Räumen innerlich aus und brauchen viel Zeit für uns. Auf der anderen Seite sind wir Macherinnen und werfen uns immer wieder ins Leben, trotz der Durchlässigkeit, mit der dünnen Haut. Ewig werde ich ihr dankbar sein, dass sie einfach komplett an mich glaubt und keinen Zweifel zulässt. Ich brauche solche Menschen, es gibt zu viele Zweifler, vor allem in mir selbst. Obwohl sie lange blonde Haare hat, ist sie nie süß. Sie kann sogar sehr harsch werden und nur noch in Ausrufezeichen reden, wenn meine Selbstzweifel sich wieder melden: »Natürlich interessieren sich andere für deine Erfahrungen, fang endlich an, ein Buch zu schreiben! Keine Ausreden mehr!« Und: »Du musst deine Erfahrungen weitergeben und anderen Meditation beibringen! Schau mal, wie weit es dich schon gebracht hat! Es wäre egoistisch, das für sich zu behalten!« Man kann und darf ihr nicht widersprechen. Und ganz oft sagt sie zu mir: »Sei ehrlich zu dir selbst!«
Das nervt, aber ich finde es gleichzeitig wichtig, denn wie oft mache ich Sachen, die ich nicht will oder sage nicht, was ich wirklich, wirklich denke und fühle. Aus Angst vor Ablehnung oder einem Konflikt. Aus Angst, dass mich jemand sieht und dann kaputtmacht.
Manchmal macht sie mir sogar etwas Furcht, wenn sie mich zurechtweist und ihr schönes Gesicht eher männlich aussieht. Aber sie erklärt dies damit, dass sie mich in unseren früheren gemeinsamen Leben auch öfter mal umgebracht habe. Aber die meiste Zeit waren wir wohl Schwestern. So fühlt es sich jedenfalls für mich an. Und Schwestern zanken sich, die Grundliebe bleibt. Ich lerne von ihr, dass ich es nicht immer allen recht machen sollte und Konflikte befreiend sein können.
Ich liebe diese isländischen Frauen, die einfach nicht zu bremsen sind, nicht an Magie und nicht an sich zweifeln. Ich bin jetzt eine von ihnen und sehe auch so aus. Wach und voller Träume.
Und damit ich das alles nicht vergesse, bastle ich mir, zurück in Hamburg, eine magische Box, male sie golden an und packe alle meine Träume da rein. So, als seien sie schon real. Ich schreibe also alles so auf, als sei es bereits in meinem Leben. Ich fühle es. Ich versiegele die Box und stelle sie auf meiner Fensterbank in meiner Wohnung in die Sonne. Zum Wachsen.
»Wenn du etwas ganz fest willst, wird das ganze Universum darauf hinwirken, dass du es verwirklichen kannst«, so steht es in Der Alchimist, einem meiner Lieblingsbücher. Ich würde die Traumbox am Ende der Reise öffnen. Wenn ich Träumerin deswegen für verrückt erklärt werde, macht mich das stolz.