Читать книгу Wo geht´s denn hier zu mir? - Christine Dohler - Страница 8

Kapitel 1 STERBEN, UM ZU LEBEN

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Stress und Ruhe zugleich, das kann klappen. Ich stecke in einem Taxi im Stau von Kathmandu fest. Draußen herrscht Chaos pur. Ich presse mir die Hand wie einen Mundschutz vors Gesicht, weil mir von den Abgasen schwindelt. Es bleibt eine Hand für ein Ohr frei, um nur das halbe Hupkonzert hören zu müssen. Der Fahrer scheint gelassen, obwohl klapprige Busse fast in uns hineindonnern und freche Mopedfahrer uns anhupen. Voller Vertrauen bahnt er uns einen Weg, Stück für Stück. Kühe wühlen unbeeindruckt in Plastiktüten am Wegesrand, nur die Hühner gackern beim Müllpicken.

Bei dem ganzen Trubel ist es ungewohnt still in mir. Ich muss im Kloster ankommen, weiter nichts. Mein sonstiges Leben habe ich wegorganisiert.

Es hat Jahre gedauert, bis ich endlich eine Reise unternehme, die in die Stille führt. An einen einzigen Ort. Und zwar nicht, um das Land und die Leute kennenzulernen, sondern ich folge eher meiner inneren Landkarte, die mich ins Leben bringen soll. Ein Kompass wäre jetzt noch gut, denn klar ist mir der Weg nicht.

Wie lange habe ich mir ausgemalt, mal aus allem rauszukommen, endlich abschalten zu können und einfach nur ich selbst zu sein, was auch immer das bedeutet! Etwas Neues über das Leben zu lernen, Gleichgesinnte zu treffen und zu schweigen. Mir selbst zu lauschen. Ich arbeite als Journalistin, und Worte sind sonst mein Revier, doch ich bin bereit, mich etwas Neuem hinzugeben: der Stille und den Lehren des Buddhismus.

Dafür kappe ich den Kontakt zu Familie, Freunden, Auftraggebern und zu dem Mann, bei dem ich gar nie weiß, ob wir überhaupt zusammen sind. Es scheint so, als würde man ab einem gewissen Alter nicht mehr darüber sprechen, ob man ein Paar ist. So bin ich einfach gefahren, als wäre ich Single, und habe ihm gesagt, dass ich erst im kommenden Jahr wieder erreichbar bin. Das klang so schön dramatisch, dabei ging es nur um ein wenig mehr als vier Wochen. Es ist ja schon Ende November. So lange checke ich in ein Kloster ein, das unter der Schirmherrschaft des Dalai Lama steht. Seit ich den berühmtesten Tibeter der Welt im Rahmen einer Pressekonferenz getroffen habe, lassen er und seine Worte mich nicht mehr los. Darüber hinaus hatte ich noch eine wundervoll berührende Dokumentation über die Suche nach der Reinkarnation eines großen Lehrers aus diesem Kloster in Nepal gesehen. Der engste Schüler des Lamas, also ein sehr hoher buddhistischer Gelehrter, begab sich nach dessen Tod auf die Suche nach der Wiedergeburt seines Lehrers. Dabei gab er nicht auf, obwohl er fast verzweifelte. Schließlich folgte er seiner Intuition und fand einen kleinen Jungen in einem Bergdorf an der Grenze zwischen Tibet und Nepal. Verblüffend, wie eng die Beziehung der beiden von Anfang an schien. Und der außergewöhnlich schlaue Kleine bestand alle Tests, die ihn als Reinkarnation des hohen Lehrers auswiesen. Der Dreijährige wählte zum Beispiel aus mehreren Gegenständen wie Gebetsketten zielsicher die aus, welche mal dem Lama (also ihm selbst im letzten Leben) gehört hatten. Ob man nun an ein Leben nach dem Tod glaubt oder nicht, dieser Film rüttelte an mir auf der Suche nach dem wahren Leben. Denn der Tod gehört, auch wenn er als Feind gilt, zum Zyklus dazu. Und gegen eine Wiedergeburt habe ich nichts einzuwenden. Aber erst mal gilt es, diesem Leben auf den Grund zu gehen.

Das Taxi schlängelt sich inzwischen einen Berg über der Stadt hinauf, und ich fühle mich, als würde ich in einen Elfenbeinturm reisen, raus aus der Welt – oder geht es in Wahrheit mitten hinein?

Der Taxifahrer fragt mich aus seiner Grundgelassenheit heraus: »Bist du gekommen, um zu meditieren?« Ich nicke, und er brummt ein »Mhm!«. Es hört sich ein bisschen so an, als ob er sich wundert, warum wir Menschen aus dem Westen dies besonders nötig haben und deswegen von so weit her anreisen. Doch das ist meine Interpretation des Moments.

Die Sonne färbt sich sekündlich immer röter, und ich halte meinen Rucksack auf den Knien fest, der alles enthält, was ich aus meinem alten Leben mitgenommen habe: ein paar funktionale Kleidungsstücke, mein Tagebuch und mein Mobiltelefon. Letzteres wird mir als Erstes abgenommen.

An der Klosterrezeption empfängt man mich routiniert. Ich hatte die Vorstellung, hier von nett lächelnden Nonnen herzlich umarmt zu werden. Doch ich bin eine von vielen, und die Nonnen sind in einem schäbigen Trakt weiter abseits untergebracht. Stattdessen nimmt ein gestresster Mönch kaum seinen Blick von der schier endlosen Teilnehmerliste und schiebt mein Handy in eine Plastiktüte, noch bevor ich eine letzte SMS tippen kann. Mein Kontakt zu Freunden und Familie in meiner Heimatstadt Hamburg verschwindet in einem Tresor, und ich fühle mich verloren.

Rund dreihundert Menschen aus der ganzen Welt reisen jedes Jahr zu diesem Kurs an, um für einen Monat die Philosophie des Buddhismus zu studieren und Meditation zu lernen. Ungefähr so viele Mönche und Nonnen aller Altersklassen leben hier permanent. Die Kleinen kommen meist im Schulalter ins Kloster. Für eine Familie aus Nepal verspricht es mehr als Glück, wenn ein Kind Mönch oder Nonne wird. Es garantiert ihm auch eine gute Ausbildung, ein Dach über dem Kopf und genug zu essen.

Da es nur wenige Klöster gibt, die sich westlichen Männern und Frauen öffnen, sind die Plätze für den Kurs heiß begehrt. Und die Zimmer vollgepackt. Der Mönch mit den Pausbacken muss gemerkt haben, dass ich gar nicht weiß, wo ich nun hingehöre und dass ich mir ein warmes Willkommen gewünscht hätte. Ich vertraue mich und mein Leben schließlich diesen Klostermauern an, die ich vorerst nicht mehr verlassen darf. Da schiebt er mir ein deutsches Schoko-Osterei über den Tresen. Ja, meine Vorstellungen von einem Kloster in Nepal kann ich auch gleich in den Tresor einsperren, sie sind nicht zu gebrauchen. Ein Osterei aus Deutschland im November, in Nepal, in einem Kloster? Passt alles nicht in meine Weltsicht, aber warum eigentlich nicht? Wo stehen die Regeln fürs Leben?

In Eile lotst der Mönch mich und das Osterei in meiner Hand an mehreren Gebäuden, gepflegten Gärten und goldenen Gebetsmühlen vorbei zu meinem neuen Zuhause. Ich versuche, ein Gespräch zu beginnen. Aus einem der flachen, orangegelb getünchten Häuser auf dem weitläufigen Gelände schallen fröhliche Kinderstimmen, die gemeinsam singen.

»Das klingt wunderschön, welches Mantra ist das?«, frage ich.

»Oh, die lernen nur das Abc«, sagt der Mönch nüchtern. Mein Gott, wie naiv von mir. Ich lasse das mit dem Reden, und wir kommen an meinem Gebäudetrakt an. Als ich das Zimmer betrete, in dem ich die nächsten vier Wochen schlafen werde, fehlen mir sowieso die Worte. Acht superschmale Pritschen stehen in einer dunklen, zugigen Abstellkammer. Sie ist nicht größer als eine durchschnittliche deutsche Küche. Es riecht nach einem chemischen Insektenbekämpfungsmittel. Ich mache alles mit, außer Bettwanzen – sage ich mir, denn den Mönch werden meine Befindlichkeiten nicht kümmern. Ich bin die Letzte, die in dieses Zimmer einzieht, deshalb bleibt mir das Bett direkt an der Tür mit löchriger Bettwäsche und einem Riss in der superharten Holzplatte, die der Lattenrost sein soll. Alle Schränke sind schon vollgestopft mit dem Zeug meiner sieben Mitbewohnerinnen. Ich hatte mich auf spartanische Verhältnisse eingestellt, doch das schaltet mich innerlich in den Jammermodus. Ich mag auch meine WG nicht, weil sich die Frauen so breitgemacht haben. Eine meiner Zimmergenossinnen, eine alte, resolute Dame aus Ungarn mit kurzen, rot gefärbten Haaren, sieht mein entsetztes Gesicht und schiebt mir wortlos-ruppig ein Regal aus dem Flur neben mein Bett.

Ich spurte hinter dem Mönch her, der schon mit wehendem orange-rotem Gewand wieder an die Rezeption geeilt ist. Ich frage außer Atem: »Gibt es noch irgendein anderes Zimmer? Ich schlafe überall, aber nicht da.« Er schaut nur kurz hoch, um ein ultimatives: »Nein!« rauszulassen. Und ich fühle mich, als hätte ich den ersten Verwöhntes-Ego-Test komplett nicht bestanden. Ein Klosterhund, der aussieht wie ein weißes Wollknäuel, kläfft mich verächtlich an. »Okay, okay, du Fußhupe, du hast ja recht, es bleibt mir nichts anderes übrig, als in diesem Bett zu schlafen. Ich mache es ja, sonst müsste jemand anderes leiden«, sage ich genervt zu ihm, er spricht zum Glück kein Deutsch.

Ist dies also Teil meines neuen Lebens: Opfer bringen? Oder positiv formuliert: Mit dem zufrieden sein, was man bekommt? Ich schlucke und schlurfe zurück. Mir kommen übermütigzufrieden wirkende Menschen mit bunten Yogahosen und Jutetaschen entgegen. Ich bin zu müde für alles und falle nach einer eiskalten Dusche zitternd auf meine Pritsche, auf der ich nach einer Stunde wieder aufwache – mit Muskeln so verkrampft und hart wie das Brett, auf dem ich liege. Um mich herum wuseln die anderen Frauen, alle aus verschiedenen Ländern. Wenn sieben Menschen in ihren Taschen wühlen, ist das laut, wie mir gerade eben demonstriert wird.

Unterschiedlicher hätte man uns nicht zusammenwürfeln können. Im Team sind: Tomke aus den Niederlanden, Yen aus Vietnam, Olga aus Ungarn, Sofia aus Neuseeland (lebt in Finnland), Liu aus China (lebt in den USA), Ann aus Australien und Evgenja aus Russland. Sie können nichts für mein hartes Bett und meine Entscheidung für ein neues Leben, und so lächle ich ergeben in die Runde.

Bevor wir uns richtig kennenlernen können, bekommen wir die Klosterregeln erklärt. Eine Nonne, die ursprünglich aus Schweden stammt, erwartet uns in der großen Meditationshalle mit einem sechs Meter großen goldenen Buddha im Rücken. In unserem neuen Wohnzimmer sitzen wir auf kleinen, quadratischen Matten und Meditationskissen. Ich habe kaum jemals einen bunteren und friedlicheren Ort gesehen: Girlanden und Lichter schmücken farbenfrohe Gemälde sowie Buddhafiguren, darunter liegen Opfergaben wie Kekse und Blumen, und ganz vorne sitzt der Dalai Lama auf einem Thron – als Bild. Sein Lächeln gibt mir Zuversicht – wie damals auf der Pressekonferenz, als ich ihm live begegnete und er mich auf diesen Weg stupste. Ich weiß jetzt wieder, warum ich hier bin: Ich will, dass mein Leben beginnt. Der Dalai Lama zählt auf mich – darauf, dass ich erst mich befreie und dann andere. Ich möchte die Weisheiten und Geheimnisse der uralten Religion ergründen und mit nach Hause nehmen. Und so folge ich meiner Sehnsucht, nicht dem Verstand. Würde ich jetzt auf ihn und seine zehntausend täglichen Gedanken hören, würde er laut schreien: »Ich will mein altes, bequemes Leben zurück.« Aber diese Reise nach innen, auf die ich mich nun ganz bewusst begebe, scheint bunt und verrückt zu werden, auch wenn die Regeln dafür wie Kieselsteine auf mich einprasseln: Anwesenheitspflicht beim täglichen Unterricht und den Meditationen, keinen Schmuck, kein Parfüm und kein Make-up tragen, keine Lügen, kein Töten (auch nicht von Mücken), kein Stehlen, keinen Alkohol, kein Tanzen, Knie und Schultern bedecken, Schweigen beim vegetarischen Essen, zwischendurch wird es sogar eine zehntägige Fastenzeit mit Dauerschweigen geben. Davon wusste ich nichts. Ja, und Intimitäten mit anderen sind ebenfalls nicht erlaubt. Ich erinnere mich noch genau an die Worte der hageren Nonne mit dem schroffen Ton, die vielen von uns gekonnt den Spiegel vorführt: »Ihr seid nicht hier, um die Liebe zu einem anderen Menschen zu finden. Ihr seid hier, um die Liebe in euch zu finden.« Das klingt im ersten Augenblick ernüchternd und dann seltsam befreiend. Natürlich habe ich schon längst in die Runde geschielt, und unter den dreihundert bunt gemischten Menschen waren auch mindestens drei attraktive Männer in meinem Alter dabei. Wie praktisch wäre es, hier nicht nur Erleuchtung, sondern außerdem gleich einen Partner zu finden, der sich wie ich mit sich und dem Leben auseinandersetzt. Einen Soulmate! Doch es erleichtert mich auch, dass ich mir darum erst gar keine Gedanken zu machen brauche, denn Flirten ist ja tabu. Und schließlich bin ich wirklich hier, um herauszufinden, was Liebe bedeutet. Was heißt es, sich in sein Leben zu verlieben? Wie fühlt es sich an, wenn die Art der Arbeit, Beziehungen und das Aussehen kaum Bedeutung haben, weil die Liebe in mir angelegt ist? Es wäre doch praktisch, wenn das lang ersehnte Gegenüber man selbst ist.

Am Ende der Einführung wird die Nonne noch sehr herzlich und zuversichtlich. »Ihr kommt von weit her, aus der ganzen Welt, weil ihr etwas in eurem Leben vermisst und weil ihr euch voller negativer Emotionen fühlt. Ihr seid am richtigen Ort. Es liegt nun an euch, was ihr aus diesem Monat macht. Er kann euch für immer verändern oder nicht.« In mir regen sich viele Gefühle, eine Aufbruchsstimmung, Ängste und Hoffnungen. Es fühlt sich komisch an, nicht erreichbar zu sein. Die Nonne erzählt, dass ein Mönch mal in ein Drei-Jahres-Retreat gegangen sei und dachte, dass nach Ablauf dieser drei Jahre einige Menschen in seiner Familie gestorben seien. Stattdessen waren zwei Kinder geboren worden. Wie überflüssig Gedanken doch sind. Zuvor hatte die Nonne schon erklärt, dass wir unseren Geist und seine Stimmungsschwankungen einfach beobachten sollen, mehr nicht. Es brauche vier Wochen, um ihn zu beruhigen.

Und so fängt das Lernen an. Ich registriere, wie mein Herz pocht, wie es mir vor der Nacht graut und wie ich gleichzeitig denke: Ach, Spaß finde ich überall.

Ich weiß nicht, ob es ein Regelbruch ist, aber am nächsten Tag nehme ich mein Schicksal in die Hand und schiebe dem Mönch, der für die Zimmerverteilung zuständig ist, eine Tafel Schokolade über den Tresen und sage ihm, dass er mich gerne informieren kann, falls ein Zimmer frei wird. Ich hätte gestern gehört, dass fünfundzwanzig Prozent der Teilnehmer in den ersten Tagen abreisen. Aus dem Recherchemodus meines Berufs Journalistin bin ich längst noch nicht heraus. Vollkommen egozentrisch wittere ich meine Chance und hoffe, damit mein Karma-Konto nur leicht zu ruinieren. Denn wo hört der Egoismus auf und wo fängt die Selbstfürsorge an? Er sagt nichts, nimmt aber die Schokolade. Ich habe sie im Klosterkiosk besorgt, der erstaunlicherweise auf die Bedürfnisse von uns verwöhnten Buddha-Touristen eingestellt ist. Hier wird für uns gesorgt, es gibt in den Regalen vor allem Süßigkeiten, Chips und Klopapier. Im angrenzenden Café stehen Burger und Schokokuchen auf der Karte für alle, die nicht jeden Tag Lust auf vegetarische Currys und Nudelsuppen haben. Was für ein Luxus! Aber das Essen aus der Klosterküche ist ganz wunderbar. Brot, Porridge, Erdnussbutter, Salate und Eintöpfe sind alle frisch und selbst gemacht. Ich muss nichts schnippeln oder spülen, und ich genieße jeden Bissen auf der Terrasse, von der man auf den Himalaja und den Himmel blickt. Hier fühle ich mich so frei wie die Vögel, die vorbeiziehen. Dazu lausche ich den Gesängen der Mönche, die von durchdringenden Trompetenklängen begleitet werden. Die Mönche und Nonnen leben ein bisschen parallel zu uns, sie haben uns die große Meditationshalle für den Unterricht ausgeliehen. Ihre Praxis sieht anders aus als unsere, manchmal, als hätten sie eine riesige Party gefeiert. Nach ihren Ritualen ist der Boden voller Reiskörner, überall hängen Girlanden und sind ausgetrunkene Saftpäckchen oder Chipstüten verteilt. Was sie genau machen, ist zu fortgeschritten für mich. Ich traue mich auch nicht, einen Blick in die magischen Schriften in der Bibliothek zu werfen, die nur erfahrenen Praktizierenden zur Verfügung stehen, obwohl ich schrecklich neugierig bin.

Einmal erstellen die Mönche fünfzehn Tage lang ein wunderschönes Mandala aus bunten Steinen, um es dann am Ende in den Fluss zu schütten. So zeigen sie, dass alles vergänglich ist, auch Schönheit. Also besser auch nicht daran anhaften! Was so viel heißt wie: nicht klammern und denken, dass der Glückszustand ewig währt.

Manchmal lehne ich mich einfach nur an die Wände der Meditationshalle, um die Vibration zu spüren, wenn die Mönche singen. Das Schweigen gefällt mir, besonders, da ich beim Essen keinen Small Talk führen muss. Mit einer Decke um die Schultern wärme ich meine Hände am heißen Reisbrei und denke mir, wie einfach das Leben sein kann. Das Glück dauert fünf bis zehn Minuten … und dann meldet sich schon wieder ein »Aber« in meinem Kopf. Bis die Zweifel und Fragen kommen, ist es schön. Dann frage ich mich immer mal wieder: Weshalb bin ich so getrieben? Wieso hocke ich hier und suche? Warum kann ich nicht in einem Eigenheim sitzen, mich über meinen Mann, meine Kinder und mein Auto freuen?

Nach dem Abitur dachte ich, ich würde während meines Studiums den Mann meines Lebens kennenlernen, mit ihm zusammenziehen, ihn heiraten, dann schwanger werden und zufrieden als Journalistin bei einem Magazin arbeiten. Und dann würde das Leben so laufen. Stattdessen scheiterte ich oft an meinen eigenen hohen Ansprüchen und fühlte mich innerlich nicht angekommen.

Gerade für mich als Frau ist es manchmal nicht einfach, die Balance zwischen Ehrgeiz, Sanftmut, Spaß, Karriere, Idealismus und Kinderwunsch zu finden. Ich stand dermaßen unter Druck, dass ich nachts meine Zähne so fest zusammenbiss und damit knirschte, bis einer durchbrach. Was bekommt man dagegen verschrieben? Eine Aufbissschiene, aber die Ursache war damit nicht geklärt. Da musste es noch mehr geben, war ich mir sicher. Aber wo? So zog ich von Mann zu Mann, von Ziel zu Ziel und nahm mich und meine engsten Freundinnen immer mit. Ich dachte, beim nächsten Mal wird alles anders. Aber das wurde es nicht. Und es machte mich zudem wütend, dass ich immer diejenige war, die sich selbst reflektiert. Im Gegensatz zu so manchen anderen Menschen in meinem Leben.

Hier im Kloster warte ich schon wieder darauf, dass etwas passiert, was meinen Schalter umlegt, und dass das Leben dann von selbst sprudelt. Ein Mitschüler im Kloster sagt zu mir: »Die meisten sind wohl hier, weil sie Probleme haben.« Das finde ich eine sehr simple Sicht der Dinge. Gilt man als problematisch, weil man nach mehr Tiefe im Leben sucht und die Gesellschaft hinterfragt? Ich lasse ja auch andere Fußball schauen und dazu Chips essen. Und ich frage auch nicht, ob sie glücklich sind oder resignieren. Ich kann nicht anders, die Sehnsucht pulsiert in mir, allem auf den Grund zu gehen. Immer tiefer einzutauchen mit der Lieblingsfrage aller Kinder: Warum ist das so? Ja, und wer bin ich eigentlich – wenn ich niemand sein muss? Der Dalai Lama war der Meinung, dass der Weg in die Welt bei einem selbst beginnt. Nach unserem Treffen in Hamburg nahm er meine Hände in seine Hände, drückte zu, schaute mir in die Augen. Und ich spürte so etwas wie einen Stromschlag und dass ich aus dieser Nummer nicht mehr rauskommen würde. Und so rassle ich jetzt freiwillig in meinen eigenen Tod.

Die Tage waren bislang vorbeigerauscht, in immer gleicher Abfolge. Die Regeln und die Routine, die mich sonst im Alltag so belasten, befreien mich hier. Es entsteht ein Rahmen, der mich hält. Und viel anderes gibt es für mich nicht zu tun, als darin präsent zu sein. Obwohl – doch: Vor Sonnenaufgang beginnt der Morgen mit Meditation, dann Frühstück, anschließend Unterricht in buddhistischer Philosophie, Mittagessen, Pause, wieder Unterricht, Diskussion in einer Kleingruppe über die Themen aus dem Unterricht (kurz gefasst: Karma, Ego, Ethik), Abendessen, Meditation und frühe Nachtruhe gegen 21 Uhr. Zwischendurch muss ich mich und meine Kleidung in eiskaltem Wasser waschen, einen Ort für meine Yogaübungen suchen, mir ein neues Bett organisieren, weil es in der fünften Nacht zusammenbricht, und, und, und.

Und dann sagt unser Lehrer eines Tages: »Heute sterben wir alle!« Das Thema Tod ist hier kein Tabu, das leuchtet mir ein. Fast jeden Tag erklärt einer unserer Lehrer eiskalt: »Denkt daran, ihr könnt jeden Moment sterben. Es ist auch schon passiert, dass jemand während des Kurses gestorben ist.« Sicher, das wird einem immer gesagt und steht auch in jedem Glückskalender: Carpe diem. Doch hier meinen sie es ernst und erinnern uns jeden Tag ganz deutlich daran, dass wir nicht unsterblich sind. Der Lehrer erzählt, dass eine Schülerin Nonne werden wollte und auf dem Weg ins Kloster war. Beim Stopover in Bangkok wurde sie ermordet.

Erst finde ich eine Meditation auf den Tod makaber, dann einfach nur ehrlich. Ich gewöhne mich daran, zucke dann aber doch innerlich zusammen, als es ernst wird. In einer geführten Meditation sollen wir den Prozess des Sterbens einmal durchleben, um für den Ernstfall gerüstet zu sein. Denn es sei unglaublich wichtig, im Moment des Todes bewusst und guter Dinge zu sein. Das entscheide darüber, wie glücklich unsere Wiedergeburt werde. Also, ob wir als Mensch oder Ameise weitermachen. Oder gar in einer der vielen Höllen landen. Ich schreibe das jetzt so lapidar, aber ich muss sagen: Ich glaube, da ist etwas dran. Ich finde, friedlich zu sterben ist wichtig. Außerdem habe ich das Gefühl, dass es weitergeht. Ich kann es nur nicht wissenschaftlich beweisen.

Und so sitzen wir alle auf unseren Meditationskissen und stellen uns vor, dass wir krank im Bett liegen und eine letzte Gelegenheit haben, reinen Tisch zu machen. Dazu bitten wir alle Menschen zu uns, mit denen wir noch etwas klären müssen. Es geht darum, zu verzeihen und um Verzeihung zu bitten. Es wühlt mich ganz schön auf, alle Ex-Freunde und ehemaligen Chefs in mein Zimmer zu bitten, wo ich geschwächt im Bett liege. Aber was gibt es in diesem Moment anderes zu tun, als zu vergeben und dem anderen alles Gute zu wünschen? Was ist wirklich wichtig im Angesicht des Todes? Mir fällt da nicht viel ein, außer ein letztes Mal Freude und Liebe im Herzen zu spüren. So setze ich mein bestes Lächeln auf und empfange erst alle Sorgenmenschen und danach meine Lieblingsmenschen. Ich schluchze laut, als der letzte geht, aber es fällt gar nicht auf, denn im Raum weint gerade jeder. Sogar die hartgesottensten Männer, die sonst die kritischsten Nachfragen stellen, wimmern neben mir. Ich würde gerne alle in den Arm nehmen, um mich abzulenken, aber ich habe mit mir zu tun. Nicht mehr lange und ich würde nicht mehr sehen können, darauf sollen wir uns vorbereiten.

Die letzte Person kommt jetzt zur Tür rein. »Und das seid ihr selbst!«, sagt der Lehrer. Ich bin geschockt. Als Letztes verabschiede ich mich also von mir – dem Menschen, der mir am nächsten steht. Und das haut mich wirklich um. Ich sehe mich, etwas abgekämpft, aber mit reinem Herzen, so viel Freude und Lebenshunger in den Augen. Ich rede mit sanfter Stimme und sehe dabei die Angst in meinem Blick: »Mach’s gut, es war schön mit dir.« Ich werde von Liebe geflutet und kann mich wirklich schwer trennen. Ich nehme meine Hände und bedanke mich, will gar nicht mehr loslassen. Doch der Lehrer sagt, es sei nun Zeit für den letzten Atemzug. Ein tiefes Ausatmen. Gruselig. Ich denke daran, dass alles mal mit dem ersten Atemzug begann.

Anschließend versagen nach und nach meine Sinne. Ich kann nicht mehr sehen, hören, riechen, fühlen, schmecken. Ich sehe nur noch nach innen und zum Schluss schaue ich in ein gleißendes, weißes Licht. Finale. Hierauf soll ich eine Weile meditieren. Wie auch immer das geht. Ich sehe nur diese Helligkeit und falle von dort in eine wunderbare Leere.

Erst als der Abschlussgong ertönt, erwache ich aus der friedlichen Versenkung. Ich spüre, dass ich noch einen Körper habe, denn meine Füße sind eingeschlafen. Ich atme erleichtert und beruhigt. So schlimm war es nicht. Ich stehe auf und gehe nach draußen, sobald das Blut wieder überall im Körper fließt. Ich habe mich selten so gefreut, die Sonne zu sehen, die Vögel zu hören, und ich kröne das Ganze mit einem Ingwer-Honig-Zitronentee im Café. Neben mir sitzt Sofia aus meinem Zimmer, und wir reden über unsere Erfahrung mit dem Tod. Ich erzähle ihr am Ende, dass ich so erleichtert bin, jung und gesund zu sein. Und ich verspreche mir in diesem Moment, mich immer wieder daran zu erinnern, wie sehr ich mich und das Leben liebe, diesen Augenblick. Egal, was kommt.

Die Finnin Sofia, so alt wie ich, schaut mich ruhig aus hellblauen, wachen Augen an, die wie Wasser fließen, und sagt, völlig ohne Verbitterung: »Ich bin unheilbar krank. Ich weiß nun, was auf mich zukommt.« Ich sage nichts mehr, denn in diesem Moment wäre jedes Wort zu viel. Mein Herz wünscht Sofia stumm alles Liebe und fühlt mit. Nach einer Weile denke ich: Ich lebe so arrogant vor mich hin, als wäre ich unsterblich. Warum eigentlich? Mich könnte es sogar früher treffen, schon heute Abend.

Sofia schlägt vor, die Reliquien zu besichtigen. In einem verschlossenen Raum, der nur zeitweise geöffnet wird, sind in Glasvitrinen die Überreste des verstorbenen Lama ausgestellt, den ich aus der Dokumentation über Reinkarnation kenne. Nach seinem Tod wurde er verbrannt, und der Asche entnahmen die Mönche kostbare Überreste. Sie sollen besonders schön sein. Ich erwarte Knochen, doch als wir den Raum betreten, trifft uns emotional der Schlag. Sofia und mir laufen stumm Tränen über das Gesicht, als wir uns anschauen, was von diesem Menschen übrig blieb: wunderschöne, farbige Perlen. Es ist unfassbar, aber die innere Reinheit des Geistes soll diese Perlen in den Knochen geformt haben, die im Feuer nicht verbrannten. Ein junger Mönch erzählt uns, dass die großen Lamas durch ihren Tod das Leben demonstrieren. Manche meditieren noch tagelang auf das weiße Licht am Ende des Lebenstunnels, während der Körper verfällt, um ihren Schülern zu zeigen, was Bewusstsein und Ewigkeit bedeuten. Sie sitzen dann um ihren toten Lehrer herum und spüren, dass er nicht ganz von ihnen gegangen ist, der Kern bleibt. Ich rede für den Rest des Tages nicht mehr, obwohl das strenge Schweigen noch nicht begonnen hat.

Vor mir sehe ich die Bilder der heiligen Verbrennungsstätten in Kathmandu, die ich kurz nach meiner Ankunft besuchte. Dort verbrennen Hindus ihre Verstorbenen auf einer Bahre im Fluss. Die Familie nimmt das selbst in die Hand, auch Kinder legen ein Holzscheit auf die leblosen Körper ihres Opas oder ihrer Tante. Wenn man zuschaut, sieht es aus wie eine bunte Totenfeier, weniger wie eine schwarze Beerdigung. Ich habe niemanden von meinen verstorbenen Verwandten noch einmal tot gesehen, und ein Beerdigungsinstitut hat alles erledigt. Jetzt kommt mir das nicht mehr stimmig vor.

Am Abend sitze ich mit Sofia im Klostergarten unter einem mit Gold verzierten Stupa, einem heiligen Bauwerk. Wir halten uns in den Armen und erholen uns vom Tod und vom Leben. Alles ist in diesem Moment, wie es ist. Ihre kurzen blonden Haare verstrubbeln im Wind, ihre weißen, kalten Finger ruhen in meiner warmen Hand. Sie riecht nach Meersalz und Rosen. Tiefe Liebe und Verbundenheit durchströmen mich. Zwischendurch muss ich über den Wahnsinn des Lebens lachen, sie stimmt mit ein. Meine Güte, wieso habe ich in der Schule so wenig über das Leben gelernt? Weshalb haben wir so viel Angst, wenn doch letztlich alles auf unserer Seite ist? Und wonach suche ich eigentlich noch? Habe ich sogar mehr Angst vor dem Leben als vor dem Tod?

Nach dieser intimen Nähe zu Sofia vermisse ich den Mann, den ich zuvor aus meinem Leben entlassen habe. War es ein Fehler, einfach zu gehen? Hatte ich zu früh aufgegeben? Hätte ich ihm einfach sagen sollen, dass ich ihn liebe – scheißegal, was er fühlt? Denn das war so. Mein Herz öffnet sich, wenn jemand ihm sehr nahekommt. Ich kann keine Affären, ich kann nur lieben. Wieso habe ich diese Angst, abgelehnt zu werden? Was haben seine Gefühle oder seine Reaktion mit mir als Mensch zu tun?

Ich bitte um eine private Audienz bei einem der Lehrer aus dem Westen und frage viele Dinge. Berufskrankheit! Etwa, woran ich erkenne, ob ich richtig meditiere. »Das wirst du daran merken, ob sich dein Leben verändert«, sagt Nil aus Israel gelassen, während er im Schneidersitz vor mir auf einer einfachen Bank hockt. Das finde ich sehr weise. Denn wer hat schon was von einem Menschen, der jeden Morgen meditiert und dann am Vormittag seine Mitarbeiter anschreit? Aber eigentlich will ich nur wissen, ob ich mit meinem Herzen bei diesem Mann in Hamburg bleiben soll oder nicht. Ich rede zwar mit einem Mönch, aber ich will es trotzdem wissen. Er sagt dazu mit Nachdruck: »Es spielt keine Rolle, ob du mit ihm zusammen bist oder nicht.« Darüber denke ich lange nach. Ich verstehe, was er meint, und dann wieder nicht. Natürlich ist mein Glück nicht davon abhängig, ob ich Single oder vergeben bin.

»Beziehungen sind eine große Herausforderung, denn da treffen zwei verrückte Egos aufeinander. Aber es ist auch eine wunderbare Chance, um daran zu wachsen«, sagt er noch. Ich kann nicht ignorieren, dass ich Entzugserscheinungen habe. Ich vermisse diesen Mann, und es zieht im ganzen Körper. Auch wenn ich mich in Eric aus meiner Diskussionsgruppe mit den wilden, dunklen Locken verlieben könnte und Sofia, mit der ich jede freie Minute verbringe, sowieso schon liebe. Der andere koppelt noch mit meiner DNA, er steht auf meiner Leitung. Seine starken Arme halten mich jede Nacht im Schlaf, obwohl ich Tausende von Kilometern entfernt bin und stur entschlossen, dass alles anders wird in meinem Leben. Auch mein Männergeschmack. Ich weiß, dass er zu unzuverlässig ist, um bei ihm zu bleiben. Dass er mich nicht so liebt, wie mich jemand lieben sollte. Aber erzähl das mal dem Herzen! Das ist ja nicht vernünftig und interessiert sich nicht für räumliche Distanz.

Meine Freundin Nina aus Hamburg nennt den Mann einfach immer nur den »Heiopei«. Da muss ich immer lachen, weil das Wort netter klingt als »Blödmann«. Gleichzeitig komme ich nicht von ihm los. Mein Herz schmerzt manchmal so sehr, dass ich laut »Aua« sage, wenn es keiner hört. Und ich verzeihe mir nicht, dass jemand so viel Macht über mich hat. Jemand, der sich fast immer danebenbenimmt, mich ständig versetzt. Ich bilde mir ein, dass ich auf sein Wesen schauen kann, und sehe da trotz allem nur sein liebevolles, wenn auch zugeschüttetes Herz und spüre seinen schönen Körper. Das konnten wir gut, zusammen nackt sein. Und verrückt sein. Und über alles reden. Mit ihm war jeder Moment aufregend, ich fühlte mich lebendig mit ihm. Alles andere war ein selbst gewählter Fluch. Bis nach Nepal folgte der mir jetzt. Verdammt!

So ist das wohl: Da geht man ins Kloster, und eigentlich sollte die Erleuchtung im Vordergrund stehen. Und doch will ich wissen, wie es mit der Liebe steht und wie das Leben nun genau weitergeht. Welcher Job, welche Freunde, welcher Wohnort, wie viele Kinder? Ich bin von diesem oberflächlichen, kontrollierenden Ich-Denken nicht frei. Ich schreibe sogar dem hohen Lama des Klosters, der nur für ein paar Tage zum Unterrichten vorbeikommt, einen Brief. Darin bitte ich extra nicht um eine tägliche Praxis, denn ich habe gehört, dass er dann manchen Schülern aufträgt, hunderttausend Niederwerfungen zu machen oder ein Mantra tausendfach zu rezitieren. Ich glaube, dass es hilft, um eine neue Perspektive auf das Leben zu bekommen und sich von Gedanken oder Anhaftungen zu befreien. Mir reicht vorerst die stille Meditation, bei der ich einfach gar nichts zu tun brauche. Ich würde mit solchen Aufgaben wieder zu sehr unter Druck geraten. Aber wenn der Lama einen Rat gibt, sollte man ihn befolgen, sonst kann man das mit seinem Karma gleich abhaken. Ich habe mir sagen lassen, dass ein Schüler die hunderttausend Niederwerfungen in vier Jahren schaffte und sich danach wie neugeboren fühlte. Eine junge Frau beobachte ich in jeder Pause, wie sie die Niederwerfungen ununterbrochen ableistet, was ziemlich anstrengend ist. Sie bekommt meinen vollen Respekt. Aber ich bin weder jemand, der murmelnd mit einer Gebetskette über den Hof geht, noch kann ich mich von allen wunderbaren Anhaftungen lossagen. Ich weiß schon, nichts ist von Dauer. Freunde kommen und gehen. Erfolge kommen und gehen. Vorbilder enttäuschen und von Schokolade bekomme ich Bauchschmerzen, wenn ich die ganze Tafel esse. Aber dieses Wissen vergesse ich immer wieder.

Mir reicht es gerade schon, an diesem wunderbaren Ort zu sein, um mich auszuruhen. Die Bewährungsprobe würde dann wieder in Hamburg beginnen. Ich frage den Lama in meinem Brief also, was ich in meinem Leben ändern sollte, um der Menschheit besser zu dienen und mehr Erfüllung für mich zu finden. Ich warte die ganze Zeit ernsthaft auf eine Antwort. Sie kommt nicht.

Stattdessen winkt mich der Rezeptionsmönch zur Halbzeit in seine Machtzentrale. Er sagt mir, dass ich heute noch in ein Zweierzimmer wechseln könne. Und ich staune über mich selbst, als ich sofort ablehne. Aber diese sieben Frauen um mich herum sind mein Halt und meine Wärme, das lasse ich mir nicht mehr nehmen. Nachts wird es zwölf Grad kalt im Zimmer, ohne die vielen Frauen wäre es locker Eiszeit. Und jede von ihnen hat schon längst mein Herz erwärmt. Nicht nur die tapfere, schöne Sofia.

Alle sind mit einem Rucksack angereist und sortieren ihre Sachen jeden Tag: Wut, Unterwäsche, Trauer und Socken. Laut. Aber ich lerne von jeder etwas, von ihren Geschichten, ihren Fehlern, ihren Macken, ihren Leidenschaften und ihrer Stärke. Olga aus Ungarn, die Mutterfigur in unserem Zimmer, wollte an Tag eins noch Nonne werden, sie hätte sich sogar das Haar abgeschnitten. Zugegeben, es war eh schon superkurz, aber als Frau eine Glatze zu tragen ist eine echt toughe Loslösung von der Anhaftung ans äußere Erscheinungsbild. Nach einer Woche gestand sie, dass sie doch nicht Nonne werden möchte. Nach zwei Wochen entschied sie, sich stattdessen einfach von ihrem Mann zu trennen. Nach drei Wochen polierte sie mit mir in der Pause Buddhas, um ihr Karma aufzubessern. Bei der zehnten von hundert Figuren entschied sie, ein Frauenhaus zu eröffnen. Ich konnte mir das sofort vorstellen.

Evgenja, Studentin aus Russland mit harscher Stimme, befolgte in der ersten Woche alle Regeln am allerallerstrengsten. Ich hätte ihr nie gesagt, dass ich einmal das Kloster verließ, um in einem ganz normalen Café zu sitzen und in Zeitschriften ohne Buddhas Lehren zu blättern. Am Ende kam raus, dass sie eine Affäre mit einem Mitschüler hatte. Mittlerweile sind sie verheiratet, was alles andere rechtfertigt. Finde ich.

Yen im Bett neben mir war mir anfangs immer suspekt, weil sie nicht viel sagte und Essen auf dem Fußboden hortete. Da lagen also zwischen unseren Pritschen Pfannkuchen und hart gekochte Eier. Ich glaube, sie hat das alles nie gegessen. Sie war superschlank und zierlich. Das Schwerste an ihr waren die langen dunklen Haare, die ihr makelloses Gesicht verdeckten. Irgendwann erzählte sie mir, dass sie keinen Pfennig Geld besitze und deshalb immer etwas Extra-Essen horte für das Gefühl, genug zu haben. Sie hatte ihren Job bei einem Charityprojekt und ihr Land für einen Mann verlassen, der sie mitnahm auf eine endlose Reise durch die Welt. Nun sind die beiden im Kloster und können gar kein richtiges Paar sein. Vielleicht waren sie es auch nie gewesen? Nach der dritten Woche fehlte das Essen neben meinem Bett, und es lag ein hastig geschriebener Zettel dort: »Meine lieben Freundinnen, ich hätte mich gerne noch von euch verabschiedet, aber ich musste weiter. Ich will mit Ben zurück ins Leben und schauen, ob wir eine Zukunft haben. Ich habe gemerkt, dass ich immer verbitterter werde. Das möchte ich nicht sein. Deswegen gehe ich, notfalls allein, weiter. Aber nicht ohne jeder von euch das zu wünschen, wonach sie sucht. Alles Gute für eure Lebensreise!« Ich las die Zeilen und weinte, voller Stolz, viele Nächte neben einer so starken Frau verbracht zu haben.

Dann lebt da auch noch Liu aus China in unserer Ein-Zimmer-WG, die sich als Einzige traut, nachts in diesem Raum zu masturbieren, die jeden zweiten Tag den Unterricht schwänzt, um in der Gegend allein wandern zu gehen, die unfassbar schöne Naturbilder voller liebevoller Details malt, deren Herzensmann irgendwo in Indien auf sie wartet, bis sie hier fertig ist mit der Selbstfindung, und die nie eine Sekunde an der Tiefe dieser Liebe zu genau diesem Mann zweifelt. Sie infizierte jeden von uns mit so viel Optimismus, dass ich es bis heute spüren kann. Jedes Mal, wenn mich Zweifel plagen und Ängste mich zurückhalten, höre ich ihre Stimme in meinem Ohr: »Wieso ist es dir eigentlich so wichtig, was andere von dir denken? Mach einfach. Schreib ein Buch, schreib einen Blog über deine Erfahrungen hier. Wer das nicht versteht, für den ist es nicht geschrieben.« Und zum Thema Männer erlebe ich Liu auch verblüffend selbstbewusst. Wenn wir Singles im Raum davon schwärmen, den Mann fürs Leben zu treffen, uns ausmalen, wie er uns erobert, schaut sie uns nur ungläubig an: »Also, ich habe mir bisher alle meine Männer selbst ausgesucht! Ihr könnt doch jeden haben, den ihr wollt.« Und wenn sie heimlich ihren Lippenstift und die selbstbewusste Haltung dazu auflegt, dann glaube ich ihr das auch. Obwohl sie nicht aussieht wie die Models, die uns so vorgesetzt werden. Oder gerade deshalb?

Mit Ann aus Australien bin ich zweimal aus dem Kloster ausgebrochen, weil sie dringend illegal ins Internet musste und eine Partnerin in Crime brauchte. Sie hatte jeden Tag Angst, dass sich ihr Freund von ihr trennen würde. Einmal schrie sie sogar mitten ins Schweigen: »Ich will mein Leben zurück!« Ich fand, das war eine authentische Aktion, und applaudierte innerlich. Aber ihre Besorgnis schien ganz unbegründet zu sein, denn ihr Freund schrieb, dass alles okay sei.

Und dann ist da noch Tomke aus Holland, die jeden Tag gewissenhaft ihre Augengymnastik übt, weil sie nach einem Burn-out mit Anfang dreißig einen Teil ihrer Sehkraft verloren hat. Nach zwei Wochen konnte sie sich selbst ein bisschen besser verzeihen, dass sie es so weit hatte kommen lassen. Nach Woche drei entschied sie, einfach weiterzureisen nach dem Kloster. Das alte Leben und die Arbeit, das hatte sie am weitesten von uns allen hinter sich gelassen, eine Rückkehr ist vorerst ausgeschlossen.

Und wie steht es um mich? Was erzählte ich eigentlich den anderen über mich? Wie würden sie mich hier beschreiben? Ann und Sofia lieben mein glockenhelles Lachen, sie baden sich gerne darin. Sie wissen zwar oft nicht, warum ich mich freue, aber ich habe meine Gründe und manchmal auch keine. Yen kann nicht verstehen, weshalb ich schreie, wenn ich eingeseift unter der Dusche stehe und noch nicht einmal kaltes Wasser kommt. Als ich unter meiner Matratze nachschaue, was da lebt, fragt sie nur: »Was sucht du, Christine?« Ich antworte ausweichend: »Erleuchtung!« Und ich stelle fest, dass sich Yen tatsächlich über nichts beschwert und nie schlecht über jemanden spricht. Karmisch und menschlich ist sie mir da weit voraus. Olga packt mich mal mit ihren starken Händen an den Schultern. Immer wenn sie etwas sagen will, nimmt sie vorher die Schleife, die wir als Symbol für selbst gewähltes Dauerschweigen tragen können, von ihrem T-Shirt und spricht dann erst: »Du brauchst einen starken Mann an deiner Seite, der dich wertschätzt. Vergiss das nicht!« Ich traue mich nicht, ihr zu widersprechen. Und Yen flüstert mal vor dem Einschlafen rüber: »Die Stärke, die du in mir siehst, ist ein Abbild von deiner.« Die Menschen um mich herum sind schon ziemlich weise. Und wie erfüllend ist es, wenn sich Frauen gegenseitig ihre Schönheit und Kraft spiegeln! Noch gibt es zu wenige Frauen, die offen als Lehrerinnen auftreten, sie wirken aber im Hintergrund. Aber der Dalai Lama kündigte bereits an: Er will als Frau im Westen wiedergeboren werden.

Die höchste Konzentration von altgedienter Weisheit versammelt sich in den Lamas, den buddhistischen Lehrern in einem Kloster. Dieses Kloster, in dem ich jetzt bin, wurde von zwei Lamas aus Tibet gegründet, die Ende der Fünfzigerjahre vor den Chinesen fliehen mussten, sich im indischen Flüchtlingslager trafen – und schließlich Anfang der Siebzigerjahre in Nepal den ersten Kurs gaben, mit fünfundzwanzig Teilnehmern aus dem Westen. Denn die beiden Lamas erkannten schon früh, dass ihre Lehren auch für uns wichtig sein können, man müsste sie nur etwas anders rüberbringen. Der Dalai Lama ermutigte sie dazu. Denn der westliche Geist tickt etwas anders, wir denken und zerreden viel mehr. Wir zweifeln und wir lassen uns nicht einfach darauf ein, stundenlang zu meditieren, ohne den Nutzen zu kennen und ein Ziel vor Augen zu haben. Gerade ich komme aus einer eher zynischen, zweifelnden und kritisierenden Welt. Journalisten vermeiden es meist, etwas gut zu finden, um unabhängig zu bleiben, was ja gut ist. Viele schreiben höchstens mal über Meditation, wenn es um Studien geht, die Stressabbau belegen. Alles andere bekommt den Stempel »zu eso«, also zu esoterisch. Was auch immer das bedeutet!

Die meisten Lamas waren schon einmal in einem CT und wurden von Kopf bis Fuß vermessen. Bei ihnen tickt irgendetwas anders, da stimmen auch die Maschinen zu. Aber die Technik kann bei Weitem nicht alles klären. Ich höre sehr gern Geschichten und Anekdoten über die Lamas. Alle haben ihre Eigenarten, was sie so authentisch macht. Einer der beiden Lamas, die dieses Kloster aufbauten, starb erst mit neunundvierzig Jahren, was einem Wunder gleichkommt. Denn die Ärzte hatten ihm ein kurzes Leben prophezeit: Er war mit einem Loch im Herzen geboren worden. Doch die buddhistische Praxis hielt ihn außergewöhnlich lange am Leben. Seine Schüler schwärmen bis heute von ihm, von seiner Freude und Güte. Von seinem großen Herzen, das anatomisch eigentlich nicht ganz war. Sie sagen, er hatte für jede Gelegenheit ein Mantra parat, mit einem putzte er sogar die Zähne. Besonders seine befreiten Lehrmethoden und sein unvergleichlicher Humor gefallen mir. Einmal bat er eine seiner begabtesten, aber schüchterne Schülerin (auch noch eine Frau aus dem Westen, das war nicht selbstverständlich!), ihn als Lehrer zu vertreten. Er wollte stattdessen für alle Kursteilnehmer kochen. Die junge Nonne schlug irritiert vor: »Lieber Lehrer, lasst mich doch bitte kochen.« Da sah er sie an und lächelte durch seine prominente Zahnlücke: »Liebes, du kannst doch gar nicht kochen!« Heute unterrichtet diese Schülerin im Kloster mit liebevoller Strenge und Selbstbewusstsein. Sie ist die Nonne aus Schweden, die uns ganz zu Anfang in den Kurs einführte.

Ich schaute mir vor meiner Reise alte Videos von seinen Lehren an und auch, wenn ich nicht alle Worte verstand, fühlte ich mich magisch angezogen und auf besondere Art berührt. So viel Güte, Freude und Liebe sprudelte aus diesem Menschen. Ich kenne kaum jemanden, der mich so anstecken kann mit Freude, abgesehen von Kindern. Ich hätte ihn so gern kennengelernt, und im Prinzip könnte ich es auch. Denn nach seinem Tod wurde auch die Reinkarnation dieses Lamas gefunden. Er wurde in Spanien wiedergeboren. Der Junge wurde zunächst im Kloster erzogen, verließ als Jugendlicher jedoch seine Ausbildung, um in der Welt zu leben, eine Freundin zu haben, ein Leben außerhalb des Klosters zu führen. Ich glaube, der verstorbene Lama hatte sich das genauso für sein Weiterleben vorgestellt. Mittlerweile ist er Anfang dreißig und unterrichtet seine Generation, postet auf Facebook und spricht vielen aus dem Herzen, tief verbunden mit der Tradition und der Essenz des Buddhismus. Das nenne ich authentisch und frei.

Auch dem noch lebenden Lama, seinem engsten Vertrauten, der heute über siebzig Jahre alt ist, kann ich in seinen stundenlangen Vorträgen nicht mit dem Verstand folgen, wohl aber mit dem Herzen. Er unterrichtet uns im Kloster immer nur, wenn er spürt, dass wir auch bereit dazu sind. Also, wenn wir auch wirklich Lust haben zu lernen. So sollen wir stets unsere Herzen dafür öffnen. Meist klappt es zu gut, und der Lama unterrichtet, manchmal acht Stunden ohne Pause. Anfangs versuche ich noch, aufmerksam zu folgen und mitzuschreiben. Doch nach einer Weile schließe ich einfach meine Augen und tanke die Energie, die mit den Worten mitschwingt. Natürlich auch, weil ich etwas müde im Kopf bin. Anfangs saß ich in den Pausen noch stundenlang in der Klosterbibliothek und versuchte, alles nachzulesen und zu begreifen. Aber ich spürte nach einer Weile, dass ich auch lernen kann, indem ich präsent aufnehme, von Herz zu Herz. So nehme ich die Medizin, die in den Lehren mitschwingt. Das ist auch der Grund, weshalb ich in an dieser Stelle keine buddhistischen Weisheiten und Lehren aufschreibe. Ich glaube, es ist besser, wenn jeder selbst danach sucht, was er über den Buddhismus wissen muss. Es gibt genug Bücher, Vorträge und Klöster. Dort kann man sich die Infos aus erster Quelle holen. Ich bin keine Buddhistin, ich komme nicht aus Tibet und ich durchdringe auch bis heute nicht gänzlich, was Karma bedeutet. Wird jemand ermordet, weil er selbst auch mal getötet hat?

Ich weiß nur, dass Meditation kein Hobby ist und dass ich es tatsächlich tun muss, nicht nur darüber reden. Und ich spüre, dass der Körper den Geist stützt und wir ihn deshalb ebenso trainieren und spüren sollten. In einer dieser Stunden, in der ich in der Meditationshalle sitze, entscheide ich mich, jeglichen Ehrgeiz aufzugeben und auch die Kopflastigkeit nicht auf diesen Weg, für den ich mich entschieden habe, mitzunehmen. Stattdessen vertraue ich darauf, dass ich das aufnehme, was ich kann und soll, dass ich keine Titel, keine Religion und keine Dogmen brauche. Ich glaube nicht an den Sinn des Zölibats für Frauen und wünsche mir, dass noch mehr Frauen inspirierte Lehrerinnen werden (können). Ich habe großen Respekt vor Weisheit und Freiheit und stelle nur eine Frage in der großen Halle: »Warum sind die Nonnen so viel schlechter untergebracht als die Männer und warum gibt es so wenige weibliche Lehrerinnen?« Ich bekomme keine zufriedenstellende Antwort.

Was ich vor allem von dem Lama lerne, ist Demut und Selbstlosigkeit. Immer wenn er die Meditationshalle betritt, wirft er sich vor der Buddhafigur und dem Bild des Dalai Lama rituell nieder. Ungeachtet, ob es ihn körperlich Mühe kostet, streckt er sich komplett auf dem Boden aus und richtet sich allein wieder auf, obwohl er durch einen Schlaganfall teilweise gelähmt ist. Einmal verlor er dabei seine Pantoffel, aber nicht seine Würde. Seine engen Schüler erzählen mir, dass er alle Wesen gleich behandle. Zu seinem Unterricht sind immer alle Straßenhunde und streunenden Katzen eingeladen, und sie kommen tatsächlich pünktlich. In den Pausen führen wir manchmal Ziegen um den Stupa, die der Lama vor dem Metzger gerettet hat. Um den Stupa zu gehen soll ja dazu führen, dass man freier wird. Was auch immer das bedeutet. Und wenn eine Ameisenstraße durch das Klostergelände verläuft, wird der Teil weiträumig abgesperrt und markiert.

Einmal war der Lama in einem besonders mückenreichen Gebiet in Indien unterwegs. Die Schüler richteten ihm sein Schlaflager (der Lama schläft nicht wirklich, sondern sitzt auch nachts aufrecht in Meditationshaltung, um keine kostbare Zeit zu vergeuden) und sicherten alles mit einem Mückennetz ab. Als einer in der Nacht nach dem Lehrer schaute, hatte dieser den Schutz abgenommen und sein Gewand hochgeschoben. Sein Rücken war schwarz vor Mücken, von denen er sich freiwillig stechen ließ – aus lauter Nächstenliebe. Jetzt werden einige den Kopf schütteln und erst recht achtlos eine Fliege zwischen den Händen erledigen. Bitte sehr! Ich mache das seitdem nicht mehr. Es ist meine Freiheit als Mensch zu entscheiden, wie ich handle. Und Töten kann ich vermeiden.

Dem Tod ausweichen, wenn er an die Tür klopft, das geht nicht. Sofia wird von Nepal direkt nach Neuseeland reisen. In das Land, in dem sie geboren wurde, um zu sterben. Mir fällt nach den vier Wochen mit ihr nichts Besseres ein, als sie mit einem herzlichen Lachen zu umarmen. Eine klare Ausweichhandlung, weil ich mit dem Abschiedsschmerz kämpfe. Das ist wohl der Preis, den ich zahle, wenn ich lebendig sein will. Wer im Fluss des Lebens schwimmt, wird auch nass. Sie drückt mir ein kleines Büchlein in die Hand, einen selbst gezeichneten Comic mit dem Titel Christines Suche nach der Ruhe. Die Geschichte beginnt so: »Es war einmal eine junge Frau mit goldenen Haaren und einem riesigen Lachen auf den Lippen. Sie brachte allen große Freude. Nur sich selbst nicht.« Mich hatte sie mit dem Einstieg schon. Und dann entwickelte sich die Story weiter, dass Christine im Kloster keine Ruhe fand, weil um sie herum alle anderen husteten, und in der Natur wurde sie beim Meditieren von einer Ziege gestört. Erst in einer einsamen Höhle fand Christine die Ruhe und damit die Weisheit und kehrte als alte Frau zurück zu den anderen Menschen, um ihre Lehrerin zu sein. Mit demselben Lachen, aber dieses Mal voller Weisheit. So geht das Märchen, in dem ich alt und weise werde. Und eine lachende Lehrerin.

Ich glaube, dass mich noch nie jemand in so einem schönen Licht gezeichnet hat. Und ich verspreche Sofia, diesen Weg irgendwie zu gehen, für uns, für alle Menschen, aber bitte nicht in einer Höhle. Ich sei ja keine Aussteigerin. Schon mitten in meinem Satz sagt sie: »Ich weiß!« Sie kennt mich. Ich verspreche ihr noch ohne Worte: Ich nehme dich in meinem Herzen mit. Unsere gemeinsame Reise endet hier, das wissen wir beide.

Bei meinem finalen Abschied aus dem Kloster lächelt mir der Mönch an der Rezeption noch einmal zu. Wir sind in den vier Wochen so etwas wie Freunde geworden, obwohl uns immer Welten trennten. Oft besuchte ich ihn in den Pausen auf einen Schokokeks, und wir philosophierten über das Leben oder scherzten. Er sagte dann so was wie: »Christine, ich verstehe Hochhäuser nicht. Warum bauen Menschen so etwas, weshalb setzen sie sich da freiwillig den ganzen Tag rein?« Ich wusste es auch nicht. Ich fragte ihn aus meiner Großstadt-Realität heraus, warum die Klosterhunde mich in der Dunkelheit immer aggressiv anbellen und am Tag sanft wie Lämmer von mir gestreichelt werden wollen.

»Ach, sie haben dich nicht gebissen?«, fragt er da.

»Nein!«, sage ich, die Augen weit aufgerissen.

»Normalerweise machen sie das. Sie denken, dass du ein Geist bist, wenn du nachts allein umherstreifst«, sagt er nüchtern.

Ich frage noch: »Wurde schon mal jemand gebissen?«

Er nickt nachdrücklich. »Und was habt ihr da gemacht?«

»Wir haben alle zum Arzt gefahren.« Ich pruste vor Lachen über diesen absurden Dialog, der Mönch nicht. Ich finde es bemerkenswert, dass noch nicht einmal bissige Hunde hier verurteilt werden. Und am Ende jedes Gesprächs sagt er zu mir: »Das Leben ist besonders, verschwende es nicht. Das wäre zu traurig.«

Zum Abschied fragt mich der Mönch jetzt, ob er mich in Deutschland besuchen könne, er wolle mal raus. Ich verstehe. Wir beide wissen, dass es nicht geht. Und ich frage ihn, wie er eigentlich heiße, ein reines Ausweichmanöver von mir. Dawa erzählt mir, dass er immer wieder Fluchtgedanken hatte, eine Zeit lang. Doch er blieb jedes Mal im Kloster, weil er merkte, dass er nicht anders könne. Eine tiefe Sehnsucht halte ihn hier. Nach einem Moment des Schweigens sagt er: »Na ja, ich kann auch noch im nächsten Leben die Welt bereisen.«

Kurz bevor ich aus den Klostermauern trete und die stinkende Großstadtluft schnuppere, fällt mir ein, dass der Lama meinen Brief nicht beantwortet hat. Er hatte doch fast vier Wochen Zeit! Etwas enttäuscht, aber nicht undankbar, setze ich mich ins Taxi. Ich nehme genug mit nach Hause in meinem Rucksack. Obendrauf liegen Zuversicht und eine unbändige Lebenslust. Was soll schon passieren? Ich kann nicht wirklich von dieser Welt fallen. Und wenn doch, geht es auch irgendwie weiter. Das hier kann nicht alles gewesen sein. Die Angst vor dem Tod steht hinter der Lust aufs Leben. Dazu habe ich jede Menge Demut und Hingabe an das Leben eingesammelt, man könnte es auch Vertrauen nennen, dass sich alles so entwickelt, wie es soll. Wenn ich es nur zulasse und endlich aufhöre zu kontrollieren. Meine Lehrer im Kloster haben es mir jeden Tag demonstriert. Und nicht nur sie. Ich glaube nicht, dass die Hunde und Katzen im Kloster in der Sonne lagen und grübelten, was morgen wohl passieren würde. Ein Hund würde nicht jammern, wenn er ein Bein verliert. Er lernt sofort neu, wie man läuft und dann weitergeht. Er lebt im Hier und Jetzt.

Und auch von meinen WG-Weggefährtinnen habe ich so viel gelernt: Danke Liu, dass du mir gezeigt hast, wie man sich frei und gleichzeitig mit anderen verbunden fühlt. Olga nahm mich zum Abschied auf ihre ruppig-charmante Art zur Seite und sagte: »Du weißt gar nicht, wie schön du bist. Schau endlich hin. Das ist doch sonst traurig.« Hab’s kapiert, keine Widerworte. Tomke, du Kämpferin, ich wünsche dir alles Gute in der Welt! Du hast mir gezeigt, wie man eine Krise mit Würde meistert. Ann, danke fürs gemeinsame Regelnbrechen ohne schlechtes Gewissen, das hat Spaß gemacht! Yen, Mrs. Angstlos, ich ziehe meinen Hut vor dir und denke bei jedem Pfannkuchen an dich. Evgenja, folge weiter deinem Herzen! Sofia, ich liebe dich sehr, danke für das schöne Gefühl. Wir sehen uns im nächsten Leben!

Zuletzt, und das kenne ich ja schon von der Sterbemeditation, komme ich zur Tür rein. Ich nehme mich in den Arm, wie eine Mutter, Freundin und Liebhaberin zugleich, und bin so stolz: Christine, ohne dich hätte ich das sicher nicht geschafft. Und jetzt: auf in das alte-neue Leben! Bequemes Doppelbett, Cappuccino mit Mandelmilch und Mädels mit Prosecco, ich komme! Und dann würde die Arbeit beginnen, meine neu gelernte Lebensweise fortzuführen, denn im Kloster ist es ja leicht, bei sich zu sein. Doch mal sehen, was passiert, wenn ich mein Handy wieder einschalte.

Im Taxi treffe ich auf einen anderen Fahrer, aber dieselbe Gelassenheit wie vor vier Wochen. Und in Kathmandu ist immer noch Stau. Als ich aus dem Fenster blicke, kehrt tiefer Frieden in mir ein. Fast hätte ich die Gedanken nicht hereingelassen, die plötzlich anklopfen, so trainiert ist mein Geist schon. Doch dann merke ich, dass da die Antworten auf all meine Fragen aus dem Brief an den hohen Lama eintrudeln. Klar, hätte ich mir denken können, er würde sicher nicht den normalen Postweg für seine Nachricht nehmen. Ich bedanke mich auf dieselbe Weise von Herz zu Herz und schmunzele. In mir kribbelt und prickelt es, voller Leben.

»Der Kurs beginnt, wenn du fährst« – das haben wir mit auf den Weg bekommen. Und ich weiß, was ich tun werde, wenn ich in Hamburg lande.

Wo geht´s denn hier zu mir?

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