Читать книгу Ein Engel ganz unten - Christine Engel - Страница 5
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Ein polterndes Geräusch ertönte und etwas klackerte gegen die Wände des Brunnenschachtes, auf dessen Grund eine junge Frau zusammengerollt auf der Seite lag. Ihr Körper war unbekleidet und schmutzig, die Haare waren zu einem Zopf geflochten. Das Klackern hörte auf und Staub rieselte über den Körper der Frau und vor ihr zu Boden. Jäh erwachte Linea aus ihrem leichten Schlaf und schlug die Augen auf. Rasch setzte sie sich auf und legte sich ihre Hand vor Nase und Mund, um den Staub nicht einzuatmen. Schließlich wusste man ja nicht, was da gerade durch die magische Barriere zu Staub zerfallen war. Nichts gelangte aus dem Brunnen hinaus oder hinein. Alles, was die Barriere berührte, wurde pulverisiert. Linea schüttelte den Staub so gut es ging aus den Haaren und strich ihn sich vom Körper. Viel half das nicht, aber sie fühlte sich danach besser. Sie sah sich um, konnte aber nicht viel erkennen. Etwas Dämmerlicht erhellte die rauen Steine der hohen Wände um sie herum und ein wenig Licht schaffte es sogar in der Mitte des Schachtes einen schwachen Lichtkreis im Staub zu bilden. Daran erkannte sie, dass draußen Tag sein musste. Linea konnte nur deshalb überhaupt etwas erkennen, da sich ihre Augen in der langen Zeit hier unten an die Dunkelheit gewöhnt hatten. Aufgewacht spürte sie die Kälte des Schachtes wieder und sie zitterte leicht und zog ihre Arme um die angewinkelten Knie und legte das Kinn darauf. Aber auch so wurde der unbekleideten Frau nicht wirklich warm. Sie schielte an den Wänden vorbei nach oben, aber sie konnte nicht erkennen, was das Geräusch verursacht hatte. Leise und vorsichtig stand sie auf, dann trat sie etwas dichter an den Lichtkreis heran und beugte sich leicht vor. Als das Licht ihr Gesicht traf, blinzelte sie hinauf. Normalerweise hielt sie sich von dem Lichtkreis fern, denn sie wollte nicht, dass sich jemand an sie hier unten erinnerte. Aber das Geräusch hatte sie neugierig gemacht. Was hatte das Geräusch verursacht? Wenn sonst etwas herunterkam, dann waren oben Dämonen und bewegten sich oder sprachen miteinander, aber jetzt war dort anscheinend niemand. Erneut sah sie den Schacht hinauf, konnte aber immer nichts erkennen. Nur der leichte Schimmer der magischen Barriere war zu sehen. Sie war immer noch da und verhinderte weiterhin ihre Flucht. Doch dann sah sie weiter oben in der Wand gegenüber eine Lücke. Dort mussten sich Steine aus der Wand gelöst haben. Wahrscheinlich waren diese Steine herabgefallen und dann von der Barriere zu Staub zermahlen worden. Aber warum waren sie herausgefallen? Wurde der Schacht instabil? Linea setzte sich wieder auf den Boden zurück und lehnte sich mit dem Rücken gegen die Wand. Hier unten wirkte alles in Ordnung. Außerdem waren es nur zwei Steine, die sich scheinbar gelöst hatten. Und selbst wenn der Brunnenschacht instabil werden würde, so könnte sie nichts dagegen tun. Linea schloss die Augen und versuchte dabei die Realität auszublenden. Sie wollte erneut in die Traumwelt zurück, aus der sie eben so unsanft geweckt worden war. Dafür rief sie sich das Gesicht ihrer Mutter in Erinnerung. Das half ihr stets, sich mit ihrer Situation hier unten abzufinden. Ihre Mutter war strahlend schön gewesen und hatte ein so wundervolles Lächeln besessen. Ihr Lächeln hatte immer den Zorn ihres Vaters besänftigen können und auch die Menschen um sie herum wurden stets ruhiger, wenn ihre Mutter gelächelt hatte. Auch Linea beruhigte es jetzt, auch wenn sie sich nur noch schwach daran erinnern konnte.
Als Kind hatte Linea mit ihren Eltern im Nordland gelebt. Linea lächelte in der Erinnerung an die wärmende Sonne über ihr und die kühle, grüne Wiese zu ihren Füßen. Ihr Vater war Leif Svenson, der Jarl ihrer Familiensippe gewesen. Er kam gerade von einer Fahrt mit seinem Langboot zurück und Linea lief ihm über den Steg entgegen. Sie lief so schnell, dass die Holzplanken unter ihren Füßen wackelten. Endlich würde sie ihn wiedersehen.
Das hölzerne Drachenboot war bereits am Steg angekommen und zwei Männer zurrten es vorne und hinten fest.
Leif Svenson, hörte seine Tochter den Steg entlang auf das Boot zulaufen und drehte sich zu ihr herum. Seine blaue Tunika flatterte an den Ärmeln durch die rasche Bewegung. Schon sprang mit einem Satz über die Reling und breitete die Arme aus, um seine Tochter aufzufangen, kaum dass seine starken Beine den Steg berührt hatten. Er war ein Bär von einem Mann. Der breite Gürtel über der Tunika unterstrich seine schmale Taille und die schmale Hüfte. Seine Hose war weit geschnitten und steckte in Stiefeln mit Fellbesatz. »Na, mein kleiner Sonnenschein! Was hast du wieder angestellt, während ich weg war?«
Sie lachte und schüttelte den Kopf. »Ich war brav, wie ich dir versprochen habe und bin immer bei Mama geblieben.«
»Das ist gut.« Seine Augen suchten hinter ihr die Mutter, die sich ebenfalls rasch dem Steg genähert hatte. »Stimmt das? War sie brav?«
Linea sah sich zu ihrer Mutter um und da war es dieses Lächeln.
»Ja, sie war immer bei mir und hat getan, was wir gesagt haben.«
Leif sah zu seiner goldblonden Tochter, dann zu den Männern hinter ihm, die bereits unruhig wurden. »Das ist gut, mein Schatz. Aber jetzt musst du auch wieder schweigen, bis wir im Haus sind.«
Artig nickte Linea ihrem Vater zu.
Damals hatte sie es nicht verstanden, aber heute wusste sie, dass er nur um sie besorgt war und das zu Recht. Schon schoben sich weitere Erinnerungen, düstere Erinnerungen in ihre Gedanken.
Er war Herbst und die Blätter der Bäume hatten sich bereits bunt verfärbt.
Sie war mit ihren Eltern zu dem halbjährlichen Markt zu dem Kaupang, dem Handelsplatz nach Norden gesegelt. Dafür waren sie den Fjord östlich von Stavern hinaufgefahren. Auf dem Markt wollte ihr Vater den gewonnenen Honig und die gewebten Tücher gegen Korn und eine Kuh eintauschen.
Es waren viele Händler anwesend und ein Stand reihte sich an den anderen. Die Händler boten ihre Waren feil und priesen immer wieder ihre Produkte an. Linea war an der Hand der Mutter umhergewandert. Glücklich hatte sie mit großen Augen alles um sie herum bestaunt. Es war das erste Mal gewesen, dass ihre Eltern sie mitgenommen hatten. Ihr Vater war schon vorgegangen und handelte gerade mit einem Mann. Linea und ihre Mutter waren zurückgeblieben, da die Mutter bei einem Tuchhändler Stoffe kaufen wollte. Die Stoffe waren viel feiner als die aus Wolle gewebten Tücher ihrer Mutter. »Mama, Mama sieh mal, das Kleid ist wunderschön«, Linea hatte, wie alle aufgeregten Kinder an dem Rock der Mutter gezogen, um deren Aufmerksamkeit zu erhalten.
»Schsch, Linea! Still! Du weißt doch, du sollst nicht reden, wenn wir nicht allein sind.«
Betreten sah sie die Mutter kurz an, aber die Begeisterung war immer noch da und so überging sie die Ermahnung. »Ja, aber sieh doch, diese Farbe ist wunderschön.«
Die Mutter sah sich um und erkannte, dass ihre Worte bereits ungewünschte Aufmerksamkeit erregt hatten. Mehrere Männer sahen her und betrachteten das Kind mehr als interessiert. »Still, sagte ich!«
Linea runzelte beleidigt die Stirn und senkte den Kopf. Immerzu musste sie schweigen. Das war so ungerecht.
Ihre Mutter hatte sie jedoch bereits dicht an sich gezogen und war auf der Stelle umgedreht. »Wir gehen zum Boot zurück! Du schweigst«, sagte sie energisch.
Aber es war zu spät. Ein Mann fasste ihre Mutter am Arm und hielt sie zurück. »Was macht eine so schöne Frau hier allein auf dem Markt?«
Die Mutter versuchte dem Mann ihren Arm zu entziehen. »Ich bin nicht allein. Mein Mann ist dort vorne. Er wird gleich zurückkehren, aber ich werde ihm mitteilen, dass du dich um meine Sicherheit gesorgt hast.« Sie lächelte ihn an und hoffte, dass das Lächeln helfen möge. Aber gegen die Macht ihrer Tochter war ihre Fähigkeit eher kläglich.
»Ich sehe keinen Mann und denke, du lügst. Lass mich mal dein Kind mal genauer ansehen!« Er griff nach Lineas Arm und versuchte sie von der Mutter wegzuziehen. Hinter ihm bildeten sich mehrere Männer, die ebenfalls interessiert daran waren, das Kind zu sehen.
Ängstlich starrte Linea die Mutter an, barg hilfesuchend das Gesicht in ihrem Rock und klammerte sich an sie.
Ihre Mutter hielt ihr Kind energisch fest. »Hände weg von meiner Tochter«, sagte sie zu dem Mann und dann zu Linea: »Linea still. Egal was passiert!«
Es entstand ein Tumult und ihr Vater wurde zum Glück darauf aufmerksam. Er sah hinüber und erkannte seine Frau und sein Kind in der Mitte des Geschehens. Sofort ließ er den Händler vor sich stehen und brüllte: »Hände weg von meiner Frau und meinem Kind!« Er zog das Langschwert und lief durch das Gedränge auf seine Familie zu.
Sofort ließ der Mann Linea los, zog sein eigenes Schwert und drehte sich zu Leif Svenson herum.
»Zum Boot«, schrie Leif seiner Familie zu, aber das war unnötig. Ihre Mutter war bereits auf dem Weg zum Boot. Hastig hob sie das kleine Kind hoch und eilte durch die Menschenmassen zum Bootsanleger. Auf dem Boot verbarg sie Linea unter Decken und stellte sich mitten auf das Deck und wartete. Die Männer ihres Mannes standen auf dem Steg, bereit ihre Herrin und das Kind zu verteidigen. Aber Leif kam bereits den Weg entlang. »Geht es euch gut?« Er zog seine Frau an sich.
Linea hörte die erleichterte Stimme ihrer Mutter. »Ja, und dir scheinbar auch!«
»Lasst uns sofort fahren. Es war dumm von uns, sie herzubringen.«
Linea öffnete die Augen. Heute wusste sie, dass der Vorfall ihr Fehler gewesen war. Sie wusste, sie durfte in Anwesenheit anderer Menschen nicht sprechen, aber sie war damals erst acht Jahre alt gewesen und hatte es vergessen. Ihre Eltern hatten sie trotz ihres Fehlers geliebt und beschützt. Sie hatten immer zu ihr gehalten. Auch als es später wiederholt zu solchen Vorfällen gekommen war, hatten sie sich niemals von Linea abgewandt. Linea war sich der Liebe ihrer Eltern zu jedem Augenblick gewiss gewesen und hatte in Sicherheit gelebt. Heute würden auch die beiden die junge Frau nicht mehr mögen oder sie bei sich haben wollen. Zum einen, weil sie schon seit Langem tot waren, und zum anderen auch wegen dem, was mit Linea geschehen war. Aber daran trug sie selbst die Schuld. Sie schloss erneut die Augen und bemühte sich, die Realität auszublenden.
Sie war erneut auf der Wiese vor ihrem Heim und pflückte Blumen. Sie hörte die Vögel zwitschern und die Sonne war warm. Linea entspannte sich und gab sich der Erinnerung hin. Da kam ihr Bruder mit seinen Freunden den Weg entlanggeritten. Er schnappte sie im Galopp aus dem Gras und zog sie zu sich in den Sattel.
Sie lachte und hielt sich an ihm fest. »Eric, du bist zurück!«
»Hallo, kleine Schwester. Geht es dir gut?« Er hielt sie fest und seine Hände glitten über ihren kleinen Körper, während er sie festhielt.
»Sie nickte. Erzähl mir, was hast du alles erlebt?«
»Komm, wir wollen uns dort hinten im Schatten ins Gras setzen und ich erzähle dir alles.«
Linea nickte und gemeinsam ritten sie ein Stück.
Leif hatte seinen Sohn kommen sehen und brüllte seinem Sohn zu: »Eric, bring Linea augenblicklich zu mir!«
»Verdammt«, murmelte Eric und verzog ungehalten den Mund.
»Vater freut sich sicher nur dich zu sehen, so wie ich«, Linea nickte ihm zu und rutschte vor Eric im Sattel hin und her.
Eric kniff die Augen zusammen, als hätte er Schmerzen.
»Eric, bist du doch verletzt?«, besorgt sah Linea den Halbbruder an und legte ihm die Hände auf die Brust.
»Nein«, sagte der Vater an seiner Stelle, »aber gleich, wenn er dich nicht sofort absetzt.« Leif hatte das Schwert gezogen und stand kampfbereit im Hof.
»Vater, das ist doch Eric!«
»Ja, Linea ich weiß. Geh ins Haus zu deiner Mutter.«
Sie rutschte aus dem Sattel und stellte sich zwischen Bruder und Vater. »Aber Vater …«
»Sofort!« Der Ton ihres Vaters ließ keinen weiteren Einwand gelten.
Linea senkte den Kopf und lief ins Haus.
Schmerz durchzog ihr Herz, als sie daran dachte. Sie hob die Lider und starrte vor sich hin. Damals war sie neun gewesen und hatte es immer noch nicht verstanden. Ihre Eltern hatte sie zu gut vor allem Bösen ferngehalten und Linea hatte ihren Bruder geliebt. Schon ihr ganzes Leben hatte sie ihn bewundert. Er war nur ihr Halbbruder, da er nicht der Sohn ihrer Mutter war, sondern aus der ersten Ehe ihres Vaters stammte, aber andere Geschwister hatte sie nicht.
Immer ritt er mit seinen Freunden so stolz über die Felder oder fuhr mit seinem Langboot auf Beutefahrt. Er war ein schöner Mann und sie hatte ihn geliebt, wie eine kleine Schwester ihren großen Bruder nur lieben und verehren konnte. Wenn sie in seiner Nähe aus Versehen einmal sprach, reagierte er nicht böse und schickte sie auch nicht weg wie die anderen Menschen, sondern er ermutigte sie, mit ihm zu reden und schien gerne mit ihr zusammen zu sein. Er nahm sie oft in den Arm und war immer nett. Die anderen Menschen mieden Linea. Das machte sie oft einsam und auch traurig. Deshalb war sie froh, wenn Eric da gewesen war. Aber ihr Vater mochte es nicht, wenn er mit Linea zusammen war. Leif Svenson jagte Eric stets weg und schickte Linea dann zu ihrer Mutter. Schon drängte sich eine weitere Erinnerung an Eric in ihr Bewusstsein. Es war das vorletzte Mal gewesen, dass sie ihm begegnet war. Sie war vor Kurzem zehn Jahre alt geworden.
Linea war gerade an seiner Kammer im Haus ihres Vaters vorbei gegangen. Eric musste sie dabei gesehen haben, denn er rief: »Linea, komm doch mal herein. Ich muss dir etwas zeigen.«
Sofort war sie umgekehrt und lächelnd auf ihn zu gegangen.
Eric hatte hinter ihr die Tür geschlossen und sie ebenfalls angelächelt. »Wir müssen leise sein. Wenn Vater merkt, dass du bei mir bist, dann schickt er mich wieder weg und ich bin doch erst gestern wieder heimgekommen.«
»Ich verstehe das einfach nicht! Warum muss er dich immer wegschicken?«
Eric sah sie schmerzhaft an, als sie sprach. »Oh, Linea. Erzähl mir doch, was du heut so gemacht hast.« Er trat dichter und nahm ihren langen Zopf in die Hand und zog ihr Gesicht zu sich heran.
Linea wurde unsicher. Nie forderte sie jemand auf zu sprechen. Aber sie hatte den Bruder vermisst.
Er nahm sie fest in die Arme und strich mit der Hand über ihren Hintern, den er gegen sich drückte. In ihrer kindlichen Naivität hatte sie nicht gewusst, was das bedeutete. Aber es gefiel ihr nicht und sie hatte versucht, ihn zurückzuschieben. Nur war er viel stärker als sie. Er senkte den Kopf und wollte sie küssen.
Sie drehte den Kopf weg. »Nein, Eric! Lass das! Was ist denn los mit dir? Du bist mein Bruder.«
»Na und! Warum darf ein Bruder nicht nett zu seiner kleinen Schwester sein?«
»Nett schon, aber doch nicht so.« Das dies nicht richtig war, war ihr klar. »Lass mich los.«
»Hör schon auf. Du willst es doch auch!«
»Nein, Eric! Lass mich los!« Die letzten Worte hatte sie geschrien und plötzlich wurde die Tür aufgerissen. Ihr Vater stand wütend in der Tür und riss sie von ihrem Bruder weg. »Eric, verlass auf der Stelle mein Haus. Du bist hier nicht mehr willkommen.«
Linea war so verstört, dass sie sich an den Vater klammerte, bis ihre Mutter gekommen war und sie in die Arme genommen und aus dem Raum geführt hatte.
Erneut öffnete sie die brennenden Augen. Oben an dem Loch waren Schritte zu hören, die näher kamen. Rasch zog sie sich weiter vom Lichtkegel in den Schatten zurück. Hier hatte sie angefangen, ein Loch zu graben und war schon fast einen Meter in den Felsen hineingekommen. In dieser kleinen Höhle verbarg sie sich nun, falls sie etwas in ihr Loch warfen, war sie vor dem herunterrieselnden Staub geschützt. Aber große Stücke kamen ja ohnehin nicht hier unten an. Aber auch die Fragmente von Gegenständen konnten widerlich sein, je nachdem was hinuntergeworfen wurde. Auch feine Teile von Fäkalien blieben Fäkalien und stanken. Aus der Höhle schielte sie nach oben und hielt den Atem an. Niemand sollten wissen, dass sie hier war. Sie wollte weiterhin vergessen bleiben. Dann war sie besser dran, als wenn sie sich an sie erinnerten und wieder herausließen. Die Schritte verstummten abrupt und es war still dort oben. Dann rieselte es, als würde es regnen. Feiner Nebel fiel in den Schacht, an dessen Ende sie sich verbarg. Derjenige dort oben pinkelte gerade in das Loch im Boden, in dem Linea saß. Sein Urin traf auf die magische Barriere und mache die Tropfen zu feinem Nebel. Der verteilte sich und sank bis zum Boden hinunter. Dort hüllte er auch sie mit ein. Schnell schloss Linea den Mund und die Augen. Mehr konnte sie dagegen nicht tun.
Schritte erklangen erneut und verklangen dann allmählich wieder. Derjenige dort oben war weiter gegangen. Linea atmete aus und wischte sich die Feuchtigkeit vom Gesicht. Genauso versuchte die Erinnerung an Eric zu verdrängen. Doch unerbittlich kehrten ihre Gedanken zu der letzten Begegnung mit ihrem Bruder zurück. Ergeben schloss sie die Augen und atmete zitternd aus.
Damals war Linea schon fast zwanzig Jahre alt gewesen. Der Anlegeplatz von Stavern lag in einer Bucht in der Nordsee. Linea hatte neben dem Hafen am Strand gestanden und über das Meer gesehen, wie sie es oft und gerne getan hatte. Eine kräftige Meeresbrise wehte ihr die Haare zurück, die sich aus ihrem Zopf gelöst hatten. Sie hob das Gesicht dem Wind und der Sonne entgegen und genoss die raue Schönheit der See. Da sah sie etwas in den Wellen der Nordsee. Es war ein dunkler Fleck, der aber unaufhörlich näher zu ihr kam. Es war ein Mann, der da verwundet aus dem Meer auf sie zu kam. Entsetzt hatte sie die Hand über die Augen gehalten, um gegen die Sonne über das Meer sehen zu können. Aber da war kein Langboot, soweit sie auch nach links und rechts über das Meer blickte. Auch am Anlegeplatz hatten keine Boote gelegen. Woher kam dieser Mann? Sie lief am Strand entlang auf ihn zu. Der Mann stand nur noch wadentief im Wasser, er hatte sie gesehen und hob kraftlos die Hand zum Gruß, ehe er in die Knie ging. Blutend und fast schon nicht mehr am Leben, kroch er aus dem Wasser über Strand auf sie zu. Als er den Strand fast erreicht hatte, erkannte Linea ihren Bruder Eric. Sofort beeilte sie sich noch mehr zu ihm zu gelangen. Es war ihr egal, dass ihr Kleid dabei nass wurde. Eric war jetzt Jahre fort gewesen und sie hatte sich selbst die Schuld daran gegeben. Er war bereits so weit auf den Strand hinaufgekommen, dass sein Gesicht aus dem Wasser war, während sein restlicher Körper noch in der See lag. Er lag auf dem Rücken und starrte zum Himmel hinauf.
Linea lief zu ihm und bückte sich zu ihrem verletzten Bruder hinunter. »Eric, was ist mit dir? Geht es dir nicht gut?« Sie fasste seine Schultern und zog ihn mühsam weiter auf den Strand hinauf. Als sie ihn nicht mehr weiterziehen konnte, kniete sie sich neben ihn und bettete seinen Kopf vorsichtig auf ihre Beine.
»Linea, wie schön, dass ich es hierhergeschafft habe.« Er schüttelte kraftlos und schmerzverzerrt den Kopf. »Linea, ich wurde in der letzten Schlacht tödlich verwundet. Aber ich wollte dich noch einmal sehen, bevor ich sterbe«, hauchte er in ihren Armen. Dann hustete er und krümmte sich schmerzvoll zusammen.
Entsetzt riss sie die Augen auf. »Nein, du wirst nicht sterben, das lasse ich nicht zu.« Hastig glitten ihre Hände über seine Körper und sie untersuchte ihn nach Wunden, während sie beruhigend auf ihn einsprach. »Du wirst dich mit Vater aussöhnen und wieder hier bei uns in Stavern leben. Hier ist dein Platz. Irgendwann werden sie dich sicher zum nächsten Jarl wählen.« Tränen bildeten sich in ihren Augen, als sie auf den sterbenden Bruder hinuntersah. Sie hatte zerfetzte Kleidung gefühlt und ihre Hände waren rot von seinem Blut. »Oh Eric! Halte durch! Du musst leben!«
Eric erbebte unter ihren Händen. »Willst du das wirklich?«, fragte er schwach.
»Sicher, du bist mein Bruder. Das war doch damals alles nur ein dummes Missverständnis, das habe ich Vater auch immer wieder gesagt, aber er wollte dich nicht heimkehren lassen. Wenn ich dir helfen könnte, würde ich es tun.«
»Oh, du kannst etwas für ich tun, aber das wirst du nicht wollen.« Betrübt drehte er den Kopf zu Seite, schielte aber von da zu ihr hoch.
»Was Eric? Sag mir, was ich tun kann, damit du weiterlebst.« Schon liefen ihr die Tränen über das Gesicht.
»Du kannst deine Seele geben.«
Erschreckt zog sie den Oberkörper ein Stück zurück. »Was?«
»Siehst du, ich wusste es. Es ist nicht wahr, dass du mich liebst.«
»Doch ich liebe dich. Du bist mein großer Bruder und ich möchte, dass du weiterlebst.«
»Samael«, rief ihr Bruder da.
Plötzlich stand ein Mann neben ihr. Er war groß und kräftig. Seine Beine waren unbekleidet und behaart, ebenso sein nackter Oberkörper. Er trug nur einen schwarzen Lendenschurz. Seine spitzen Ohren waren groß, ebenso wie seine breite Nase und der grausame Mund. Die schwarzen, kurzen Haare wurden vom Wind nach vorne geweht, während er auf sie hinuntersah. Er war eindeutig ein Dämon, was sie an den zwei nach hinten gebogenen Hörnern auf seiner Stirn erkannte und an den harten, kalten und dunklen Augen. Darin war keine Liebe oder Nachsicht, nur Hass und Kälte. Entsetzt sah sie die Finger der Kreatur an. Sie wurden am Ende zu Krallen, ebenso wie seine Zehe. Er starrte sie aus seinen kalten Augen bösartig an. Linea lief bei seinem Anblick ein Schauer über den Rücken.
Eric nickte in seine Richtung. »Versprich ihm deine Seele und ich kann leben.«
Linea starrte von dem Dämon auf den sterbenden Bruder in ihren Armen. Sie fühlte sich unfähig zu denken oder zu sprechen.
Eric fasst nach der Wunde und stöhnte. »Du bist schuld, dass Vater mich verbannte. Nur deshalb bin ich in die Schlacht gezogen und verwundet worden. Nur wegen dir liege ich hier und sterbe. Aber du kannst es wieder gut machen!« Kraftlos fiel seine Hand herab.
Ängstlich erkannte sie, dass ihr Bruder immer schwächer wurde und sah sie zu dem Dämon zurück.
Der grinste sie an.
Eric stöhnte schmerzhaft auf. »Mach schon Linea, sonst ist es zu spät. Beweise, dass es nicht nur Worte waren, sondern dass du mich wirklich liebst.«
Sie drehte den Kopf und sah die Kreatur neben sich an. »Ja, ich gebe meine Seele für das Leben meines Bruders«, sagte sie zu ihm und der Fremde erschauerte sichtlich, als sie sprach.
Dann grinste er noch mehr. »Ja, ich fühle, was du meinst. Ihre Stimme hat die Macht, einen Mann wahnsinnig werden zu lassen. Ich hätte nicht gedacht, dass du sie dazu bringen kannst, ihre Seele zu geben, nachdem du versucht hattest, sie als Kind zu vergewaltigen.«
Eric stand plötzlich auf und strich seine Kleidung gerade. »Sie ist halt sehr schön, aber auch sehr dumm.«
Linea stand unbeholfen auf. »Eric, was soll das? Hat er dich so schnell geheilt!«
»Ich war gar nicht verletzt, du dummes Stück.« Er lachte gehässig. Er bewegte die Hände über die dreckigen, nassen Sachen, die er trug und sie wurden zu heilen, teuren Seidengewändern. »Ich hatte schon als Kind meine Seele an ihn verkauft, damit ich schneller und besser als die anderen Jungen war. Seitdem kann mich kaum noch ein Mensch verletzen.«
»Was? Ich verstehe das nicht. Du warst immer der Beste in allem. Ich habe dich stets bewundert.«
»Ja, Schätzchen, aber das war ich nur, weil ich schon damals einen Pakt mit Samael geschlossen hatte.« Er lachte erneut. »Ich wollte dich schon als Kind unbedingt. Aber Vater war immer da, um dich zu verteidigen. Deine Stimme macht einen Mann wahnsinnig. Wenn du sprichst, werden alle Männer, die dich hören, hart im Schritt. Es ist nicht zum Aushalten. Deshalb haben deine Eltern dir verboten, in Anwesenheit anderer zu sprechen.«
Verwirrt sah sie ihn an. »Ich verstehe das alles nicht!«
»Das musst du auch gar nicht verstehen. Ich werde jetzt endlich erfahren, ob es auch so ein Genuss ist, dich zu nehmen, wie es eine Qual ist, deine Stimme zu hören, ohne dich berühren zu dürfen. Ich werde der erste Mann in deinem Leben sein. Dann gehörst du Samael.«
Ängstlich und völlig verwirrt sah sie zu Eric und dann zu dem Dämon neben ihm. Beide grinsten sie widerlich an. »Eric, ich bin deine Schwester!«
»Ja, und?«
»Das kannst du doch deinem Vater und mir nicht antun.«
»Da du es gerade erwähnst. Ich werde unseren Vater und deine Mutter töten, wenn ich hier mit dir fertig bin.« Er packte sie und zog sie weiter den Strand hinauf. »Freu dich, ich bin nur wegen dir zu diesem erbärmlichen Ort zurückgekehrt. Nur deinetwegen werden deine Eltern sterben.«
»Nein, Eric! Ich flehe dich an, tue das nicht!« Ängstlich versuchte sie ihm ihre Hand zu entziehen.
Aber er ging ungerührt weiter und lachte.
Energisch öffnete sie die Augen. Die folgenden Erinnerungen wollte sie nicht noch einmal erleben und auch die, die danach kamen, nicht. Es hatte einige Zeit gedauert, bis sie gelernt hatte, nicht mehr zu sprechen, zu weinen oder zu flehen. Auch nicht mehr auf Bisse, Messerstiche oder Folterinstrumente aller Art zu reagieren. Sie war weiter gereicht worden, von einem Dämon zum nächsten. Alle wollten die Macht ihrer Stimme an sich spüren. Zuletzt hatte man sie dem Dämon Behemoth geschenkt. In seinem Reich saß sie hier. Er hatte sie zusammen mit zwei anderen Dämonen »ausprobieren« wollen, aber Linea hatte standhaft geschwiegen. Das war das Einzige, was sie den Dämonen verweigern konnte. Daraufhin waren die Dämonen wütend geworden, hatten sie missbraucht und hatten ihren Körper zerhackt und in dieses Loch geworfen. Als sie hier unten wieder zu sich gekommen war, wollte sie nur noch sterben. Aber sie lag da, benutzt, geschändet, gedemütigt und in ihre Einzelteile zerhackt, aber sie lebte. Sie war nicht gestorben, denn sie war in der Hölle. Sie hatte ihre Seele verkauft. Sie konnte nicht sterben. Dämonen lebten immer weiter, ohne Aussicht auf den Tod oder den Himmel. Sie lag dort hilflos und weinte leise vor sich hin. In dem Wissen, dass sie selbst schuld an ihrer Situation war. Hätte sie nur auf ihren Vater gehört, hätte sich von Eric fernhalten und ihm niemals vertraut. Niemals hätte sie in seiner Anwesenheit oder in der anderer sprechen dürfen, so wie es ihre Eltern ihr immer wieder gesagt hatte. Aber sie hatte gedacht, sie wüsste es besser. Hatte gedacht, da er ihr Bruder war und wie ihre Eltern zu ihrer Familie zählte, wäre es doch in Ordnung. Sie hatte ihren Bruder geliebt und ihm blind vertraut. Sie hätte nicht auf ihren Bruder hereinfallen dürfen. Das war ihr hier klar geworden, während sie dort in ihren Einzelteilen gelegen hatte und ihr Körper anfing, sich zu regenerieren. Die ganze Zeit hatte sie nur an Flucht denken können. Es musste doch einen Weg geben, um hier herauszukommen. Nachdem ihre Gliedmaßen nachgewachsen waren, versuchte sie aus dem Loch herauszuklettern. Aber sie musste leise sein. Niemand sollte sich an sie erinnern und sie womöglich wieder herausholen wollen. Also hatte sie gewartet, bis es oben längere Zeit ganz still geworden war und hatte versucht, nach oben zu klettern. Die ersten Male war sie dabei immer wieder abgestürzt, aber sie hatte nicht aufgegeben. Dieses Loch hatte nur dort oben einen Ausgang. Die Knochen, die sie sich dabei brach, heilte innerhalb weniger Tage wieder zusammen und so hatte sie es erneut versucht. Auf diese Weise hatte sie dann auch von der magischen Barriere erfahren. Damals hatte sie innerlich leise gejubelt, da sie es geschafft hatte, bis zur Mitte der Wand hochzuklettern. Sie hatte jede Spalte und Kluft der Wand genutzt, um sicheren Halt zu finden. Beherzt hatte sie den Arm nach einem weiteren Vorsprung ausgestreckt und dabei die Barriere durchbrochen. In Millisekunden wurde ihr der Arm bis über den Ellenbogen aufgelöst und fiel in Pulverform zu Boden. Vor Schmerz und Überraschung hatte sie dann doch aufgeschrien, als sie rücklings zu Boden fiel. Zum Glück hatte niemand ihren erstickten Schrei gehört. Sie hatte nach oben gesehen und dort das leichte Glimmen in der Luft erkennen können. Nie hätte sie es gesehen, wenn sie nicht gewusst hätte, wohin sie sehen musste. Auch jetzt sah sie hinauf. Ja, da war die Barriere. Ein Stück oberhalb des letzten Absatzes, den sie erklommen hatte. Da wusste sie, sie konnte nicht auf diesem Weg ihr Gefängnis verlassen. Daraufhin hatte sie begonnen, mit Steinen das Loch in den Felsen zu graben, aber das ging nur sehr langsam. Seit mehreren Jahrhunderten saß sie nun in dem Loch fest, existierte leise und hoffte, dass sie niemand hörte oder sich an sie erinnern würde.
Linea schloss die Augen und dachte erneut an das wundervolles, friedenbringendes Lächeln ihrer Mutter. Die Erinnerung an sie machte ihr die Existenz hier wenigstens etwas erträglicher. Schon war sie wieder in ihren Träumen und fühlte die liebevolle Umarmung ihrer Mutter, deren Tod sie verschuldet hatte.