Читать книгу Ein Engel ganz unten - Christine Engel - Страница 6

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Plötzlich erbebte der Felsen um sie herum regelrecht. Panisch riss Linea die Augen weit auf. Aber das spärliche Licht war verschwunden, also war es gerade Nacht. Sie musste einige Zeit geschlafen haben. Was war denn heute nur los? Erst die Steine, die herunterfielen und nun erbebten die Wände. Verwirrt sah sie sich im Dunkeln weiter um, dann hörte sie Schritte, die sich rasch nähern und wieder verklangen. Sie drehte den Kopf und sah nach oben. Abermals erbebte der Felsen um sie herum und weitere Steine lösten sich aus der Felsdecke über ihr und fielen auf sie herab. Linea schob sich leise aus dem gegrabenen Loch heraus und presste ihren Rücken an die Wand im Schacht. Wenn sich Teile der Wand löste, wollte sie nicht darunter liegen. Sterben würde sie nicht, aber die Schmerzen zu ertragen, gefiel ihr auch nicht. Weitere Schritte waren zu hören. Dort oben rannten mehrere Personen scheinbar hin und her. Dabei polterten ihre Schritte so heftig über den felsigen Untergrund, dass die Wände des Schachtes bebten. Linea hielt die Luft an und starrte nach oben. Dann erklangen dumpfe Geräusche wie Explosionen und erneut erbebten die Wände um sie herum. Staub rieselte auf sie hinunter. Ängstlich presste sie sich weiterhin gegen die Wand. Was ging da oben nur vor sich? Immer wieder bebte der Fels um sie herum und Steine, Staub und Geröll rieselten auf die Barriere. Dann wurde es nach einigen Zeit endlich wieder ruhig.

Linea atmete ein wenig auf, doch dann erbebte der Boden erneut. Es schien, als liefen dort oben die Dämonen noch schneller hin und her. Plötzlich erklangen klirrende Geräusche wie Schwerter, die aufeinanderprallten. Das Klirren und Trampeln wurde immer lauter, dazu mischten sich nun Schreie. Es war entsetzlich laut und der Kampfeslärm hielt sich lange und ebbte nur langsam wieder ab. Es war eine intensive Schlacht. Dann aber wurde es ruhiger und endete damit, dass ein letzter lauter Aufschrei zu hören war und etwas in den Schacht zu ihr hinunterstürzte. Es traf auf die Barriere und das Pulver dessen, was da gefallen war, verteilte sich in der Luft. Linea schloss sofort die Augen und hielt die Luft an. Sie wollte keinen Staub in die Augen und den Mund bekommen. Dann vernahm sie direkt vor sich einen dumpfen Aufprall vor sich. Das war neu. War schon wieder etwas aus der Wand gefallen? Sofort öffnete sie die Augen, konnte aber nicht wirklich etwas erkennen. Immer noch war es stockdunkel. Was war das denn nur gewesen? Ängstlich und so lautlos wie möglich zog sie sich wieder in ihr gegrabenes Loch zurück. Dann war einige Zeit gar nichts zu hören. Zitternd wartete Linea auf weitere Geräusche, die ihr verrieten, was dort oben vor sich ging.

Langsam wurde es draußen wieder Tag, denn der Lichtkreis in der Mitte bildete sich bereits schwach wieder aus. Nun konnte sie in der Mitte direkt vor ihr einen halben Dämon erkennen. Also genauer gesagt, war es nur sein Bein. Es war behaart und sah aus wie ein Ziegenbein. Es hatte auch einen paarigen Huf. Das musste der dumpfe Aufprall gewesen sein, den sie gehört hatte. Der Rest des Dämons fehlte. Linea kam aus dem seitlichen Loch gekrochen und sah sich genauer um. Aber auch jetzt konnte sie keine Stücke der Leiche herum liegen sehen. Nachdenklich runzelte sie die Stirn. Wie war es überhaupt hier heruntergekommen? Wie hatte es die Barriere passieren können, ohne gänzlich pulverisiert worden zu sein? Ungläubig starrte sie es erneut an. Aber ehe sie weiter darüber nachdenken konnte, erklangen oben erneut schwere Schritte, die sich rasch der Öffnung im Boden über ihr näherten. Rasch zog sich Linea in ihr Loch zurück. Was auch immer dort oben vor sich ging? Sie wollte damit nichts zu tun haben. Für sie konnte es nichts Gutes bedeuten. Dann hörte sie undeutliche Stimmen, die näher kamen.

»Was ist denn das hier für ein Raum, ein Lager?«, ertönte eine tiefe, dunkle Stimme.

»Woher soll ich das denn wissen, Raziel? Ich war hier schließlich auch noch nicht. Behemoth war ein schlechter Herrscher. Hier ist alles verkommen. Sieh doch die Regale dort, die brechen beinahe zusammen. Die Last, die sie tragen, ist zu groß.«

Steine und Staub rieselten in das Loch hinunter.

»Das Einzige, was er wirklich gepflegt hat, war seine Vorratskammer.«

Die andere Stimme lachte. »Allerdings! Aber die ist sehr gut in Schuss. Das musst du zugeben. Dort war reichlich Nahrung. Damit könnte er eine ganze Garnison versorgen.«

»Genau das werden wir jetzt auch damit machen.«

»Du willst die Nahrungsmittel mitnehmen?«

»Nicht alles, aber so viel, dass es nur für die Bevölkerung ausreicht. Nicht das Baal hier eine weitere Streitmacht unterbringt und auch schon deren Versorgung gesichert ist«

Wieder waren Schritte zu hören.

»Das hier muss das Weinlager sein. In den Regalen sind alles Weinflaschen.«

Es klirrten Flaschen.

»Sieh dich hier doch mal um. Hier hat er anscheinend seinen besten Wein gelagert.«

»Volltreffer! Davon nehmen wir auch etwas mit, oder Raziel?«

»Etwas? Ich denke, davon nehmen wir alles mit.«

»Aber die hier lebenden Dämonen haben dann nichts mehr.«

»Was wollen sie mit dem Wein? Den brauchen sie nicht zum Überleben. Ausreichend Nahrung lasse ich ihnen, aber den Wein nehmen wir mit. Außerdem hätten sie aufpassen müssen, wem sie ihre Treue schwören. Behemoth hat sich Baal angeschlossen und sich damit gegen Luzifer gestellt. Das hätte er lassen sollen.«

»Klar, aber dafür hast du ihn bereits bezahlen lassen. Was war er doch für ein widerlicher Feigling. Wollte sich nicht einmal verteidigen.«

»Allerdings, er war ein fetter Kriecher und kein Krieger!«

»Ich glaube, er war einfach zu dumm, um überhaupt zu wissen, was er tat. Du hast doch gesehen, wie wenig er von Krieg und all dem verstand. Als du ihn herausgefordert hast, hätte er am liebsten das Weite gesucht.«

»Ja, ich sagte doch schon, er war kein Krieger. So einfach haben wir bisher keinen, der Anhänger Baals ausschalten können.«

Die Schritte hörten genau über dem Loch auf. »Pass auf Marbas!«

»Was soll das denn? Eine Stolperfalle, falls man hier im Dunkeln entlanggeht?«

»Ich habe keine Ahnung!«

»Ist da einer von unseren Männern hereingefallen?«

»Halte Anstand, wir wissen nicht, wie befestigt der Rand ist.«

Linea sah zwei Schatten im Lichtkegel auf dem Boden. Diese beiden Dämonen sahen in das Loch hinunter. Linea holte Luft und atmete sicherheitshalber nicht mehr. Sie wollte unter keinen Umständen ein Geräusch verursachen. Diese Dämonen dort oben machten ihr mehr Angst als die anderen davor.

»Marbas, kannst du da unten etwas erkennen?«

»Nein, nicht wirklich. Dazu ist es dort zu dunkel. Ein Stück Dämon liegt dort, aber ich glaube, außer diesem Bein ist nichts in dem Loch. Oder kannst du etwas anderes sehen?«

»Nein, auch nicht. Da scheint nichts drin zu sein.«

»Was soll das überhaupt darstellen?«

»Vielleicht ist es ein ausgetrockneter Brunnen.«

»Meinst du? Also auf Wasser standen die hier nicht. So dreckig hier alles ist.«

»Auch wieder wahr. Komm, wir testen den Wein, während wir auf die Berichte der anderen warten.«

Die Schritte verklangen, dann polterte es kurz, ehe es wieder leise wurde.

Linea hielt weiterhin den Atem an. Sicher war sicher. Dann, nachdem es längere Zeit ruhig geblieben war, atmete sie vorsichtig aus und kroch leise zu dem Bein hinüber. Dabei hielt sie sich weiterhin aus dem Lichtkreis fern. Es war eindeutig ein Dämonenbein. Aber wie hatte es die Barriere überwunden? Linea sah nach oben und konnte dort nichts erkennen. Sie bemühte sich, den leichten Schimmer in der Luft wahrzunehmen, aber sie konnte ihn nicht sehen. War die Barriere fort? Konnte sie ihrem Gefängnis endlich entrinnen? Hoffnung breitete sich langsam in ihr aus. Aber sie war unsicher. Sie hatte auch die Barriere nicht wirklich sehen können, also konnte sie nicht hundertprozentig sagen, ob sie noch da war oder nicht. Sie sah erneut zu dem Bein hin. Aber da dieses Stück von einem Dämon eindeutig hier hinuntergelangt war, konnte es doch bedeuten, dass die Barriere weg war oder wenigstens so beschädigt war, dass etwas hier hinuntergelangen konnte, ohne pulverisiert worden zu sein. Die Dämonen hatten über Behemoth gesprochen. Konnte er vielleicht wirklich tot sein? Dann könnte das der Grund für die fehlende oder defekte Barriere sein. Aber letztendlich war es egal, ob Behemoth lebte oder nicht. Alles, was für sie zählte, war die Barriere. Wenn sie weg war, dann konnte sie hier raus. Sie lauschte angestrengt, konnte aber nichts hören. Dort oben schien niemand mehr zu sein. Auch begann das Licht bereits wieder schwächer zu werden. Sie hatte schon lange genug abgewartet. Sie griff sich einen länglichen Stein und nahm ihn in den Mund. Er war sandig und staubig, aber das interessierte sie jetzt nicht. Linea ging zur Felswand und kletterte sie vorsichtig hinauf. Dabei bemühte sie sich, keinen Stein aus der Wand zu lösen oder ein anderes Geräusch zu verursachen. So lautlos, wie es überhaupt möglich war, schob sie sich Stück für Stück die Wand hinauf. Sie wusste, hinter welchen Absatz die Barriere lag. Sie hatte sich die Stelle gemerkt, damit sie nicht noch einmal ein Körperteil einbüßte. Als sie an dem Absatz angekommen war, presste sie ihren Körper gegen die Wand und klammerte sich, so gut es ging mit der einen Hand an der Wand fest, während sie mit der anderen Hand den Stein aus dem Mund nahm. Rasch spuckte sie den Sand aus, den er in ihrem Mund hinterlassen hatte. Vorsichtig streckte sie den Stein voran den Arm nach oben in die Richtung aus, wo sie die Barriere erwartete. Dabei schloss sie die Augen und drehte den Kopf zur Seite, denn sie rechnete damit, dass er pulverisiert herab in ihre Augen rieseln würde, aber nichts geschah. Der Stein blieb ganz! Die Barriere war nicht mehr existent.

Marbas und Raziel saßen an einem Tisch in der Ecke des Raumes, in dem der Wein lagerte. Jeder von ihnen hatten eine Flasche in der Hand und sie genossen den Wein. Immer wieder setzten sie den Flaschenhals direkt an den Mund.

»Der ist gar nicht so schlecht«, stelle Marbas fest, wobei er die Weinflasche anhob.

»Ich würde sogar so weit gehen und behaupten, der ist richtig gut«, murmelte Raziel. Er senkte die Flasche und sah zu seinem Freund hinüber.

»Gut, dass wir einen Moment Zeit haben, bis die Männer alle Ecken der Festung durchsucht haben.«

»Stimmt, bis das nicht abgeschlossen ist, können wir mit den Verhören der Gefangenen nicht beginnen. Also warum die Wartezeit nicht mit dem Angenehmen verbinden. Wie viel Wein ist das hier eigentlich?«

Marbas sah sich um. »Das kann ich nicht einmal schätzen. Ich würde sagen reichlich!«

»Wie alles, was wir hier zum Essen gefunden haben. Die Gerüchte, dass er ein Gourmet war, sind also nicht aus der Luft gegriffen. Wenigstens etwas, was er konnte. Von der Pflege der Festung hatte er auf jeden Fall keine Ahnung.« Raziel schüttelte den Kopf und sah sich um. »Man muss hier froh sein, wenn man die Räume heil wieder verlassen kann, ohne dass man erschlagen wird.«

Marbas lachte leise. »Ja, er hat diesen maroden Steinhaufen nicht gerade gepflegt.«

Raziel prostete seinem Freund erneut zu, da hörte er ein Geräusch. Augenblicklich deute er Marbas anzuschweigen. Es war ein leises, schleifendes Geräusch gewesen.

»Was?«, flüsterte Marbas kaum hörbar und lauschte angestrengt.

»Da war etwas!«

Marbas riss die Augen fragend weiter auf, lauschte und zuckte dann die Schultern. »Ich höre nichts«, wisperte er. »Bist du sicher?«

Raziel nickte und winkte ihm zu schweigen. »Ich habe etwas gehört.« Er war sich nicht sicher, was es war, aber er hatte etwas gehört. Er hob den Zeigefinger und sah den anderen Dämon an. Da war es wieder.

Dieser nickte nun auch nachdenklich. »Vielleicht Ratten?«

Raziel schüttelte den Kopf und flüsterte: »Nein, das ist etwas anderes.«

Sie blieben geräuschlos sitzen und lauschten. Da bewegte sich etwas am Rand des Loches. Es sah aus wie eine Hand und dann tauchte ein unordentlicher, grauer und verdreckter Haarschopf am Rand des Schachtes ebenfalls auf.

Linea konnte es kaum fassen. Die Barriere war verschwunden. Sie kam tatsächlich aus diesem schrecklichen Loch heraus. Damit hatte sie nicht mehr gerechnet. Ein ungeahntes Glücksgefühl durchflutete sie und ließ sie weiter die Wand hinaufsteigen. So leise wie möglich kroch die junge Frau immer weiter hinauf. Da schabte sie mit der Hand über einen Vorsprung und ein Geräusch entstand. Sofort hielt sie in der Bewegung inne und lauschte. Sie hielt die Luft an, aber nichts war zu vernehmen. Dankbar atmete sie wieder aus. Nur jetzt keinen Fehler machen. Sie war schon fast oben. Leise bewegte sie sich weiter. Schon konnte sie die obere Kante fühlen. Pure Freude schlich sich in ihr Bewusstsein. Eine Euphorie, die sie schon lange nicht mehr gefühlt hatte. Leise spannte sie die Armmuskeln an und zog sich über den letzten Absatz. Erschöpft kauerte sie sich kurz am Boden zusammen. Nur einen Moment Kräfte sammeln, dann ging es weiter. Linea holte tief Luft und stand vorsichtig auf. Nach einer endlos erscheinenden Zeit betrat sie zum ersten Mal wieder anderen Boden als den in dem Loch. Rasch sah sie sich um. Sie hatte vergessen, wie groß der Raum hier oben gewesen war. Kein Fackelschein erhellte den Raum, nur das restliche Tageslicht drang durch ein Fenster an der Seite herein und lieferte etwas Helligkeit. Doch dieses schwindende Licht des Tages reichte eben nicht mehr aus, den Raum gänzlich zu erhellen und so war es eher dunkel hier. Die junge Frau konnte nur noch Schemen der Umgebung erkennen und einige Ecken lagen komplett im Dunkeln. An den Wänden waren mehrere Tische mit Stühlen und etliche Weinregale standen an den Wänden. Einige Regale waren auch in den Raum hineingestellt. Jetzt allerdings lang davon eins auf dem Boden, ein anderes kippte gegen ein drittes. Der Kampf, den sie gehört hatte, hatte sich auch hier zugetragen, denn auf dem Boden lagen einige Dämonen. Erschreckt atmete sie ein, aber die Dämonen rührten sich zum Glück nicht mehr. Sie waren tot. Erleichtert entspannte sie sich wieder etwas.

Plötzlich stand ein riesiger, halb nackter roter Dämon vor ihr. Er hatte dunkle, kurze Haare und trug eine schwarze Lederhose sowie schwarze Stiefel. Sein unbekleideter, muskulösen Oberkörper war mit dunklen, seltsamen Mustern überzogen.

Ehe sie sich von dem Schreck erholt hatte und reagieren konnte, hatte er ihr seinen langen, kräftiger Schwanz um die Taille sowie die Arme gelegt und hob sie an, so dass ihr Gesicht mit den erschreckt aufgerissenen Augen seinem Gesicht gegenüber war. Es war kein schönes Gesicht. Es war scharfkantig, energisch und hatte zahlreiche Narben. Seine schwarzen Augen starrten Linea an. »Was bitte ist das denn?« Raziel schwenkte Linea leicht zu Seite, damit auch Marbas sie sehen konnte.

Marbas saß noch immer am Tisch im Schatten der Wand. Nun lehnte er sich leicht vor, um besser sehen zu können.

Auch Linea sah jetzt den zweiten Dämon. Er hatte einen Löwenkopf mit Stierhörnern und einen menschlichen Körper. Er trug aber eine Hose und ein Hemd im Gegensatz zu dem Mann, der sie hochhielt. Jetzt verzog der Löwenköpfige das Gesicht. »Ich sagte doch, es ist eine Ratte. Eine dreckige Ratte, die aus ihrem Loch kriecht, würde ich sagen. Raziel wirf sie weg. Du holst dir sonst noch eine Krankheit. Die stinkt bis hier her.«

Angewidert musterte Raziel die nackte Frau vor ihm. Ihre zum Zopf geflochtenen Haare waren stumpft vor Dreck, ebenso wie ihr gesamter Körper. Sie war recht klein und sah ihn aus blauen Augen an, die zu groß für ihr Gesicht schienen.

»Mach schon«, forderte der Löwenkopf. »Wirf sie weg und komm wieder her. Dann können wir in Ruhe weiter trinken.«

Linea zitterte. Es waren gleich zwei Dämonen anwesend. Wieso hatte sie nicht vorsichtiger sein können? Da hatte sie nach einer endlosen Zeit die Chance zur Flucht und vermasselte es.

Beide Dämonen waren groß und kräftig, aber der rote schien über immense Kraft zu verfügen. Mühelos hielt er sie hoch.

Panik breitete sich in ihr aus. Sie senkte rasch die Augen, um die Kreaturen nicht weiter zu provozieren. Aber was machte sie sich vor. Sie hatte sie schon durch ihr Auftauchen hier gestört. Deutlich erkannte sie die Empörung über die Störung im Gesicht des roten Dämons. Sie musste hier schnellstmöglich verschwinden. Unter gesenkten Lidern glitt ihr Blick rasch im Raum hin und her, auf der Suche nach einem Flucht- oder Ausweg. Am anderen Ende des Raumes konnte sie eine Tür erkennen. Sie war leicht geöffnet und Linea würde sicherlich hindurch passen. Aber davor saß der zweite Dämon am Tisch. Damit war die Möglichkeit ausgeschlossen. Dann gab es noch das Fenster. Das war zwar geschlossen, aber unbewacht.

Raziels Ärger über die Störung wich Interesse. »Ja, sie stinkt in der Tat schrecklich. Aber sonst sieht sie ganz interessant aus.« Raziel ließ seine Schwanzspitze über die Brustwarze der nackten Frau vor ihm streichen. Er wusste nicht warum, aber der Impuls war so stark, dass er ihm einfach nachgeben musste.

Sofort richtete sie die Augen wieder auf ihn. Das würde sie nicht wieder zulassen. Sie hob ihr Fuß und trat ihm zwischen die Beine.

Überrascht über ihren Angriff lockerte sich sein Griff, mit dem er sie hielt. Luft entwich stöhnend seinen Lungen und er klappte regelrecht zusammen. Dabei konnte Linea sich aus seinem Griff befreien.

Der andere Dämon reagierte augenblicklich, indem er aufsprang und auf den Roten zueilte.

Linea wartete nicht, bis sich der rote Dämon erholt hatte oder der Löwenkopf bei ihr war, sondern nutzte ihre Freiheit und rannte so schnell sie konnte zum Fenster. Das geschlossene Glas hielt sie nicht auf. Sie hatte nichts zu verlieren, also sprang sie, ohne anzuhalten mit einem Satz durch das Glas hindurch. Ihr war egal, wo sie auf der anderen Seite landete oder wie tief es war. Sie musste nur hier raus.

Marbas war mittlerweile bei Raziel angekommen. Er legte Raziel die Hand auf den Rücken und lachte. »Was war das denn? Diese dreckige, kleine Ratte hat dich getreten!«

»Das wird sie bereuen«, zischte Raziel und lief nun ebenfalls zum Fenster. Dort sah er Linea über die graue steinige Ebene humpeln.

»Oh, sie scheint sich etwas gebrochen zu haben«, bemerkte Marbas, der Raziel zu Fenster gefolgt war. »Das eine Bein hat einen seltsamen Winkel, außerdem humpelt sie.«

»Aber es hindert sie nicht daran, weiter zu laufen. Sieh doch.«

Beide standen am Fenster und starrten hinaus.

Marbas nickte. »Das ist allerdings beeindruckend.«

Linea spürte es sofort, als sie auf der felsigen Erde auftraf. Ihr rechter Unterschenkelknochen brach. Der Schmerz ließ sie kurz innehalten, aber sie wollte sich jetzt nicht von so etwas aufhalten lassen. Nicht jetzt, schließlich ging es hier um ihre Freiheit. Sie verbannte den Schmerz aus ihrem Bewusstsein und lief einfach weiter.

Raziel erkannte, dass sie sich immer weiter entfernte und das gefiel ihm gar nicht. »Verdammt sie entkommt mir!« Schon füllte seine große Gestalt den Fensterrahmen aus.

»Lass sie doch laufen. Der Dreckspatz ist doch keine Bedrohung für uns und unsere Sache. Außerdem hat sie für ihren Tritt bereits ihre Strafe bekommen. Sie hat ein gebrochenes Bein.«

»Woher willst du das denn wissen?«

»Nun, weil sie hier …«

Raziel hörte ihn nicht mehr und Marbas sah zu, wie sein Freund hinter der Frau auf der Ebene unter ihnen landete.

Aber Raziel brach sich nichts, sondern federte die Landung geschickt ab.

Marbas schüttelte den Kopf und wandte sich selbst vom Fenster ab und dem Gang zu. Über ihn würde er auf sichere Weise in die Ebene vor Behemoths Festung gelangen. Er würde hier sicher keinen Beinbruch riskieren und ebenfalls hinausspringen, nur um diese dreckige Kreatur einzufangen. Raziel war doch eindeutig wahnsinnig, das zu tun, nur weil sie ihn getreten hatte.

Linea unterdrückte mühsam den immer stärker werdenden Schmerz im Bein und eilte die trostlose Ebene entlang. Immer wieder knickte das verletzte Bein unter ihr weg und sie musste einen Aufschrei verhindern, als sie deswegen hinfiel. Sie stand rasch auf und zwang sich, weiter zu laufen. Angst und Hoffnung mischten sich in ihr und gaben ihr die Kraft. Es musste hier einfach ein Versteck für sie geben. Sie war doch schon so weit gekommen. Sicher würden die Dämonen nicht lange nach ihr suchen. Sie wussten nicht, wer sie war, das hatte sie erkannt. Deshalb wussten sie auch nichts über ihre bedauerlichen Fähigkeiten, das war ihre Chance. Linea blieb kurz stehen und sah sich im immer dunkler werdenden Tageslicht um. Mittlerweile war auch hier draußen nur noch alles in Schemen zu erkennen, aber ihre Augen waren ja an die Dunkelheit gewöhnt. Also suchte sie akribisch weiter. Aufgeben kam nicht infrage. Immerhin war der Preis für die Schmerzen die Freiheit. Dort hinten war eine leichte Bodenwelle mit Wurzeln von Bäumen, die hier mal gewachsen waren. Jetzt bestand die Ebene nur noch aus Steinen. Alles Leben war hier gestorben. Aber die Wurzeln waren noch da. Rasch humpelte sie so schnell es ihr möglich war, darauf zu und zwängte sie sich durch das Wurzelgeflecht hindurch und drückte ihre kleine Gestalt gegen die Erde dahinter. Zum Glück war sie so klein und konnte sich in der Vertiefung verbergen. Nun saß sie zwar schon wieder in einem Loch fest, doch mit etwas Glück würden es diesmal keine Jahre werden, die sie hier verbergen musste. Mühsam beruhigte sie ihren heftigen Herzschlag, nicht dass sie sich dadurch noch verriet. Dafür war sie zu weit gekommen. So nah war die Freiheit ihr in der letzten Zeit nie gewesen.

Raziel sah, wie sie sich hinter den Wurzeln zu verstecken suchte. Kein schlechtes Versteck, aber er hatte sie hineinschlüpfen sehen. Grinsend näherte er sich lautlos dem Wurzelgeflecht. Er würde ihr schon zeigen, was es bedeutete, ihn zu treten.

Linea hörte Schritte, konnte aber nicht sagen, von wo sie kamen. Sie hielt den Atem an und betete lautlos. »Bitte Gott! Lass ihn weiter gehen. Lass ihn nicht erkennen, wo ich bin.«

Doch schon schlossen sich zwei große Hände um ihre Oberarme und zogen sie abrupt an die Oberfläche zurück. Überrascht schrie sie kurz auf: »Nein!« Es war nur ein Wort, und sie biss sich heftig auf die Lippen. Sie durfte nicht sprechen. Aber es war geschehen.

Raziel spürte plötzlich eine heftige Welle von Lust, die seinen Körper traf, als er den Dreckspatz aus dem Loch zog. »Du hast wohl eine Vorliebe für Erdlöcher, was?« Er schüttelte sie durch und erwartete eine Antwort oder eine Reaktion, aber nichts geschah.

Marbas taucht hinter ihm auf. »Du hast sie also erwischt. Wieso nur bin ich nicht überrascht?«

Raziel versteckt die Frau hinter sich vor den Blicken seines Freundes. Er wollte nicht, dass er sie sah. »Ich weiß nicht, sag du es mir!«

»Weil sie kein Gegner für dich ist. Darum natürlich. Sie ist doch keine Herausforderung. Was willst du denn nur mit ihr? Sie hält dich von deinen Aufgaben hier ab. Das Verhör steht gleich an. Du musst herausfinden, wer von Behemoths Leuten zu Baal steht.«

»Mach du das. Ich werde ihr zeigen, dass man sich nicht ungestraft mit mir anlegen darf.« Schon verschwand er mit der Frau in seinen Händen von der steinigen Ebene.

Marbas schüttelte erneut den Kopf. »Na großartig! Er spielt mit dem Dreckspatz und ich muss hier die Arbeit allein erledigen.«

Ein Engel ganz unten

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