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2. Kapitel

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Mit fünfzehn Jahren begriff ich, daß wir in einer geborgten Welt lebten, in der Unsicherheit die sicherste Größe darstellte. Niemand in meiner Umgebung war, was er zu sein schien. Auch nicht Claire, unsere Haushälterin, die in Wahrheit Klara hieß und aus Leipzig stammte. Claire, Klara, war Schauspielerin und Kommunistin, und sie zitierte Brecht, während sie mit achtloser Hand Staub aufwirbelte, der, begleitet von Baals Worten, zu Boden sank. Klara glaubte daran, daß die Armen die besseren Menschen seien. Sie fütterte mich mit Brecht, und mein Vater ernährte uns aus den sporadischen Profiten seines kapitalistischen Kartenhauses. Vor die Wahl gestellt, Klaras guter Mensch zu sein oder Austern zu essen, entschied ich mich für letzteres. Vielleicht war es auch nur so, daß die Umstände meine Wahl trafen. Oder der kleine Satz des BB, daß vor der Moral das Fressen käme.

Ihre Seele hätte Klara gegeben für ein Engagement außerhalb unseres Hauses, doch kein faustischer Verführer war in Sicht, mit Ausnahme meines Vaters, der sie mit dem angekündigten Besuch namhafter Regisseure zum Bleiben verlockte. Sie kamen nie, die Entdecker Claires, doch Klara hörte nicht auf zu glauben, schließlich war Vater der bessere Schauspieler. Meines Vaters Stimme zitterte nicht, wenn er log, und lange Zeit war ich davon überzeugt, daß seine Täuschungsfähigkeit jedem Lügendetektor standgehalten hätte. Vaters Art zu sprechen erinnerte an Oscar Werner: akzentuiert, arrogant, einschmeichelnd. Auch mein Vater war nicht groß, eine napoleonische Figur in dunkelgrauen Kaschmiruniformen, zu denen er grüne oder blaue Krawatten trug. Nur an heißen Sommertagen legte er sein Jackett beim Essen ab. Als ich vierzehn war, sagte ich zu Klara, daß Vater selbst in der Hölle nicht schwitzen würde, und sie antwortete, daß dieser Ort eine klerikal-kapitalistische Erfindung zum Zwecke der Terrorisierung des Proletariats sei. Ich mochte Klaras pompöse Sätze, auch wenn ich sie nicht immer verstand. Vater schienen sie zu amüsieren, und manchmal, wenn er in ausgelassener Stimmung war, diskutierte er mit ihr über Usancen des Klassenkampfes, und er war immer ungeheuer oben, und am Ende blieben alle Fragen offen.

Klara und ich waren seine Familie, loyale Staffage, jedoch nicht das zahlungskräftige Publikum, das er brauchte, um angemessen zu überleben. Hubert Wondraschek, in Brünn geboren, war Kapitalist ohne Kapital. Ein Betrüger in der Sprache der Justiz. Er habe etwas von Robin Hood, so erklärte mir Klara, als ich alt genug war, unsere Lebensumstände zu hinterfragen. Bis zu meinem fünfzehnten Lebensjahr waren wir mehr als vierzigmal umgezogen, quer durch die Republik, und ich hatte in Schlössern gewohnt, in Villen und Bungalows, in Luxushotels und leider auch in schäbigen Pensionen.

«Der Mensch braucht kein Zuhause, das ist nur etwas für Spießer», sagte Vater, wenn wir wieder einmal auf Kisten saßen, und natürlich sprach er für sich, denn Klara haßte Umzüge, die den Dreck hinter den Schränken enthüllten, den Staub auf den Bilderrahmen, kurzum die Spuren ihres unvollkommenen Wirkens in unserem Haushalt. Klara weinte stets, wenn wir ein Heim verließen, hinter dem letzten Packer mit dem letzten Karton, und sie zitterte, während Vater großzügig Trinkgelder verteilte, und blickte zurück, wenn wir abfuhren, drückte meine Hand und zitierte Shen Te, bis Vater ihr sagte, daß sie für den guten Menschen von Sezuan kein Talent habe. Ich fand das sehr ungerecht, denn Klara sorgte mehr oder weniger für mich, seit meine Mutter aus dem Haus war, dies eine Umschreibung meines Vaters für die Tatsache, daß sie uns beide verlassen hatte, als ich vier Jahre alt war.

Meine Mutter war aus dem Haus gegangen, weil sie einen anderen Mann als meinen Vater liebte. Lange verstand ich das nicht, was wissen Kinder von den Gefühlen Erwachsener, doch mit fünfzehn Jahren hatte ich lange genug mit meinem Vater gelebt, um ihr zu vergeben. Nicht ganz, nie ganz, doch wie konnte eine «Frau aus gutem Hause», wie Vater stets betonte, wie konnte sie die Fluchten ertragen, die Häutungen, all die Lügen, mit denen unsere Existenz verwoben war? Ich war ein Kind für lange Zeit und Klara eine sentimentale Kommunistin: Für mich war die Welt meines Vaters zunächst ein Abenteuerspielplatz und für Klara die natürliche Unordnung der Dinge unter dem Mond von Alabama.

Eine andere Stadt, ein anderes Haus, ein anderer Name: Kurz nach meinem sechzehnten Geburtstag zogen wir nach Hamburg in eine Villa an der Elbe, die sich in aller Pracht und Herrlichkeit dem Verfall hingab. «Ein klein wenig renovierungsbedürftig», sagte mein Vater, der sie von einer alten Dame gemietet hatte, die in ein Seniorenwohnheim gezogen war. Alte Damen fanden Hubert Wondraschek, der sich zu jenem Zeitpunkt Dr. Harald Werner nannte, unwiderstehlich. Viele der Häuser, die wir mieteten, gehörten Frauen, die nicht mehr jung waren. Er blendete sie mit seinem Auftreten, seinen Titeln, seinen Berufen. Er umgarnte sie mit levantinischem Charme. Er küßte ihre Hände und erwähnte beiläufig sein Privatvermögen, seine gesellschaftsfähigen Beziehungen, seine in jeder Hinsicht hervorragenden Eigenschaften als langfristiger Mieter eines überteuerten Objekts.

«Man muß sich die Häuser aussuchen, die schwer an den Mann zu bringen sind, dann sind sie bereit, alles zu glauben», sagte Vater, und der Erfolg gab ihm recht. Wurde ein Haus drei, vier Wochen in der Zeitung angeboten, rief er an, entweder beim Makler oder Eigentümer. Möblierte Immobilien und alte Damen bevorzugt, und wenn er auf zuviel Neugierde oder Mißtrauen stieß, brach er die Aktion ab unter dem Vorwand, daß ihm das Objekt nicht zusage. Es kam vor, aber nicht allzu häufig, denn sie machten es ihm leicht, meinem Vater. Er war so liebenswürdig. Auch zu mir war er immer liebenswürdig gewesen, von einer distanzierten Freundlichkeit, die unwillkommene Gefühle nicht zuließ. Der hingehauchte Gutenachtkuß auf die Stirn. Die leichten Fragen nach meinem Wohlbefinden. Seine Scherze, über die ich auch dann lachte, wenn ich traurig war. Seine Frauen, die mir Bonbons schenkten und sich dann mit ihm zurückzogen. Die Gesellschaften, bei denen ich mit weißer Rüschenschürze bedienen mußte, nachdem ich alt genug war, als Hausangestellte durchzugehen. Vater war ein großzügiger, stets gutgelaunter Mann, der von Klara und mir nichts weiter forderte als fröhliche Komplizenschaft.

Ich glaube nicht, daß meine Kindheit unglücklich war, auch wenn Klara manchmal das für mich schreckliche Wort «Halbwaise» gebrauchte. «Mama ist nicht tot», sagte ich dann und weigerte mich, über den praktischen Unterschied zwischen verstorben und abwesend nachzudenken. Sie war eines Tages einfach verschwunden, obwohl dies in meiner Vorstellung ein ungeheuer komplizierter, gewaltiger Schritt gewesen sein mußte. Sie war aus dem Schloß gegangen mit ihrem weißen Lederkoffer (dieses Detail schien Vater wichtig zu sein) und ließ nie wieder von sich hören. Sie hatte mir nichts hinterlassen außer ein paar Fotos, auf denen eine anscheinend glückliche Mutter ein Baby im Arm hält. Auch ihm, der behauptete, sie zu lieben wie keine andere Frau nach ihr – und die Behauptung war gehaltvoll, denn es gab viele Frauen nach ihr -, hatte sie nichts hinterlassen außer ein paar Hüten und Schallplatten. Mein Vater war ein Mann, der kein Talent zur Trauer hatte. In meiner Erinnerung gab es keine Familientragödie, nur ein Vakuum, das er ausfüllte, indem er Klara fand, die fortan seine häuslichen Geschäfte führte.

Später, als ich erwachsener war, erzählte er mir von Mutters Liebhaber, der Sänger gewesen sei, ein «langhaariger Barde», wie er präzisierte. «Sie war zu romantisch veranlagt für die Ehe», sagte Vater und wies damit jede Schuld von sich. Dennoch sprach er nie schlecht über meine Mutter. Der einzige Vorwurf betraf die Tatsache, daß sie einen Schloßherrn verlassen hatte. «Die Wochen zuvor brachten es die Umstände mit sich, daß wir in einem Pensionszimmer logierten, sehr beengt mit einem Kleinkind, und dann fand ich dieses Schloß, Felicitas, genau der passende Rahmen für deine Mama. Es war ein traumhaftes Zuhause, erinnerst du dich? Der Park, die Auffahrt, das antike Mobiliar: Du konntest mit deinem Tretauto durch die Zimmerfluchten fahren, ohne anzustoßen. Und das hat deine Mama im Stich gelassen, weil sie glaubte, unsterblich verliebt zu sein.»

Ich erinnerte mich an ein rotes Tretauto. Nicht an ein Zuhause, denn die Zimmerfluchten und Parks und Gärten waren nie von einprägsamer Dauer gewesen. Genau wie Klara, wenn auch aus anderen Motiven, haßte ich ab einem gewissen Alter jeden einzelnen unserer Umzüge, auch jene aus schäbigen Zimmern in heruntergekommenen Pensionen, Aufenthalte, die Vater stets «Provisorium» nannte, obwohl mir doch alles in unserem Leben vorläufig und nie endgültig erschien.

Selbstverständlich jubelte ich beim ersten Anblick eines neuen Heims, so wie Vater es von mir erwartete. Und wenn wir wieder fortgingen, in eine andere Stadt, hob er mich hoch und versicherte strahlend, daß das Neue noch viel schöner und prächtiger sei, und ich glaubte ihm, weil ich keine andere Wahl hatte, weil er Mißmut oder Tränen nicht zuließ, weil ihm «schlechte Gefühle» zuwider waren. Vater war ein gnadenloser Optimist. Ein Clown. Ein Hochstapler. Einer, der die Gabe hatte, Menschen zu verzaubern, für eine Weile. Einer, der nicht anders konnte, als zu enttäuschen, hinterher. Wie sollte es anders gehen, zumal er in einer Welt lebte, die er nicht bezahlen konnte?

«Der Mensch ist gar nicht gut. Drum hau ihn auf den Hut.» Klara sang den Peachum, während sie das Haus an der Elbchaussee inspizierte. Sie beherrschte alle Rollen der Dreigroschenoper, seit sie die Polly gespielt hatte auf einer Provinzbühne des anderen Deutschland, das weder ihre künstlerischen noch politischen Träume zu erfüllen vermochte. Klara war eine Tunnelgängerin des zweiten Mauerjahres, und ihr damaliger Verlobter war bei der Flucht erschossen worden. Klara nannte es eine grausame Ironie des Schicksals, denn er war nur ihretwegen geflüchtet, aus Liebe, die zu allen Torheiten befähigt, so sagte Klara, die sich fortan Claire nannte und eine Karriere als Schauspielerin anstrebte, es bis zur hungrigen Statistin brachte und schließlich meinem Vater in die Arme lief, der ihr eine Rolle als Hausdame und Ersatzmutter anbot. Mutter Courage, auch diese Rolle liebte Klara, und ich liebte sie, selbst wenn sie uns immer wieder versicherte, daß sie gehen würde, sobald sie eine anständige Rolle bekäme.

Dreimal hatte sie ihre Drohung wahrgemacht, zum letztenmal, als ich zwölf war, und sie kam erst nach vier Wochen wieder. Sie sprach nicht über ihre Zeit der Abwesenheit, aber Vater meinte, daß sie einem Pornoproduzenten aufgesessen sei. «Claire liebt die Brechtschen Huren», sagte Vater, «aber für die Details dieses Berufs ist sie ungeeignet, wie die meisten Frauen.» Ganz verstand ich ihn nicht damals, aber ich dachte, daß mein Vater sich mit Frauen auskannte, mit Ausnahme meiner Mutter vielleicht. Auf den Fotos, die ich in einer Pralinenschachtel aufbewahrte, erschien sie mir überirdisch schön, ganz anders als Klara, die auf eine derbe Weise hübsch zu nennen war, öfter ihre Haarfarbe wechselte und jeder Modelaune anheimfiel, sofern Vater in der Lage war, ihr Gehalt zu bezahlen. Wenn kein Geld da war, war er besonders charmant zu ihr, zauberte Produzenten und Rollen aus seinem Zylinder der Lügen, und Claire spielte für ihn die loyale Genossin, die sich auch von finsteren Zeiten nicht schrecken ließ. Ich glaube, daß sie unsere Krisentage besonders mochte, weil er ihr soufflierte, daß sie eine Heldin des Proletariats sei, was ziemlich weit hergeholt war, da sich Vaters Krieg gegen den Kapitalismus als reiner Beutezug darstellte. Doch Klara glaubte auch daran, daß realistische Kunst kämpferische Kunst sei. An Krisentagen ging Claire ans Telefon und wimmelte Gläubiger ab; sie log an der Haustüre und überzog ihr Konto, um uns zu ernähren. An jenen Tagen war sie die Inkarnation aller Brechtschen Heldinnen, und niemand fragte nach dem Staub auf den Schränken und dem schmutzigen Geschirr. Wir wußten, daß eine Belagerung zu überstehen war; Vater war der Stratege und Claire das Bollwerk, und es galt, eine ehrenvolle Kapitulation auszuhandeln. Bis ich aus den Kindheitsträumen erwachte, erschien mir das Spiel aufregend; später empfand ich Angst und Scham, die ich zu verbergen suchte, weil solche Gefühle unerwünscht waren.

Ich durfte als erste mein Zimmer im neuen Haus aussuchen. Dies war mein Privileg, das Umzugsbonbon meines Vaters, und in der renovierungsbedürftigen Villa an der Elbchaussee wählte ich das Dachgeschoß, weil es weit weg von Klaras häuslichem Wirken und Vaters Repräsentationsräumen lag. Die Tapeten waren verblichen, doch der Holzboden knarrte aufregend, und der Blick auf den Fluß und die Schiffe entschädigte für das Mobiliar, das die Besitzerin wohl einst den Dienstboten zugedacht hatte.

Es gab nicht viel auszupacken, denn ich war keine Sammlerin wie viele Mädchen meines Alters. Ich war eine Wegwerferin, vermutlich, weil Bewahren absurd erschien in Relation zu unserem Lebenswandel, unseren Wanderungen, die nie ein Ziel hatten außer jenem, auf anderer Leute Kosten zu überleben. Spielzeug, Kleider, Kassetten, alles, was Vater im Übermaß kaufte, wenn er Geld hatte, ließ ich bei Umzügen zurück, weil ich glaubte, daß sich mit leichtem Gepäck besser reisen ließe. Klara schalt mich deswegen und führte die hungernden, spielzeuglosen Kinder der Dritten Welt an. Sie war ein guter Mensch, doch bisweilen anstrengend. Sie war meine beste, meine einzige Freundin. Aber Claire und ihr nie endendes Verlangen, auf der Bühne zu stehen, erfüllten meine Gefühle mit dem Gift des Zweifels. Als ich kleiner war, fragte ich sie jeden Abend, ob sie am nächsten Morgen noch da sei? Und wenn sie nickte, glaubte ich ihr nicht. Und wenn sie mit den Schultern zuckte, glaubte ich ihr. Jeden Morgen, als ich noch Kind war, erwachte ich mit der Angst vor ihrem Verschwinden.

«Man darf den Wert des Individuums nicht überbewerten», sagte Klara, und selbst als Kind verstand ich, daß dieser Satz überaus dumm war. Welchen Wert Klara für mich hatte, konnte sie weder ermessen noch schätzen. Und indem sie die Wirklichkeit verfremdete, schuf sie den theatralischen Rahmen für unerwiderte Gefühle. Meine Gefühle. Ihre Gefühle. Was immer mein Vater fühlte, für meine Mutter, für mich, für Klara, die Frauen, die ins Haus kamen: Das, was ich erkennen konnte, war blaß, gekräuselt und so schwerelos wie der Rauch seiner Havanna-Zigarren. Hubert Wondraschek alias Dr. Harald Werner nahm von allem das Beste. Wenn er es kriegen konnte.

Klara haßte das Haus am Fluß, weil es von einer Art war, die viele Dienstboten brauchte, um den Eindruck von Sauberkeit zu erwecken. Sie bevorzugte Neubaubungalows mit modernen kleinen Küchen, gefliesten Böden, funktionalen Einbauschränken und überschaubaren Vorgärten. Sie schimpfte auf den bourgeoisen Trödelladen, während sie die Arbeiter beaufsichtigte, die die Umzugskisten leerten. Klara mißtraute den Männern mit den schwieligen Händen und kompensierte ihre Schuldgefühle durch besondere Freundlichkeit, was in Verbindung mit ihrer prallen Ausstrahlung gelegentlich zu Mißverständnissen und sexuellen Übergriffen harmloser Natur geführt hatte. Den Geschlechterkampf sah Klara sehr pragmatisch. Männer wollen Sex, sagte Klara, und Frauen Romantik und Sicherheit. Und so würden Verträge geschlossen, die Liebe oder Ehe hießen, um das Unvereinbare zu verknüpfen. Und die Frauen würden draufzahlen, weil sie stets das Kleingedruckte in Verträgen ignorierten. Klara mochte ihre Wirkung auf Männer, aber sie mochte die Männer nicht. Mit einer Ausnahme: mein Vater. Mit sechzehn glaubte ich zu wissen, daß sie für ihn das Kleingedruckte akzeptieren würde. Doch Wondraschek, der Frauenheld, der große Verführer junger und alter Frauen, war blind für Klaras Liebe. Er kränkte sie mit seinen Affären und der Mißachtung ihrer großen Gefühle. Sie blieb bei uns, weil sie tragische Rollen mochte, zum Beispiel die der unentdeckten Schauspielerin und Liebenden.

Hubert Wondraschek oder Dr. Harald Werner stand auf der Terrasse und öffnete eine Flasche Champagner, so wie er es immer tat, wenn wir angekommen waren, und er trank mit uns auf das neue Zuhause, den vielversprechenden Anfang, den Erfolg. Die Scheu vor großen Worten kannte Vater nicht. Und wir wollten daran glauben, Klara und ich, daß dieses Mal alles gut gehen könnte. Frauen haben vor allem dies: die Fähigkeit, an Unmögliches zu glauben. Männer glauben, daß sie Unmögliches vollbringen. Zumindest mein Vater glaubte das, und er war der einzige Mann, den ich ein wenig kannte, besser als die Kurzzeitchauffeure und Gärtner, die Möbelpacker, Busfahrer, Schaffner, Lehrer, Mitschüler. In den einen oder anderen war ich verliebt gewesen in der Art junger Mädchen, doch jegliche Entfaltung der Gefühle oder Deflorationsgelegenheiten waren durch kurzfristige Umzüge vereitelt worden. Vaters Lebenswandel war mein Keuschheitsgürtel, auch wenn der italienische Chauffeur in Stuttgart der Sache sehr nahe gekommen war auf dem Rücksitz des Mercedes. Enrico hatte vergessen, die Hand bremse anzuziehen, als er mich auszog, das war die Crux, und als der Wagen durch das Schaukeln in Bewegung geriet, sah er sich veranlaßt, mit heruntergelassener Hose nach vorne zu hechten, ein komplizierter und akrobatischer Akt, den er bei nahe geschafft hätte, doch auf der leicht abschüssigen Waldstraße parkten Autos, und eines davon wirkte als Rammbock, bevor er die Handbremse erreichen konnte. Es knirschte sehr häßlich, als wir zum Stillstand kamen, und Enrico stieß italienische Flüche aus, während ich meine Jeans zuknöpfte und aus dem Wagen stieg. Ich machte mich davon und überließ dem Mann mit der beredsamen und hungrigen Zunge den Schaden. Es war mein erster Versuch eines eleganten Abgangs, und er war erfolgreich. Enrico wurde fristlos entlassen, doch sein Unglück hielt sich in Grenzen, da wir Stuttgart ohnehin vier Wochen später verließen, um nach Innsbruck zu ziehen. Von Innsbruck ging es weiter nach Bregenz, Salzburg und Wien, bis Geheimrat Dr. Weissmann, so nannte sich Vater in Österreich, beschloß, seine Zelte im Norden aufzuschlagen. Die Karawane zog murrend mit, denn Klara hatte sich in Wien ein Engagement versprochen, und ich hatte mich in meinen Deutschlehrer verliebt und ausnahmsweise gute Noten nach Hause gebracht, was zum Kauf eines Reitpferdes führte, das ich neun Wochen behalten durfte, bis das Geld für Extravaganzen zu knapp wurde. Der Geheimrat versprach mir ein neues, viel schöneres Pferd und verstand nicht, warum ich weinte. Klara sang beim Packen das Lied von der sexuellen Hörigkeit. Die Besitzerin des Hauses in Schönbrunn bekreuzigte sich, als wir auszogen.

Mein Vater reichte uns die Gläser mit seinem strahlenden Siegerlächeln. Wir waren in Hamburg, und Waterloo war noch ein gutes Stück entfernt. Die Sonne schien und wärmte den Rücken. Klara trug ein grünes Kleid zu roten Haaren, Wondraschek einen seiner grauen Zweireiher und ich Jeans und Pullover, Kleidungsstücke, die er als ärmlich einstufte und entsprechend verabscheute. Ich war in dem Alter, in dem ich seinesgleichen spießig fand. Andererseits wußte ich, daß Hubert vom Schein lebte, daß er die Uniform brauchte wie der Hauptmann von Köpenick, daß wir als Hochstaplerfamilie dem Kostümzwang des Kapitals unterlagen.

Die Kulisse war prächtig, doch die Mauern und Steinfiguren zeigten Risse des Verfalls. Das Haus ergab sich dem Alter und der Witterung, würdevoll und unausweichlich. Mein Vater rühmte den Charme und den Glanz alter Patrizierhäuser, die solide und großzügige Architektur, die liebevollen Details. Er konnte sich sehr lange zuhören, ohne an seinen Worten zu zweifeln.

«Du mußt an dich glauben, Felicitas, dann liegt dir die Welt zu Füßen.»

Ich sagte ihm, daß ich die Schule abbrechen wolle, da ohnehin keine Chance bestand, die Mittlere Reife zu schaffen.

Klara hielt ihr Glas fest und schielte auf die Packer. Vater trank sein Glas leer und stellte es vorsichtig auf einen Marmorsockel. Meine Schulverweigerung gehörte zu den Themen, die er verabscheute wie alles Konkrete, Unangenehme, wie Krankheit oder Tod. Mein Widerspruch war so uncharmant, und wußte er nicht am besten, daß akademische Titel verführerisch und gewinnbringend wirken? War ich etwa zu dumm für die Schule? Zu schwach für die Schulwechsel? Nein, ich war intelligent, aber faul, und ich hatte noch zu lernen, mich in einer feindlichen Welt zu behaupten. In einer Welt, die er um mich herum geschaffen hatte, ergänzte ich, und er sah mich mit jenem Blick an, der Gläubigerherzen zu erweichen pflegte. Der enttäuschte, gekränkte Vater war keine seiner bevorzugten Rollen, doch er beherrschte sie mit jenem Minimum ah Glaubwürdigkeit, das mich immer noch zu schwachem Applaus nötigte.

«Wissen ist Macht», ergänzte Klara die Diskussion in ihrer unnachahmlichen Art, in Phrasen oder Zitaten zu sprechen. Ich versuchte zu erklären, daß das Wissen, das man mir in mehr als einem Dutzend Schulen zu vermitteln versucht hatte, jenseits aller Machtansprüche lag. Ich war zweimal sitzengeblieben. Ich konnte lesen, schreiben und rechnen. Ich wußte, wie man Hummer aß und Rotwein dekantierte. Ich konnte iranischen von russischem Kaviar unterscheiden, und meine Tischmanieren waren makellos. Ich beherrschte die leichte Konversation und ein wenig Brechtsche Dialektik. Ich war ein Wesen von absurder, unvollkommener Bildung, doch das wußte ich nicht mit sechzehn Jahren. Man weiß nichts und glaubt, alles im Griff zu haben.

Mein Vater fragte mich, ob ich etwa arbeiten wolle? Das Wort klang unanständig, so wie er es aussprach. Wir waren eine unanständige Familie, doch in dem Gebäude seiner Lügen hätte jedes wahre Wort zum Einsturz geführt.

«Ich dachte, daß ich mir eine Lehrstelle suche. Kellnerin oder so. Die Schule interessiert mich nicht mehr.»

«Sie ist verrückt», sagte mein Vater zu Klara.

«Warum wirst du nicht Schauspielerin?» fragte sie.

«Ich werde die eine oder andere Beziehung spielen lassen. Vielleicht findet sich etwas Angemessenes für meine Tochter.»

Wenn wir zu dritt waren, sprach er mit Klara manchmal über meinen Kopf hinweg, und ich haßte es. Ich haßte es, wie er uns zu täuschen versuchte, die wir doch wußten, daß seine guten Beziehungen stets von kurzer Dauer waren und mit einer schmerzlichen Enttäuschung für seine Partner endeten. Ich haßte ihn dafür, daß ich ihn liebte, meinen Vater. Die Gefühle einer Sechzehnjährigen sind selten originell und geprägt von schmerzvollem Erwachen aus Kindheitsträumen. Wenn Klaras Version des Vertrags stimmte, der in Sachen Liebe geschlossen werden mußte, so hatte er ihn aufgesetzt zu seinen Bedingungen, und ich erfüllte ihn, weil ich ihm ausgeliefert war. Liebe braucht Bewunderung oder zumindest Respekt, und anders als Klara sah ich ihn nicht als Opfer des Systems, edlen Gesetzlosen, als Revolutionär, der das System von innen bekämpfte. Alles läßt sich glauben, verneinen, hinnehmen, bekämpfen. Wondraschek war ein Betrüger. Mich hatte er um meine Liebe betrogen.

Draußen brachten die Handwerker ein Schild an, auf dem sein falscher Name stand, und darunter das, was er als seinen Beruf bezeichnete: Vermögensberater. Dr. Harald Werner beriet Menschen, ihr Vermögen verlustbringend anzulegen, zum Beispiel in Wertpapieren, die nichts wert waren, Aktien von Scheinfirmen oder Beteiligungen an Projekten, die sich nie materialisierten. Viel Geld suchte sich seinen Weg an der Steuer vorbei in Verheißungen hoher Rendite. Alles, was über zehn Prozent lag, war verlockend, und alles unter achtzehn Prozent im Rahmen des Glaubwürdigen. Sagte Vater. Viel Geld wollte mehr Geld, und der Vermögensberater ließ teure Broschüren drucken, um die Gierigen zu ködern, und wenn er sie an der Leine hatte, ließ er die Goldfische zappeln, ja er ließ sich geradezu bitten, sie in die Geheimnisse seiner vorgeblichen Geldvermehrung einzuweihen. Sie glaubten einem, der mit dem Vorstandsvorsitzenden der Deutschen Bank telefonierte, während sie bei ihm waren, doch in Wahrheit war es Claire, die Gute, die ihre Stimme verstellte und jene Anrufe tätigte, die Vaters Kundschaft so imponierten. Sie saßen gefälschten Briefen und fingierten Gutachten auf, weil sie glauben wollten. Der Schein war alles, und das Geld glänzte, blendete, verführte zu Illusionen, die der Gaukler aufrechterhielt, solange es eben ging.

Solange es ging, bezahlte er die Rendite aus Zinserträgen und neuen Anlagen. Solange sein Schneeballsystem funktionierte, glaubte er an die Smaragdmine in Sambia, die Ölquelle in Venezuela, die Recyclingfirma in Tschetschenien. Er glaubte, daß etwas, das er erschaffen hatte, sich materialisieren müsse, weil er das Wunder vollbracht hatte, andere davon zu überzeugen. Er glaubte, er sei Gott.

Klara glaubte an Anarchisten und Revolutionäre, die Christusgestalten unter den Kommunisten, bevor sie Funktionäre des Glaubens wurden: satt, dogmatisch, machterhaltend. Vater fütterte sie mit den Worten, auf die sie hungrig war, und so fügte sie ihn in ihr Weltbild der Wunder, in dem einer wie er die Kapitalisten das Fürchten lehrte. Claire war seine einzige Komplizin, weil er der Gier eines Partners nicht traute in einem Geschäft, das auf Gier aufgebaut war. Sie war Familie, und in seiner seltsamen Prioritätenliste mußte er gedacht haben, daß eine, der er sein Kind anvertraute, auch in Geschäften zuverlässig war. Claire spielte mit, weil sie diesem Gott glaubte. Ich war immer nur Statistin gewesen oder das Wesen auf den Wolken, die er zusammenschob. Es regnete gutes Leben, wenn die Geschäfte liefen. Putzfrauen wurden eingestellt, Köchinnen und Gärtner. Es gab Partys und Abendessen, Claire kaufte sich Kleider und Vater eine neue Limousine, und er überhäufte mich mit Geschenken, die meine Schulkameradinnen beeindruckten, die nie meine Freundinnen wurden, denn soviel Zeit ließ er mir nicht in einer Stadt, in einer Schule, in einem Haus.

Es ging so lange gut, als neue Investoren sein System finanzierten: gutsituierte Witwen, denen das Schweizer Nummernkonto zu wenig zinsträchtig schien, Ärzte und Apotheker, Handwerker und mittelständische Unternehmer. Der Vermögensberater inserierte nicht, sondern baute auf Mundpropaganda, was ihm diskreter und sicherer schien, jedoch den Kundenkreis beschränkt hielt. Und so war die Götterdämmerung vorgegeben, wenn der Kreis sich schloß. Wenn er nichts mehr auszuschütten hatte, zog er das Ende hinaus, indem er Geschichten erfand von verzögerten Transfers, Irrtümern der Bank, explodierenden Ölquellen oder politischen Intrigen in Tschetschenien. Je unglaublicher eine Geschichte war, desto eher glaubte man ihm.

Er hingegen erkannte, daß er kein Gott war, und schloß den Pakt mit dem Teufel. Drei, manchmal fünf Monate hielt er den Belagerungszustand durch, vertröstete, versprach, zog alle Register seiner Täuschungskünste. In dieser Zeit nahm er Kredite auf bei verschiedenen Banken, und dann trat Phase drei in Kraft: der Kniefall des betrogenen Betrügers.

Der Vermögensberater besuchte seine Kunden und sagte ihnen, was sie bereits ahnten oder wußten: daß sie einem Bankrotteur aufgesessen waren. Nicht er, seine ausländischen Partner seien die Schuldigen. Er, der in gutem Glauben gehandelt habe, versuche nun zu retten, was zu retten sei. Aus ethischen Gründen und um seinen Namen reinzuwaschen. Die Geschichten variierten, aber nicht im Kernpunkt: Er schlug einen Kompromiß vor, eine gütliche, ja beinahe gütige Einigung, indem er anbot, einen Teil des eingezahlten Geldes in bar zurückzuzahlen. Hier, bitte, der Einblick in seine Vermögenswerte. Wenn er, wie es die Gerechtigkeit gebot, alle Kunden befriedigen wollte, mußten sie von ihren Forderungen Abstriche machen. Zwischen dreißig und siebzig Prozent: Er feilschte, bettelte, drohte. Er schilderte die Folgen einer Anzeige, die seinen Kunden die Steuerfahndung ins Haus brächte. Er setzte sich eine Pistole an die Schläfe. Sie war nur ein Spielzeug, aber er spielte überzeugend den Ruinierten, Betrogenen, den potentiellen Selbstmörder. Und sie, die noch einmal betrogen wurden, spielten mit.

In der dritten Phase, in der es um seine Haut ging, wuchs er über sich selbst hinaus, mein Vater, der Betrüger. Sein System hatte nur einen Makel: Am Ende, wenn alles abgewickelt war, stand er mit leeren Händen, oft mit Schulden da. Das Personal, der geleaste Luxuswagen, die geborgte Büroeinrichtung, alles löste sich auf in nichts. Denn anders als die wirklich großen Anlagebetrüger hielt Wondraschek sein Spiel in Grenzen. Er hinterließ nicht verbrannte Erde, sondern begrenzte Schwelbrände. Die Anleger leckten ihre Wunden, doch sie schrien nicht nach der Feuerwehr. Vater war sehr stolz darauf, daß es nur ein einziges Mal in seiner Karriere zu einer Anzeige gekommen war, die sich mit einer hohen Geldbuße erledigt hatte.

Das System erlaubte meinem Vater zu glauben, daß er kein Betrüger sei, sondern Geschäftsmann. Anlageberater, Erfinder, Illusionist, Schauspieler, Anarchist. Er war vieles, doch am Ende blieb nichts zurück außer der Befriedigung, es wieder einmal geschafft zu haben. Wenn das Spiel zu Ende war und er sich ausgebrannt in sein Büro zurückzog, um ein neues zu ersinnen, war es oft so, daß wir die Miete nicht mehr bezahlen konnten, und eine zweite Belagerungswelle begann, in der unser guter Mensch die Eigentumsverhältnisse als die Wurzel aller Übel bezeichnete. Die Eigentümer sahen die Sache anders, und sie hatten keine Scheu davor, Klaras Vorurteile gegen die besitzende Klasse zu bestätigen. Ihr Problem war der Rechtsstaat: Der Rechtsstaat erlaubte einem Vermieter nicht ohne weiteres, seinen Mieter vor die Tür zu setzen, selbst wenn dieser nicht bezahlte. Es galt, einen Titel zu erwirken, um eine Kündigung durchzusetzen, und dies konnte bis zu einem halben Jahr, manchmal auch länger dauern auf dem Rechtsweg. Ausnahmsweise, so Klara, schütze das Gesetz die Schwachen vor den Starken. Wir waren die Schwachen, das kam mir bisweilen komisch vor, und dann auch wieder nicht. Wir Schwachen lebten in feinen Häusern, und Klara drohte renitenten Vermietern mit Vandalismus. Sie kochte Kartoffelsuppe mit Würstchen und schrieb den Anwälten der Vermieter, daß es deren Mandanten laut Mieterschutzgesetz nicht erlaubt sei, Strom oder Heizung abzustellen.

In jenen Zeiten temporärer Armut erblühte Klaras klassenkämpferisches Wesen in voller Pracht. Vater grübelte über ein neues Projekt, diskutierte mit Claire über philosophisch-politische Fragen und überließ ihr die Abwimmlung von Vermietern sowie die Begleichung ausstehender Rechnungen. Ich hatte Angst. Ich schlich morgens aus dem Haus und schwänzte die Schule, weil ich wußte, daß ich sie ohnehin bald verlassen würde und daß nichts, was die Erwachsenen mich lehrten, die Wirklichkeit aufheben konnte.

Der Abstieg vom Gymnasium zur Real- bis zur Hauptschule vollzog sich in Umzugsetappen. Ich war eine schlechte Schülerin; manche Lehrer meinten, daß ich eine hochbegabte Versagerin sei, andere unterzogen sich nicht der Mühe, hinter mangelnden schulischen Leistungen nach Ursache und Wirkung zu fragen. Gegen herrschende Ideologien machte ich Brecht geltend: Eins ist nicht gleich eins, um in bestimmter Weise zu handeln.

In Hamburg, am Tag unseres Einzugs, beschloß ich, die Schule zu verlassen und auszuziehen, sobald ich Arbeit gefunden hatte. Daß ich nur den ersten Teil meines Beschlusses verkündete, beruhte auf Feigheit. Vater war, wie immer in einer neuen Stadt, strahlender Laune. Klara ließ sich, wie stets, mitreißen. Ich erlebte die dreißigste Aufführung eines Stückes, in dem Napoleon Mutter Courage verführt. Sie hatte ihre Kinder nicht schützen können. Klara machte nicht einmal den Versuch, es zu tun.

Die Hochstaplerin

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