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4. Kapitel

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Mein Name verhieß Glück, doch ich glaube nicht, daß ich ihm gerecht wurde oder daß jemand das Recht hatte, dies von mir zu erwarten. Heinrich tat es in seinem kindlichen Glauben an die Kraft der Gefühle. Und für eine Weile, für eine schöne Weile teilten wir die Illusion. Es war eine fast sprachlose, sanfte, beschützende Liebe, in der wir einander alles verziehen, was wir nicht waren.

Heinrich war kein Idiot, nur weil er langsamer dachte als die anderen und niemals etwas sagte, nur um das Schweigen auszufüllen. Er war ein Boxer, auch in der Sprache: abwarten, ausweichen, die Chance ergreifen, den richtigen Schlag führen, Verbale Attacken steckte er ungerührt ein, vieles erreichte ihn nicht. Es war, als habe er zwischen sich und die Welt einen Punchingball gesetzt, der Worte auffing und in Schweigen verwandelte. Seiner körperlichen Kraft war sich Heinrich bewußt, und er ging vorsichtig damit um. «Oft genügt es, wenn du sie ansiehst, wenn sie spüren, daß du keine Angst vor dem Kampf hast. Wenn es nicht anders geht, mußt du zuerst zuschlagen, dann aber richtig. Es gibt keine zweite Chance, wenn du nicht schnell genug bist.»

An meinem achtzehnten Geburtstag schenkte mir Heinrich Boxhandschuhe, und wir trainierten in seinem Wohnzimmer, weil ihn in der Boxschule die Leute irritierten; er brauchte nicht mehr als einen Gegner – sich selbst. Und eine, die er lieben konnte. Ich fragte ihn nicht nach anderen Frauen, nach seiner Vergangenheit, und er schien sich nicht dafür zu interessieren, woher ich kam und wer ich war. Das Jetzt war das Merkmal unserer Beziehung, das Essen, Trinken, Lieben. Das Boxen. Ich sah ihm gerne zu dabei, weil er sich verwandelte vor dem Punchingball und seine Grobschlächtigkeit abstreifte wie ein Kleidungsstück, das ihn behinderte. Der Boxer war ein schneller, konzentrierter, intelligenter Mann. Der Türsteher und Rausschmeißer hieß King Kong, und er erduldete diesen Namen wie die lange Zeit des Wartens vor der Bar, die Sticheleien, Streitereien, den dosierten körperlichen Einsatz bei der Zähmung renitenter Gäste. Er brauchte die Arbeit, weil er Geld verdienen mußte, um zu leben. Geld bedeutete ihm nicht mehr als die Befriedigung seiner bescheidenen Bedürfnisse.

Heinrich besaß keinen Wagen, keinen Fernsehapparat, keine Stereoanlage, nur ein altes Radio. Er trug abgewetzte Cordhosen, karierte Hemden und Pullover sowie Turnschuhe, die er erst dann ersetzte, wenn die Sohlen abfielen. Er war ein besitzloser Exzentriker, ein Idiot in den Augen der anderen, und sie machten ihre Witze über uns, über King Kong und Jane oder die Schöne und das Biest, und er ließ sie an sich abtropfen wie die Schweißperlen beim Boxen. Diese seine Gleichmut irritierte mich ebenso wie sein Schlürfen und Schmatzen beim Essen, auch wenn ich nicht mehr erbrechen mußte, wenn ich ihm dabei zusah.

Vollkommen war er nur, wenn er boxte, und ich dachte, daß man sich auf das eine, das herausragende Talent im Leben konzentrieren muß, um nicht verlorenzugehen. Nur leider besaß ich keines, war nicht mehr als jung und gut gebaut, mit grauen Augen und schwarzen Haaren und einem Gesicht, das sie hübsch nannten. Heinrich fand mich schön. Indem er mich auf ein Podest der Bewunderung stellte, stärkte er mein Selbstbewußtsein und machte sich kleiner, als er war. Der Boxer hatte in der Liebe keine Taktik entwickelt, und so, wie er seine Gefühle austeilte, war vorauszusehen, daß ich mit besserer Deckung den finalen Schlag führen würde.

Im «Walfisch» wagte keiner mehr, mich anzufassen, zumal er mich jeden Abend oder Morgen abholte und sich herumgesprochen hatte, daß ich einen Beschützer besaß. Meine beiden Angreifer, so hörte ich, hatten beim Eintreffen der Polizei von einem kleinen Streit und einem Unfall mit dem Messer gesprochen. Die Zeugen widersprachen nicht. Es waren keine Griechen, wie ich angenommen hatte, sondern Albaner, die als Dealer bekannt waren. Die Stichwunde war ambulant behandelt worden, und ich bedauerte die Geringfügigkeit dieser Verletzung. Die Leute erzählten, daß die beiden Rache geschworen hatten und nur auf eine Chance warteten, es King Kong heimzuzahlen. Doch gab es viele solcher Geschichten im «Walfisch», Männergeschichten um Gewalt und Geld, Frauengeschichten um Gewalt, Liebe und Geld, und nur die Furchtsamen ließen sich von Worten erschrecken.

Am Hafen wußte man alles über alle, die sich im Milieu bewegten. Elfie erzählte mir, daß Heinrichs kometenhafte Boxerkarriere abrupt endete, nachdem er einen Boxpromoter krankenhausreif geschlagen hatte. «King Kong kapierte nicht, worum es im Geschäft ging», sagte Elfie und deutete mit dem Zeigefinger auf die Stirn. « Aber man weiß ja, daß die Bekloppten besonders geil sind.»

«Wir treiben es zwölfmal am Tag», sagte ich, während wir die Salzstreuer mit dem Zahnstocher säuberten.

«Sag bloß.»

«Doch», sagte ich. «Er kann einfach nicht aufhören. Und trägt dabei Kondome, die wie Boxhandschuhe geformt sind.»

Es war einer jener Tage, an dem ich am liebsten nicht aufgestanden wäre und es dennoch tat am späten Nachmittag, nach einmal Sex, kondomlos, und Frühstück im Bett. Der Boxer lag schwer auf mir, nachdem sich meine Angst verloren hatte. Seine Fürsorge wurde lästig, und sein Schweigen anklagend. Ich war mir nur undeutlich bewußt, daß ich Macht ausübte in unserer Beziehung, indem ich ihn straflos verletzte mit Worten oder Verweigerungen. Ich war nicht böse, und doch war ich es, in King-Kong-Laune, und draußen trieb der Hamburger Regen, der nie aufzuhören schien. Heinrich hielt den Schirm wie ein Schutzschild, als er mich zur Arbeit brachte, doch ich hatte keine Angst, von einem Regentropfen erschlagen zu werden.

Es war einer jener Tage, an dem im «Walfisch» gereizte Stimmung überwog, jede mit jedem stritt und das Essen ebenso abscheulich war wie die Gäste, die sich darüber beschwerten. Als einer von ihnen seinen Fuß ausstreckte, über den ich mit vollbeladenem Tablett flog, und sie lachten, als ich am Boden lag, als der Chef mir die Schuld gab und keine Kanonenboote in Sicht waren, stand ich auf und sagte: «In diesem Drecksladen bleibe ich keine Minute länger.» Da hörten sie auf zu lachen, und der Besitzer redete auf mich ein, doch ich blieb stumm und ging.

Ich ging in Heinrichs Wohnung, er war an seinem Arbeitsplatz, wo stumpfe Frauen mit den erotischen Phantasien der Männer spielten, wofür ein Mann, der Betreiber, den Hauptanteil kassierte. Der Boxer hatte mich nur ungern in die Bar mitgenommen, doch kam ich immer wieder, aus Neugierde erst und dann aus Interesse, denn im Halbdunkel auf meinem Platz neben dem Scheinwerfer ließen sich die Männer besonders gut beobachten. Der Striptease auf der Bühne verlief parallel zu der Entkleidung der Gesichter; sie waren sich einig mit ihrer Lust, die Männer, während die Frauen spielten, täuschten, manche besser, manche schlechter, in der Mimik niemals erotisch entgleisend, doch wer sah schon einer Stripperin ins Gesicht, wenn sie mit den Brüsten rotierte und mit den Händen an ihrem Körper spielte?

Jenseits aller sozialkritischen Komponenten beschäftigte mich die Frage, ob die Kontrolle über die Lust erstrebenswerter war als das Ausleben derselben, die Position der Frauen besser oder schlechter als jene der Männer, und ich kam zu dem Schluß, daß den Frauen zu einem klaren Sieg die Verfügungsgewalt über ihr Kapital fehlte. Solange sie nicht nach ihren Regeln und zu ihren Konditionen agierten und die Besitzer und Zuhälter den Löwenanteil kassierten, war ihre sexuelle Überlegenheit nichts wert. Wenn die Ware verbraucht war, wenn sie alt und fett wurden, gingen sie nebenan in den S&M-Club, wo sie sich in Leder zwängten und erregt wimmernde Männer auspeitschten, und sie taten es mit ebenso gelangweilten Gesichtern und ausweglosen Gedanken. Dort, wo es immer nur abwärts ging, geschah der Betrug an sich selbst und den anderen fast unverhüllt. Es war keine Karriere, die mir erstrebenswert schien, ebensowenig wie die Arbeit als Serviererin; das Dienstleistungsgewerbe, in welcher Form auch immer, stand dem selbstbestimmten Handeln in zermürbender Weise im Weg. Nicht das Bewußtsein ist entscheidend, sondern das gesellschaftliche Sein. Ich wollte nicht wie Klara sein oder wie Vater, nicht wie die Serviererinnen im «Walfisch» oder die Stripperinnen und Huren am Hafen. Nicht wie der Boxer, der sich gegen die Welt immunisiert hatte, einfältig, demütig und stark. Diese Art von Stärke besaß ich nicht; er hatte mir nur beigebracht, präzise zuzuschlagen, geschickt auszuweichen und einzustecken, was nicht zu vermeiden war.

Als ich meinen Koffer gepackt hatte in Heinrichs Wohnung, hämmerte ich gegen den Punchingball, weinend und wütend, weil ich den Mann nicht verletzen wollte und es dennoch tat. Dann legte ich die Boxhandschuhe auf den Tisch. Das Wissen um einige tausend Mark, die er in einem Socken aufbewahrte, war eine kurze und heftige Versuchung, der ich widerstand. Auf einen Zettel schrieb ich, daß er sein Geld endlich zur Bank bringen solle und daß ich ihn in einem ungerechten Kampf ausgezählt hätte, was mir leid tue, aber nicht zu ändern sei. Ich schrieb in Druckbuchstaben, denn Heinrich hatte Schwierigkeiten mit dem Lesen.

Ich fuhr mit dem Taxi zur Villa, wo Klara mir die Tür öffnete, und an ihrem heiteren Gesicht sah ich, daß sich die Dinge zum Schlechten gewendet hatten. «Er ist in seinem Arbeitszimmer, stör ihn jetzt besser nicht», flüsterte Klara, nahm mir meinen Koffer ab und ging voraus in mein Zimmer, das unverändert geblieben war.

Ich erwartete nicht, daß sie mich fragte, wo ich die letzten vier Monate gewesen sei. «Ich habe Vater nie gestört», sagte ich, als sie den Koffer absetzte. «Er hätte es nicht zugelassen, Klara. Wie stehen die Finanzen?»

«Nicht zum besten.» Klara lächelte. «Es gibt keine neuen Kunden mehr, und die alten wollen bedient werden. Wir befinden uns in der Phase der Konsolidierung. Allerdings gibt es diesmal ein kleines Problem.»

Ich legte mich auf mein Bett, ein Bett für mich allein. Nichts gegen Sex, aber Wiederholungen machten die Sache nicht besser. Oder die Schwere der Männer, wenn sie oben waren. An Heinrich war nichts Leichtes gewesen, doch ernster noch war die Leichtigkeit meiner Gefühle. Ich hätte gerne mit Klara über den Boxer gesprochen, doch sie wollte über Vater reden. «Hat er Ärger mit Beate? Will sie ihn etwa heiraten?»

«Aber nein. Diese Geschichte ist längst vorbei. Ein Flittchen, ich bitte dich. Eine Anlegerin aus München macht Druck. Es geht um dreihunderttausend Mark. Ihr Exmann ist Baulöwe, und er war in Kenia. Er hat mich heute angerufen und gedroht, die Polizei einzuschalten. Wirklich sehr unerfreulich.»

«Du meinst, er hat eine Ferienanlage besichtigt, die es nicht gibt.»

Klara packte meine Kleider in den Schrank. Ein leichter Staubfilm lag über den Möbeln, auch dies ein Hinweis darauf, daß es abwärts ging. «Na ja», sagte sie, «es hat Verzögerungen gegeben wegen der Baugenehmigung, das habe ich ihm zu erklären versucht. Bei einem Projekt dieser Größenordnung muß man Terminverschiebungen einkalkulieren, das ist ja wirklich nicht so schwer zu begreifen.»

«Hat er dir etwa nicht geglaubt?»

Gegen Ironie war Klara absolut gefeit. «Dr. Freiser will nach Hamburg kommen und die Einlage in bar kassieren, plus Rendite. Er scheint ein eiskalter Geldhai zu sein.»

Das war komisch, aber auch Humor zählte nicht zu ihren Stärken. «Vater wird ihn schon herunterhandeln. Ich meine, die Situation ist doch nicht neu. Schwierige Anleger hat es immer gegeben.»

Klara lächelte. «Aber diesmal ist es anders. Dein Vater hat mit dem Geld spekuliert, an der Börse. Es sollte das ganz große Geschäft werden. Er wollte mir ein kleines Theater kaufen, ist das nicht unglaublich?»

Ich glaubte es nicht. Aber es war unerheblich, denn Klara erklärte mir, daß Vater anstelle großer Gewinne erhebliche Verluste erlitten habe. Laut Klara waren nur noch zweihundert-fünfzigtausend Mark auf den Konten; Gott war pleite. Nicht so pleite wie viele Leute am Hafen, doch wenn er kein Spielgeld hatte, mit den Anlegern über eine gütliche Regelung zu verhandeln, war die Lage ernst. Er wird alt, dachte ich, und vielleicht wollte er sich nach dem Supercoup zur Ruhe setzen, doch für das ganz große Geschäft war Wondraschek dann doch zu klein gewesen.

Kein Theater für Klara, vielleicht hatte er tatsächlich an eine großzügige Abfindung gedacht, um sie loszuwerden. Kein luxuriöser Ruhesitz am Starnberger See. Keine Jagdgesellschaften und keine jungen Frauen, die an der Großzügigkeit alter Männer Gefallen fanden. Klara, die in heiterer Gelassenheit eine ihrer stinkenden, filterlosen Zigaretten rauchte, schien den Ernst der Lage zu unterschätzen. «Was wollt ihr jetzt tun?»

«Er hat sich im Arbeitszimmer eingeschlossen und trinkt Cognac. Es wird ihm schon etwas einfallen.»

«Armut wird mit dem Tode bestraft, Klara.»

Mahagonny war eines ihrer Lieblingsstücke, während ich den Baal, den wortgewaltigen, anarchistischen, furchtlos verderbten Baal allen anderen Brechtfiguren vorzog. Klara sagte, daß ich herzlos sei.

«Besser kein Herz als dein Herz, Claire. Es schlägt immer für die falsche Sache. Es wird keinen Sieg des Proletariats geben. Du machst keine Schauspielkarriere. Und er wird dich nie heiraten.»

In einem Punkt hatte ich unrecht. Vater heiratete Klara, als er im Gefängnis saß, verurteilt zu sechseinhalb Jahren wegen Anlagebetrugs. Obwohl er seine Sache vor Gericht brillant vortrug, sehr viel beeindruckender als sein Pflichtverteidiger, war das Urteil unausweichlich, schließlich ging es um viel Geld, und in Geldangelegenheiten versteht die Justiz keinen Spaß. In der Urteilsbegründung sagte der Richter, daß der Angeklagte ein notorischer Betrüger sei, der keinerlei Reue gezeigt habe; seine Charakterisierung meines Vaters war sehr präzise, nur verstand er nicht, daß Wondraschek sich für Gott hielt, gelegentlich, und daraus die Autonomie seines Handelns ableitete.

Während der Gerichtsverhandlung machte ich von meinem Recht, die Aussage zu verweigern, Gebrauch, während Klara als Zeugin der Verteidigung eine Katastrophe war. Marxistische Dialektik war im Lichte der Anklage ein verfehlter Monolog, und Klara, die ihren Auftritt sehr dramatisch anlegte, merkte nicht, wie sehr der Staatsanwalt sie mit seinen Fragen in die von ihm gewünschte Richtung lenkte. Daß der Beschuldigte bisweilen amüsiert lächelte, wurde nicht zu seinen Gunsten ausgelegt. Vater, im dunkelblauen Anzug, sah sehr schmal aus auf der Anklagebank. Er spielte seine demütige Rolle mit Bravour, so dachte ich, wenn ich ihm aufmunternd zulächelte. Wondraschek bewahrte Haltung, auch als sie seine Motive und Taten öffentlich ausbreiteten und verurteilten, ihn mit ihren Worten nackt auszogen, um ihm am Ende eine Kleidung zu verpassen, die seiner verwöhnten alten Haut nicht frommte. Was zu bedauern wäre, kam während der Verhandlung nicht zur Sprache: unsere Sprachlosigkeit von achtzehn Jahren; seine Großzügigkeit, die vor Dein und Mein nicht haltgemacht hatte; Vaters keineswegs vorgetäuschter Glaube an das Wunder der Geldvermehrung. Man erkennt es soviel leichter an anderen: Ihre Gerechtigkeit erschien mir selbstgerecht und ihr Urteil nicht angemessen. Als er vor Gericht stand, liebte ich meinen Vater, und ich glaube, daß er zum erstenmal meine und Klaras Loyalität zu schätzen wußte. Als er abgeführt wurde nach dem Urteil, umarmte er mich und flüsterte mir zu: «Was immer du tust, Felicitas, laß dich nicht erwischen.»

Klara Wondraschek fand Arbeit als Kassiererin im Theater, und sie räumte die Villa erst, nachdem die Besitzerin sie hinausgeklagt hatte. Einmal pro Woche besuchte sie Vater im Gefängnis, brachte ihm Zigarren und Essen aus dem Feinkostladen und erzählte mir am Telefon, daß Wondraschek im Gefängnis ein Wettbüro betreibe; es gehe ihm den Umständen entsprechend gut, er sei eben ein Mensch, der sich den Verhältnissen anpassen könne. Ich sah es anders, auch wenn ich unregelmäßig kam: Vater schrumpfte, jedesmal erschien er mir ein bißchen weniger, als ob er beschlossen habe, sich millimeterweise vom Leben zu befreien, das ihm nicht mehr die Wahl ließ, Gott oder Teufel zu sein. Wie bei Krankenbesuchen sprachen wir nicht über den Tod. Die Themen waren sorgfältig sortiert, fast schmerzfrei. Nein, ich war glücklich, daß er Klara geheiratet hatte, und er erhob keine Einwände gegen meinen Umzug nach München, in die Villa von Dr. Gerald Freiser.

Bauunternehmer, meinte Vater, sei ein spekulatives, jedoch sehr lukratives Geschäft. Ich erzählte ihm, daß ich Englisch- und Französischkurse besuche, mich für Kunst und Antiquitäten interessiere und sehr glücklich und sorglos sei. «Der Konsum raubt den Menschen die Seele», sagte Vater, und wir lachten darüber.

Es war das zweite Mal, daß ich mich aus Dankbarkeit verliebte, nur heftiger und ausdauernder, leidenschaftlicher und vernunftloser. Sofort. Als ich die Tür öffnete, weil Klara zur Post gegangen war und Vater nach wie vor sein Büro nicht verließ, als ich wütend über das ausdauernde Klingeln einen Spalt öffnete und er den Fuß in die Tür setzte, als er mich ansah, ohne etwas zu sagen, als ich sie weiter aufmachte, freiwillig, da ließ ich ihn herein. In mich. Sein Lächeln vielleicht oder der Sonnenstrahl auf roten Haaren. Die Sommersprossen neben seiner hübschen Nase. Es gibt keinen einzigen vernünftigen Grund für die Liebe. Keine Erklärung für die Erhabenheit der Idiotie, sich einem fremden Menschen gänzlich auszuliefern. Ich wußte, wer er war, denn Klara hatte mich vor dem Feind gewarnt: Gerald Freiser war gekommen, um Geld einzutreiben, das Geld seiner Exfrau, das ihm anscheinend noch etwas bedeutete.

«Mein Vater ist nicht da.»

Er wußte, daß ich log. Er folgte mir in die Eingangshalle, ich glaube, ich ging rückwärts. Er sagte: «Das macht doch nichts.» Er war groß und sehr rothaarig. Ein Lächeln, das strahlend zu nennen war. Klara hatte ihn als kapitalistischen Fiesling beschrieben, sie war so unpräzise in ihren Urteilen, und ich hoffte, daß sie bei der Post lange warten mußte. Die Standuhr tickte zu laut. Der Teppich, auf dem wir standen, war staubig, und ich schämte mich. Liebe muß perfekt sein, duldet nichts Unzulängliches in ihren gewaltigen Anfängen. Gerald Freiser sagte: «Ein schönes Haus. Es paßt zu Ihnen.»

Er hätte alles mögliche sagen können, ich hätte ihn dennoch mit auf die Terrasse genommen, ihm zu trinken angeboten, ihn zum Bleiben genötigt. Es war einer jener Sonnentage, die Hamburg in Venedig verwandeln. Er saß in Vaters Sessel, trank Gin Tonic und sah mich an. Liebende haben das Bedürfnis, sich mitzuteilen. Ich sagte: «Ich glaube nicht, daß Sie die Dreihunderttausend kriegen. Es ist etwas schwierig im Moment.»

«Ja, das verstehe ich.»

«Wirklich?»

«Ja. Außerdem ist meine Exfrau eine Hyäne mit zuviel Geld und zuwenig Verstand. Mein Mitleid hält sich in Grenzen.»

Das freute mich. «Klara sagt, daß Sie ihn anzeigen werden.»

«Nein. Es wäre nicht sehr effektiv, wenn er pleite ist. Handelt es sich bei Klara um die Frau am Telefon?»

«Ja. Sie ist eine Art... Sekretärin. Eigentlich macht sie alles hier. Klara ist sehr tüchtig.»

«Ja. Das glaube ich schon. Aber was hat Marx mit seinen Geschäften zu tun?»

Ich begann zu lachen, und er lachte mit, ein Duett des Gleichklangs, eine Symphonie des Glücks, das hysterische Gekicher der Verrückten. Und dann erzählte ich ihm von Klara. Von mir. Was man erzählt, wenn man gefallen möchte um jeden Preis, auch den der Lüge. Vater sparte ich aus, das kam später, als wir auf Sylt waren, in der «Strandhaube» Bommerlunder mit Pflaume tranken, gegen den Wind schlenderten, im «Pony» tanzten und weitertranken und den Zeitpunkt hinausschoben aus reiner Lust, weil es so nie wieder sein konnte, die Erwartung niemals mehr so groß, die Neugierde nicht so maßlos, die sexuelle Gier nicht so erotisch.

Gerald Freiser, sechsunddreißig Jahre alt, geschieden, liebte Felicitas Wondraschek. So sagte er, und so glaubte ich ihm, wie er auch mir glaubte. Zwei Tage blieben wir auf Sylt, wir waren mit seinem Auto weggefahren, bevor Klara zurückkam, ich hatte ihr nur einen Zettel hinterlassen, auf dem stand, daß sie sich in der Angelegenheit Dr. Freiser keine Sorgen zu machen brauche. Gerald lachte, als er meine Nachricht las. Dennoch meinte ich, ihm versichern zu müssen, daß er der erste Gläubiger sei, mit dem ich direkten Kontakt hatte. Ich sagte ihm, daß ich mit Vaters Geschäften nichts zu tun hatte, nie, war ich doch nur eine Laune seiner Natur, sporadischer Gast im Hause, unschuldig und bargeldlos. Ich hörte meinem Winseln zu und hoffte auf Gnade, für mich in erster Linie. Später sagte er mir, daß er mir mißtraut habe, doch einer wie er pflege eine Neigung zum Risiko, auch bei Frauen.

Ich war ihm dreihunderttausend Mark wert, die seiner Exfrau gehörten. Er sagte, daß sie das Geld verschmerzen könne, und ich war auf Sylt so ehrlich, ihm zu sagen, daß es vermutlich keine Rolle spiele, wer von Vaters Gläubigern den Stein ins Rollen bringe. Das System war zusammengebrochen. Ich war die Tochter eines Betrügers, der bankrott war. Das war keine gute Plattform für den Sprung ins Glück, doch Gerald warf mir Rettungsringe zu. Er fragte mich, ob ich zu ihm nach München kommen wolle? Und er bot an, Vater bei der Vermittlung eines Kredits zu helfen. Ich sprach nicht aus, was auch Gerald wissen mußte: daß das Beatmungsgerät nur von aufschiebender Wirkung sein konnte. Doch mein Liebhaber, der an die Macht von Millionen glaubte, weckte in Wondraschek Hoffnungen auf ein neues Wunder. Wenn er die geldgierige Meute durch Auszahlungen hinhalten konnte, blieb ihm die Luft, ein neues Projekt zu entwickeln. Windmühlen in der Sahara. Ölquellen in Sibirien. Eine Fast-food-Kette in Ungarn. Vater zauberte wieder, und Klara erzählte Märchen am Telefon, um die Gläubiger hinzuhalten.

Der Millionenkredit durch eine Münchner Bank war fast perfekt, als die Polizei an einem Montagmorgen kam, um das Haus an der Elbe zu durchsuchen. Sie waren sehr höflich, die Beamten, doch sie nahmen alles mit, auch die Festplatte des Computers. Klara beschimpfte sie als «Nazischweine», aber Vater brachte sie sofort zum Schweigen und entschuldigte sich bei den «Herren, die nur ihre Pflicht tun». Er wußte, wann er verloren hatte.

Einen Tag später standen die Geschichten um den «Anlagebetrüger» in Hamburger Zeitungen, später auch in überregionalen Blättern. Einer der Großkunden, mit einer halben Million im Spiel, hatte Klara am Telefon mißverstanden und geglaubt, daß Vater die Absicht habe, sich nach Kenia abzusetzen. Da war er zur Polizei gegangen, und seine Anzeige löste die Lawine aus, die nicht mehr aufzuhalten war. Klara und ich verschanzten uns im Haus, nachdem sie Vater abgeholt hatten. Gerald war der einzige, dem wir öffneten, und wenn wir abwechselnd ans Telefon gingen, wurden wir als «Betrügerhuren» beschimpft; die feinen Kunden waren in Erwartung schmerzlicher Verluste durchaus zu Unrat fähig. Es war eine traurige Zeit, aufgehellt durch Geralds sporadische Besuche. Er drängte mich, nach München zu kommen, und ein Jahr später, als Vater verurteilt war, willigte ich ein.

Vielleicht ist Liebe nichts als Neugierde: den anderen vollständig erforschen und verstehen wollen. Der Versuch, in Körper und Seele eins zu werden, sich aufzulösen und vom anderen Besitz zu ergreifen. Ein zum Scheitern verurteilter Versuch, der in Freundschaft oder Feindschaft endet, in Gewöhnung oder Unterwerfung, in erotischer Genügsamkeit oder sexueller Entbehrung. Ist die Neugierde befriedigt, setzt die Zeit der kritischen Überprüfung ein, der emotionalen Abgrenzung, der Manifestierung der Machtverhältnisse, der Entscheidung für wenig oder nichts. So scheint die Liebe Liebenden ein Halt, schrieb Brecht in einem seiner schönsten Gedichte, weil er in Liebesdingen ein realistischer Poet war.

Brecht war kein populäres Thema in Geralds Münchner Kreisen. Im Straußland pflegte man keine ungelegten Eier, sondern beschäftigte sich mit dem Ausbrüten von Geschäften, den Geschäften dienenden Beziehungen, den Beziehungen dienenden gesellschaftlichen Ereignissen. Die kulinarischen und kulturellen Veranstaltungen dienten einem heiligen Zweck: dem des Geldverdienens, und um die monetären Könige scharten sich der Hofstaat, die Clowns, die Schnorrer, Mätressen und Trommler der Neuigkeiten. Gerald Freiser, der Bauunternehmer, war ein Spezi unter Spezis, Herr über Gesellschaften mit beschränkter Haftung, Besitzer eines Anwesens in Bogenhausen. Mein Liebhaber. Ich hatte ihn lieb für eine gute Weile. Er war gut zu mir. Ich durfte mitgehen und mitreden, sein Geld ausgeben, seinen Rücken massieren, über, unter, neben ihm liegen, Partys organisieren, bei «Käfer» Tische bestellen. Seine Freunde, und er hatte viele Freunde, nannten mich «schöne Fee», und das Leben war schwereloses Vergnügen mit Dienstleistungskomponenten. Ich war für ihn da und er für mich, wenn ich zwischen seinen Beinen lag, ihn mit aromatischen Ölen einrieb, für ihn lächelte, wenn ein Parteibonze seine gierigen Augen in mein Dekolleté versenkte. Ich trug seinen Pelzmantel, seinen Schmuck, die von ihm ausgesuchte Spitzenunterwäsche. Er war für mich da, wenn ich Hunger hatte, und er bestimmte, wo wir ihn stillten. Er liebte mich, wenn er zuviel getrunken hatte oder im Spielkasino verlor. Das Leben war ein großer Spaß, solange die Kugel rollte, die Banken Kredite gaben und die Häuser wuchsen, um Gewinn abzuwerfen. Ein Objekt finanzierte das nächste, so war das Spiel. Spezis vergaben Aufträge und vermittelten die Finanzierung, niemals uneigennützig, versteht sich, denn eine Hand wusch die andere oder bezahlte sie. Es war die Zeit, in der Franz Josef in die DDR reiste, um den Milliardenkredit in die Wege zu leiten, und man munkelte, daß er Millionen an Provision kassiert hatte. Der Klatsch blühte um Geld und Sex. Die Welt war ein Selbstbedienungsladen, und wer nicht zugriff, war selber schuld. Die Journalisten wußten vieles und schrieben nicht viel. Zu beweisen war, daß das, was so viele taten, schlecht sein konnte. Ich vergaß Brecht. Es ist leichter zu vergessen, als sich zu erinnern. Es war leichter, sich treiben zu lassen, als gegen den Strom zu schwimmen. Leichter, nichts zu sein, nichts Gutes und nichts Schlechtes.

«Ein korrupter Sumpf», sagte Gerald über sein geliebtes München. Daß er ein Teil davon war, relativierte meinen Status als Tochter eines inhaftierten Betrügers keineswegs. Er hielt es mir nie vor, doch unausgesprochen stand es zwischen uns. Wenn jemand nachfragte, was selten geschah, denn daß ich Geralds Geschöpf war, genügte den meisten, dann sah er mich an und zögerte ein wenig, absichtlich, um dann zu antworten, daß ich die Tochter eines kenianischen Großgrundbesitzers sei. Ich erkannte die Ironie, doch natürlich auch die Grausamkeit. Er war ein Mann, der gerne lachte, ein gemütliches Lachen, doch meist ging es auf Kosten anderer. Die Hofharren, die seinesgleichen unterhielten, die Künstler und Köche, Assistenten und Zuträger, waren gehalten, gute Stimmung zu verbreiten, denn sich nicht zu amüsieren, kam einer Todsünde gleich.

Viele schnupften Kokain, um sich und andere bei Laune zu halten. Gerald hielt seinen Konsum unter Kontrolle, weil er Angst vor der Sucht hatte, vor dem Überschreiten jener unsichtbaren Grenze zwischen Sieger und Verlierer. Ich kokste manchmal, um sorgloser zu werden in diesem sorgenlosen Leben, doch zog ich den Alkohol vor, die kleine, legale Flucht vor nüchternen Gedanken. Manchmal hatte ich Sehnsucht nach dem Hafen, nach einem Punchingball und Heinrichs Boxhandschuhen. Nach Begegnungen, die nicht mit einem Bussi auf beide Wangen begannen, nach Gesprächen, die länger als fünf Sätze dauerten, nach Leuten, die mir zuhörten, statt über meine Schulter zu spähen, ob sie nicht jemanden verpaßten, der wichtiger war als ich. Manchmal vermißte ich einfach das Schweigen.

Ich war glücklich. Gerald liebte mich, und er war ein großzügiger Mann in Geldangelegenheiten. Er war eifersüchtig und wollte immer wissen, wo ich war und was ich tat. Ich gehörte zu ihm, nein, ich gehörte ihm. Ich durfte Kurse besuchen, während er Geld verdiente, gegen etwas Bildung hatte er nichts einzuwenden. Mir war erlaubt, auf der Maximilianstraße mit seiner Plastikkarte einzukaufen, mich im Fitneßstudio in Form zu halten und Golfstunden zu nehmen. Meine Hamburgbesuche sah er ungern, es wäre ihm nicht in den Sinn gekommen, meinen Vater im Gefängnis zu besuchen. «Sei mir nicht bös, Schatz, aber da würd’ ich Platzangst kriegen», sagte Gerald, und ich war ihm nicht böse, auch wenn ich manchmal zwischen ihm und Vater Vergleiche anstellte.

Gegen Ende des zweiten Jahres begann die Phase der kritischen Beobachtung. Vermutlich ging es Gerald ähnlich, aber wir sprachen nicht darüber. Wir sagten: Ich liebe dich. Machst du mir mal einen Drink? Wo sollen wir essen gehen? Gut siehst du aus. Ich liebe dich. Wie öde diese Party ist. Ina sah vor dem Lifting besser aus. Sollen wir auch ein Haus in der Toskana kaufen? Prost, Schatz. Ich liebe dich. Wie geht es dir? So eine Abtreibung ist ja doch ziemlicher Streß, auch emotional. Alles in Ordnung, Liebling. Fahr doch zu Bachmair ein paar Tage, um dich zu erholen. Ich liebe dich. Ich dich auch. Dann ist ja alles in Ordnung. Natürlich ist alles in Ordnung. Dann kannst du mir den Nacken massieren, Fee, ich hatte einen schlimmen Tag.

Die Gerüchte um den Bau eines neuen Flughafens elektrisierten alle Bauunternehmer, Immobilienmakler und Grundstücksspekulanten. Wohl dem, der Informanten in der Staatskanzlei hatte, hochrangige Schwätzer mit Eigeninteressen und subalterne Zuträger, die mittels Einladungen und kleiner Geschenke bei Laune gehalten wurden. Persönliche Assistenten von Ministern oder gut informierte Journalisten waren die Filetstücke in Geralds Sammlung, aber auch die hohen Herren selbst waren nicht unempfänglich für Schmeicheleien oder stille Beteiligungen an lukrativen Geschäften. Informationen waren so gut wie Gold, und sie flüsterten von Erding und schwärmten aus, die saftigen Wiesen und Weiden zu besichtigen und die Eigentümer zum Verkauf zu überreden. Wertlose Grundstücke waren es, noch, so lange, bis die Nachrichten durchsickerten, und Gerald lieh sich Geld von den Banken und kaufte, was das Zeug hielt.

Daß ich Inhaberin einer seiner Gesellschaften wurde, war eine Formalie. Gerald ließ mich Papiere unterschreiben, die ich nicht las, und wir machten Witze darüber, daß er jetzt mein Geld verdiene. Zu meinem einundzwanzigsten Geburtstag schenkte er mir einen Solitär, und meine Bekannten, die ich Freundinnen nannte, stießen kleine, spitze Schreie der Bewunderung aus. Am Abend meines Geburtstages betrog mich Gerald mit Mona, einer dunkelhäutigen Schönheit, die als Frau eines kokainsüchtigen Musikers auftrat. Die beiden kopulierten in unserem Ankleideraum, weil sie es offenbar nicht bis ins Schlafzimmer geschafft hatten. Mona stieß kleine, spitze Schreie aus, die ich vorher in anderem Zusammenhang gehört hatte, während Gerald sie wiederholt gegen meinen Wäscheschrank stieß. In ihrem Gesicht sah ich keine Leidenschaft, eher Triumph, und sie hielt ihre Augen offen und taxierte meine Kleider, die gegenüber auf samtüberzogenen Bügeln hingen. Gerald schätzte Licht beim Geschlechtsverkehr, doch kurz vor dem Orgasmus hielt er die Augen geschlossen, um sich besser konzentrieren zu können. Er sah mich nicht, doch Mona tat es, und sie lächelte mich an. Komplizenhaft, mit einer Spur von Genugtuung gewürzt, sagte ihr Lächeln, daß die Männer allesamt Idioten waren und man sie nehmen mußte, wenn sie kamen, des Geldes wegen, aus Macht, Spaß oder Liebe, aber niemals, weil Frauen ihren Sex brauchten.

Die Hochstaplerinnen lächelten einander an. Ich haßte sie. Gerald war betrunken, was keine Entschuldigung war, aber immerhin eine Erklärung. Er hatte viel getrunken in den letzten Wochen. Er war reizbar und nervös geworden, was er mit geschäftlichem Streß begründete. Er saß auf seinen Grundstücken, zahlte hohe Tilgungszinsen und hatte Probleme mit einem Büroneubau in der Innenstadt, die er mir nicht näher erläutern mochte. Mona steigerte sich in ihren Tönen und elastischen Unterleibsbewegungen. Ich ging, bevor er kam, so leise, wie ich gekommen war. Auf der Treppe hörte ich etwas, das nach einem Orgasmusschrei klang. Vielleicht hatte er ihr auch in die Brust gebissen, wie er es manchmal tat, wenn er sein Finale mit einem Hauch von Schmerz veredeln wollte.

Meine Geburtstagsparty war unverändert laut und lustig. Die schönen jungen Mädchen präsentierten ihre Körper auf der Tanzfläche in der Eingangshalle. Die älteren Herren standen an der Bar und sahen ihnen zu. Sie sprachen über Geld und dachten an Sex. Sie sprachen über Politik und dachten an Macht. Ich nahm ein Glas mit Whisky und redete mit dem Sohn eines bayerischen Bonzen, der wie ein Schwein aussah und vermutlich eines war. Er lobte mein silbernes Kleid und die Geschäftstüchtigkeit meines Gatten, und ich wies ihn darauf hin, daß Gerald und ich in Sünde lebten. Er sagte, daß er mich sofort heiraten würde, und ich fand den Gedanken nicht unfreundlich, denn seinem Vater sagte man die Vermögensbildung der korrupten Art nach. «Sagen Sie mir Zeit und Ort, und ich bin da.»

Mein Satz erschreckte ihn, ich sah es an seinem Gesicht. Sie mochten es nicht, wenn man ihr Geplänkel ernst nahm. Auch die mindeste Form von Wahrhaftigkeit löste Panik aus. Er sah sich hilfesuchend um und fand einen bedeutenden Regisseur, den er überschwenglich begrüßte. Die Gastgeberin zog weiter, Worte verteilend und ihre Wut unterdrückend. Was immer die beiden jetzt noch im Ankleidezimmer trieben, ging entschieden zu weit. Die Vorstellung, daß sie nach dem Sex ein Gespräch führten, empörte mich.

Monas Musiker saß auf einer Treppenstufe und litt ganz offensichtlich an Entzugserscheinungen. Er wäre attraktiv gewesen, wenn er sich nicht den Überdruß ins Gesicht geschrieben hätte. Das Leben ekelte ihn an und auch diese Gesellschaft, die er brauchte, um an Stoff zu kommen, an Weiber und Mäzene. «Eure Band ist grauenhaft», sagte er, als ich mich zu ihm setzte.

«Aber sehr beliebt. Außerdem kann man zu deiner Musik nicht tanzen. Mona und Gerald treiben es oben im Ankleidezimmer.» Ich wollte ihn leiden sehen, doch der Mangel an Kokain schien ihn mehr zu berühren als der Mangel an Treue, ein Wort, das ohnehin einen seltsamen Klang hatte in unserer Mitte, im Zentrum des Vergnügens, in dem Ernsthaftigkeit nicht geduldet wurde.

«Hast du den beiden zugeschaut? Sie hat einen tollen Körper, aber nicht viel Hirn. Mona leidet darunter, weißt du, und ihre Komplexe kompensiere sie mit sexuellen Eroberungen. Man darf das nicht tragisch nehmen. Das Leben, meine gute Fee, überfordert selbst die kleinsten Geister. Habt ihr etwas Koks im Haus?»

Ich schüttelte den Kopf und bot ihm meinen Whisky an, den er mit angewidertem Gesicht austrank. «Eine Scheißparty ist das hier», sagte er, und ich gab ihm ausnahmsweise recht. Ich war einundzwanzig Jahre alt, und mein Geburtstag war allen scheißegal, auch Gerald. Niemand kümmerte sich um den anderen, um die toten Hummer, die auf dem Buffet so grotesk aussahen, die zweihundert Wachteln, die fluchende Köche gefüllt hatten, die schwitzenden Kellner, die Abwesenheit des Gastgebers. Das Leben war ein niemals endendes Oktoberfest im Käferzelt, und ich saß neben der Tür. Ich fror zum erstenmal und zog in Betracht, daß die Kälte mich länger begleiten würde.

Mona kam die Treppe herunter. «Hübsche Klamotten hast du», sagte sie und ignorierte den Musiker, der ihre Garderobe nicht so üppig füllte, der seine Gagen in Kokain investierte und dem schönen, wiegenden Körper seiner Frau düster nachsah. «Sie sollte Geld dafür nehmen», sagte er, und ich stand auf, um mein Glas zu füllen. Alkohol, der große Betäuber, war ein vertrauter Begleiter geworden, er machte warm und unscharf, die Gesichter um mich herum wurden weicher und das Gerede vertrauter. Ich tanzte mit dem Feisten, der hauptberuflich Sohn war, und er ließ seine Hände über meinen nackten Rücken wandern. Nicht weil er wichtig war in Geralds Sammlung nützlicher Menschen, sondern weil ich Wärme brauchte, ließ ich ihn gewähren. Mona beherrschte die Tanzfläche mit Verrenkungen der animalischen Art. Es war schwer, sie sich als Punchingball vorzustellen, doch wenn ich die Augen schloß und die Fäuste ballte, gelang es mir. Der Feiste mißverstand dies als erotische Aufregung und schob mir sein Knie zwischen die Beine. Er hatte fette Knie. Wir waren so ausgelassen und verflucht verrucht.

Ein Teil von mir war vollkommen nüchtern, er beobachtete mich und die anderen und registrierte Angst. Mit kalten Sprüchen innen tapeziert. Die Angst vor ängstlichen Gedanken. Vor dem Alleinsein, das damit begann, die lichtdurchflutete Halle zu verlassen und ins Dunkel der Nacht zu gehen. Die Angst, sich alles abzuschminken, was schön, sorglos und eitel war. Ich dachte an Wondraschek, den man durch das Spiegelkabinett geführt hatte bis an das Ende eines langen Ganges in einen Raum, der sich nicht öffnen ließ. An Klara, die Theaterkarten verkaufte und in einem möblierten Zimmer hauste; sie hatte sich von Claire ohne Schmerzen verabschiedet. Die Grenze meiner Leidensfähigkeit setzte ich nicht sehr hoch an, doch man mußte lernen, sich heranzutasten. Irgendwann tauchte Gerald auf, und ich trank mit ihm und versuchte, mich an den Mann zu erinnern, den ich geliebt hatte.

Du findest es also geschmacklos. Weil es an deinem Geburtstag geschah oder überhaupt? Beides. Es war so demütigend, verstehst du das nicht. Du bist noch ein Kind, Fee. Glaubst du, es macht Spaß, drei Jahre mit ein und derselben Frau zu schlafen? Du liebst mich nicht mehr! Warum sagst du es nicht einfach? Ich hasse Dramen, Fee, und Dialoge wie diesen. Du haßt alles, was nicht Geld oder Genuß bringt. Na und? Du lebst doch nicht schlecht von meinen Prioritäten. Deinen Prioritäten, du sagst es. Ich komme in deiner Welt sehr vereinzelt vor. Das war mal anders, Gerald. Herrgott, bin ich müde. Du warst auch mal amüsanter. So wie Mona? Mona sieht alles ganz locker. Sie hat meine Kleider begutachtet, während du sie bearbeitet hast wie ein blödsinniger Stier. Ach ja? Aber sie ist irgendwie sehr sexy. Dann hol sie dir doch ins Haus, du herzloses Stück Scheiße. Ich gehe. Dann geh doch. Zu dem depperten Boxer oder der guten Klara. Aber laß den Ring hier, Fee, der war eine Geschäftsinvestition, kein Geschenk. Du kannst deinen blöden Ring behalten und die Pelze und den anderen Schmuck. Ich kann auch die Kleider hierlassen, damit Mona beim Sex mit dir nicht die Augen zufallen. Gut, gut, kann ich jetzt schlafen? Ich bin todmüde. Tot wäre besser. Die Pistole ist im Nachtschrank, Fee. Vielleicht geben sie dir dann eine Zelle neben dem Betrüger. Wäre doch eine nette Familienzusammenführung. Du bist widerlich. Ich kanns mir leisten, Fee. Leute wie du haben nett zu sein. Und demütig. Ich bin doch nicht dein Clown. Doch, meine Süße, genau das bist du. Und wenn du das nicht kapierst, solltest du den Beruf wechseln. Gute Nacht, Felicitas.

Ich wechselte meinen Beruf am nächsten Tag, als Gerald im Büro war. Ich packte die Koffer und nahm alles mit, was er mir jemals geschenkt hatte, auch den Ring. Nur die Kreditkarte ließ ich da, er hätte sie ohnehin sperren lassen. Ich besaß einige hundert Mark und das Sparkonto aus Hamburger Zeiten. Ich fuhr zum Bahnhof und stand eine Weile vor den Anzeigetafeln. Der nächste Zug fuhr nach Frankfurt, und so stieg ich ein. Der Portier im «Frankfurter Hof» war sehr freundlich und das Zimmer fast zu klein für die vielen Koffer. Ich rief Klara an, und sie sagte mir, daß Vater mit einer Lungenentzündung im Gefängniskrankenhaus liege. Sie klang besorgt, und ich überredete den Portier mit hundert Mark, meine Koffer aufzubewahren. Am nächsten Tag fuhr ich weiter nach Hamburg.

Klara holte mich vom Zug ab, und wir nahmen eine Taxe zum Krankenhaus. Ich war zu bequem, um arm zu sein, auch wenn Klara mich schalt, Geld zu verschwenden. Im Auto fragte sie mich nach Gerald, und ich erzählte eine Kurzgeschichte von enttäuschter Liebe. Er habe angerufen, sagte Klara, und fordere den Ring zurück. «Er war furchtbar wütend, Fee. Gib ihm den Diamanten, dann läßt er dir den anderen Schmuck. Er hat mir auch gesagt, daß du ihn bestohlen hast.»

«Es war kein Geld im Safe. Ich habe nichts mitgenommen, nur seine Geschenke. Er ist ein Schwein, Klara. Seit wann hast du Angst vor diesen Leuten?»

«Ich habe gelernt, auf dem Rücken zu schwimmen. Es sieht alles größer aus, wenn du von unten nach oben schaust.»

Klara war alt geworden, auch das. Als habe sie aufgegeben, etwas vorzutäuschen, war sie kaum geschminkt und nachlässig gekleidet. Es gab niemanden mehr, dem sie etwas vorspielen mußte, außer ihrem Mann, einmal in der Woche eine Stunde lang. Die Rückenschwimmerin erinnerte mich nur noch in einigen Zügen an Claire, an Klara, die Unbeugsame. Sie siechte mit Wondraschek dahin, und in Gottes Abwesenheit waren alle – Revolutionen in weite Fernen gerückt.

Vater nahm uns kaum wahr, als wir an seinem Bett standen, er kam mir winzig vor unter der grauen Decke in einem grauen Raum. Das alte Wondrascheklächeln, jenes strahlende, flüchtige, nichtssagende Heben der Mundwinkel, war nur noch als Grimasse zu erkennen. Ich meinte, den Tod zu riechen, und ich fror, obwohl es heiß war im Krankenzimmer. Vater nahm meine Hand und hielt sie für einen kurzen Augenblick fest. Er wollte mir etwas sagen, etwas, das er einundzwanzig Jahre lang versäumt hatte, aber es gab keinen Wiederholungsfall für verpaßte Gelegenheiten. Er war zu schwach, um zu sprechen, und ich war sprachlos, während Klara auf ihn einredete mit echter Liebe und falschen Worten. Der Arzt sagte uns, daß der Patient sich selbst aufgegeben habe, eine hübsche Umschreibung seiner Hilflosigkeit. Warum auch nicht, dachte ich, und daß es Daseinsformen gab, die den endgültigen Abschied schon in sich trugen. Klara litt mehr als ich, es lag, wie wir wußten, an meiner Herzlosigkeit, die sie nie wieder erwähnte. Ihr Glaube an seine Unfehlbarkeit, an seine Unsterblichkeit war zu groß gewesen. Meiner zu klein, und so machte er sich aus dem Staub, unser Mann aus Brunn, den seine Gier besiegt hatte.

Als er endlich eingeschlafen war und bevor wir gingen, legte Klara eine Zigarre auf den Nachttisch. Es war die sinnloseste Geste, die ich je gesehen hatte.

Sie ließen ihn noch nicht sterben, und so fuhr ich zurück nach Frankfurt, um mir Wohnung und Arbeit zu suchen. Ich fand ein häßliches kleines Zimmer in einer schönen Straße im Westend und bestand eine Prüfung rudimentärer Ortskenntnisse, um Taxifahrerin zu werden. Ich fuhr nachts, weil es mehr Geld einbrachte und ich die Stadt in Dunkelheit und Neonbeleuchtung lieber mochte als im kalten Licht des Tages. Morgens, wenn ich von der Arbeit kam, übte ich am Punchingball, bevor ich zu Bett ging. Nachmittags joggte ich. Irgendwo aß ich. Auch wer kein Ziel hat, muß in Bewegung bleiben. Ich lief zu schnell, um andere wahrzunehmen, und mit den Fahrgästen sprach ich nur das Nötige. Alles blieb fremd, weil ich es so wollte.

Geralds Anwalt verfolgte mich via Klaras Adresse mit juristisch fein formulierten Drohungen, den Solitär herauszugeben. Ich ignorierte seine Briefe, bis eines Tages ein Schreiben kam, mit dem Gerald sich in monströser Weise in mein Leben zurückbrachte.

Ich erinnerte mich vage an Papiere, die er mir vor langer Zeit zur Unterschrift gegeben hatte. Wie belanglos ich es gefunden hatte, Inhaberin einer seiner Gesellschaften zu sein. Eine Formalie, die Steuervorteile brächte, hatte Gerald gesagt, und das Schaf hatte zur Feder gegriffen ein ums andere Mal. Nie gelesen, nie nachgefragt. Man vertraut denen, die man liebt. Solange man liebt.

Gerald sei in finanziellen Schwierigkeiten, schrieb der Anwalt, und befinde sich zur Zeit außer Landes. Ein Verfahren wegen Konkursverschleppung liege im Bereich des Möglichen, und meine (!) Bauträgergesellschaft schulde der Bank knapp drei Millionen Mark. Ob und wie ich meinen Verpflichtungen nachzukommen gedächte? Beigefügt schickte er den von mir unterzeichneten Kreditvertrag. Ich las ihn aufmerksam durch, während ich im Taxi saß und auf Kunden wartete. Jemand klopfte an mein Fenster, und ich schrie ihn an, er möge zum Teufel gehen. Es war nicht persönlich gemeint. Der Mensch stand im Schneetreiben und fluchte. Er tat mir leid, und ich öffnete die Wagentür und sagte, für drei Millionen würde ich ihn mitnehmen.

Die Hochstaplerin

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