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1. Kapitel

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Hupen durchdringt den Straßenlärm. Reifen schliddern auf der verschneiten Fahrbahn, gefolgt von einem dumpfen Aufprall.

Norbert Höchst reißt die Wagentüre auf und stürzt sich aus dem Auto.

„Hallo“, schon beugt er sich über die leblos am Boden liegende junge Frau. „Hören Sie mich.“ Keine Reaktion. Er versucht den Puls zu ertasten. Er fühlt ihn. Gott sei Dank.

Vor ihm liegt eine blonde Frau. Wie dünn sie ist? Sie ist nicht schlank sondern im wahrsten Sinn des Wortes dünn. Zerbrechlich wirkt sie. Über den verwaschenen Jeans trägt sie eine Jacke, um einige Nummer zu groß. Das schulterlange, blonde Haar fällt ihr ins Gesicht. Norbert schiebt es vorsichtig zur Seite um festzustellen ob Verletzungen vorliegen. In dem schmalen blassen Antlitz sieht er die erstaunlich dunklen Augenbrauen und Wimpern. Die wohlgeformten Lippen sind blutleer. Aber, zum Glück sind keine Verletzungen im Gesicht zu erkennen.

„Hören Sie mich“, spricht er sie wieder an. Doch die leblose Frau reagiert nicht. Es hat keinen Sinn sie weiter anzusprechen, sagt er sich.

Norbert tastet in die linke Tasche seines Parkas und zieht sein Handy heraus. Sofort setzt er einen Notruf ab.

Inzwischen haben sich Schaulustige und Neugierige um ihn versammelt und wollen wissen was passiert ist.

Norbert versucht sich zu rechtfertigen. „Plötzlich stand sie wie aus dem Nichts auf dem Zebrastreifen. Ich habe sofort versucht zu bremsen, aber es war auf der rutschigen Straße zu spät.“ Bei diesen Worten zieht er trotz der Kälte seinen Parka aus und schiebt ihn vorsichtig unter den Kopf der jungen Frau.

„Kennt jemand die Frau?“ Norbert blickt fragend in die Runde. Niemand meldet sich.

Inzwischen hört man das Martinshorn des Krankenwagens. Ein Aufatmen geht durch die Menge. Bereitwillig machen einige Leute Platz um den Rettern und dem Notarzt Durchgang zu gewähren.

Sofort beugen sich ein Sanitäter und die Notärztin zur Verletzten während der zweite Nothelfer fragt: „Haben Sie die Polizei verständigt?“

Norbert schüttelt den Kopf. Daran hat er nicht gedacht.

„Das müssen wir aber“, schon zückt der Helfer sein Mobiltelefon und beordert die Polizei zur Stelle.

„Kennen Sie die Frau?“, will der Sanitäter nun von Norbert wissen.

„Nein“, rechtfertigt sich dieser erneut. „Sie stand plötzlich auf dem Zebrastreifen. Bei dem Schneematsch konnte ich nicht schnell genug anhalten.“

Einige Schaulustige stellen fest, dass das Interessanteste überstanden ist und trollen sich von dannen. Manche müssen jetzt zur Arbeit weitereilen.

Wieder nähert sich das Tuten des Martinshorns und schon ist das Polizeiauto zu sehen. Die zwei Beamten setzen ihre Mützen auf und steigen aus.

„Sind Sie der Fahrer des Unfallwagens?“ Zielsicher steuern die beiden Männer auf Norbert zu.

„Ja.“

„Kennen Sie die Frau?“, wird er nun zum zweiten Mal gefragt.

„Nein.“

Einer der Beamten dreht sich zu den Nothelfern um. „Habt Ihr Papiere gefunden?“

„Nein“, ist die Antwort, „bisher nicht.“

„Also“, der Beamte gesellt sich wieder zu seinem Kollegen und Norbert. Den fordert er auf: „Nun erzählen Sie mal.“

Norbert schüttelt müde den Kopf: „Da gibt es nicht viel zu erzählen. Ich bin den Straßenverhältnissen angepasst gefahren und plötzlich erscheint die Frau auf dem Zebrastreifen. Es ging sehr schnell. Ich konnte nicht mehr rechtzeitig bremsen.“

Die Sanitäter haben die Verletzte, die immer noch bewusstlos ist, versorgt und schieben die Trage in den Krankenwagen.

„Einen Augenblick“, Norbert hastet zum Krankenwagen.

„Entschuldigung“, ruft er dem Sanitäter zu, „in welches Krankenhaus fahren Sie?“

„Ins Städtische“, ist die knappe Antwort und weg sind sie. Wieder heulen die Sirenen auf.

Als er sich wieder den Polizisten zuwendet, sieht er, dass sie mit drei älteren Leuten im Gespräch sind.

„Herr,…, wie ist Ihr Name?“, erkundigt sich einer der Polizisten.

„Höchst, Norbert Höchst.“

„Herr Höchst.“ Der Polizeibeamte hat eine freundliche Stimme, „diese drei Herrschaften bestätigen, dass Sie ganz offensichtlich nicht schnell gefahren sind und versucht haben sofort zu bremsen. Es sieht so aus als wäre die Frau auch nicht direkt in Ihr Auto gelaufen, sondern vielmehr kurz vor ihrem Wagen zusammengebrochen.“

„Ach, um Gottes Willen“, Norbert ist völlig verwirrt.

„Wir brauchen aber dennoch Ihre Personalien und müssen die Spuren auf der Straße so gut es geht ausmessen“, erklärt der Beamte mit Bedauern.

„Ja, klar.“ Norbert geht zum Wagen, holt die Fahrzeugpapiere und den Ausweis und reicht dem Polizisten die Dokumente.

Sein Handy klingelt.

„Entschuldigung“, sagt er zu den Beamten.

„Ja“, spricht er ins Handy. „Ach, du meine Güte“, ruft er aus, nachdem er sich die Vorwürfe seiner Kollegin und Geschäftspartnerin Kathrin angehört hat, „das habe ich ganz vergessen. Tut mir leid, aber ich bin hier in einen Unfall verwickelt und kann nicht weg. Verschieb den Termin oder geh alleine hin. Ich kann es jetzt auch nicht ändern.“ Wieder hört er zu und sagt dann leise und bedrückt: „Ich habe eine Frau angefahren.“ Dann beendet er das Gespräch.

Die Polizeibeamten nehmen Norberts Personalien auf. Sie vermessen sorgfältig die Bremsspuren, die noch im Schnee zu sehen sind und fotografieren die Unfallstelle. Dann ist er entlassen.

*

„Schön, dass Sie wieder unter uns sind.“ Freundlich lächelt die Krankenschwester ins Gesicht der am Vormittag eingelieferten Patientin.

„Wo bin ich?“ Sofort will sie sich erheben.

Sanft drückt die Schwester Melanie ins Bett zurück. „Nicht aufstehen. Sie sind im Städtischen Krankenhaus.“

„Warum das denn?“ Wieder will Melanie aufstehen.

„Sie sind von einem Auto angefahren worden.“

Melanie scheint nicht gehört zu haben was die Schwester ihr eben gesagt hat und erklärt nur: „Ich muss gehen.“

„Sie haben eine Gehirnerschütterung. Wie heißen Sie denn?“, will Schwester Marie nun wissen.

„Melanie Frei.“

„Frau Frei, Sie hatten keinen Ausweis oder sonstige Papiere dabei. Können wir jemanden benachrichtigen?“

„Nein.“

„Wirklich nicht?“

„Nein, ich muss jetzt gehen.“

„Bei welcher Krankenkasse sind Sie denn?“

Melanie sagt es der Krankenschwester und sinkt wieder erschöpft ins Kissen zurück.

„Jetzt schlafen Sie erst einmal, danach sieht die Welt ganz anders aus.“ Schwester Marie schaut die Patientin mitfühlend an.

Einen Augenblick bleibt die Krankenschwester im Zimmer und vergewissert sich, dass die junge abgemagerte Frau sich beruhigt hat und einschläft.

*

„Ich muss noch mal weg“, ruft Norbert Höchst im Vorbeigehen in Kathrins Büro und verschwindet ohne eine Antwort abzuwarten.

Unterwegs, vor einer Konditorei, parkt er seinen Geländewagen und ersteht eine schöne Packung Pralinen. Dann setzt er seinen Weg in Richtung Städtisches Krankenhaus fort.

An der Anmeldung ist er nicht der Einzige, der Fragen und Bitten an die geplagte Sekretärin hat. Nervös tritt er von einem Fuß auf der anderen, während ein Wartender nach dem anderen sein Anliegen erledigt bekommt.

„Hallo“, sagt er, als er endlich an der Reihe ist. „Heute Morgen so gegen halb neun oder neun ist eine junge Frau bei Ihnen eingeliefert worden. Können Sie mir sagen auf welchem Zimmer sie liegt?“

„Machen Sie Witze?“, knurrt die Frau ihn etwas ungehalten an. „Da könnte ja jeder kommen. Sie müssen mir schon den Namen sagen.“

„Ja, eben den kenne ich nicht“, erklärt Norbert vorsichtig. „Sehen Sie, ich habe die Frau heute Morgen angefahren und nun wollte ich Sie besuchen und mich erkundigen wie es ihr geht.“

„Wie heißt die Frau?“, beharrt Norberts Gegenüber.

„Sie hatte doch keine Papiere dabei. Die Sanitäter konnten es mir ja auch nicht sagen.“

„Halb neun, sagen Sie“, plötzlich geht in der Frau ein Sinneswandel vor sich. Sie greift zum Telefon, redet, wartet kurz und hängt wieder ein.

„Melanie Frei, Zimmer 131 im ersten Stock.“

„Vielen Dank, dass Sie mir so freundlich geholfen haben:“ Schon ist Norbert weg.

Krankenhäuser sind ihm ein Gräuel. Seit dem Tod seines Vaters vor sechs Jahren, der lange im Krankenhaus gepflegt werden musste, hat er keines mehr betreten. Schon allein die Gerüche machen ihn krank. Er wundert sich über sich selbst, es kostet ihn heute keine Überwindung weiter ins Innere des Gebäudes einzudringen.

Im ersten Stock geht er den langen Gang entlang. Seine Schuhsohlen quietschen auf dem sauber gewienerten, glänzenden Kunststoffboden.

Menschen hasten oder spazieren an ihm vorbei. Dort öffnet und schließt sich leise eine Türe. Hier schlendert langsam und gemächlich ein Patient, der sein Gestell mit dem Tropf vor sich herschiebt. Ein bisschen komisch wird Norbert nun bei diesem Anblick und Erinnerungen an seinen Vater werden wach. Er schüttelt leicht den Kopf und denkt an die junge Frau, der er in Kürze gegenübertreten wird.

Wie wird sie reagieren? Sie kennt ihn nicht. Was soll er sagen, wenn er eintritt. ‚Hallo, ich bin der, der Sie heute Morgen über den Haufen gefahren hat?’ Er hätte sich das vorher überlegen sollen. Jetzt fällt ihm nichts Passendes ein. ‚Egal, jetzt bist du da und gehst da rein‘, gibt er sich innerlich einen Stoß. Und schon steht er vor dem Zimmer 131.

Norbert atmet tief durch hebt die Hand und will anklopfen als sich die Türe wie von Zauberhand öffnet. Vor ihm steht eine Krankenschwester.

„Hallo“, ist alles was Norbert hervorbringen kann.

„Grüß Gott“, erwidert freundlich die Schwester und schließt die Türe bevor Norbert eintreten kann.

Schwester Marie hält den Mann leicht am Arm fest und zieht ihn ein paar Schritte mit sich. Norbert wagt nicht sich zu wehren.

„Wollen Sie zu Frau Frei? Sind Sie ein Angehöriger oder Freund von ihr?“, fragt die Krankenschwester nun.

Norbert schaut sie groß an und schüttelt den Kopf. Erst dann antwortet er: „Nein, ich bin der Verursacher weshalb sie jetzt hier ist. Mein Name ist Norbert Höchst.“

„Schade“, antwortet die Schwester mit ehrlichem Bedauern.

„Was ist denn los?“

„Nun ja“, fährt Schwester Marie zögernd fort, „Frau Frei scheint niemanden zu haben. Und sie kommt uns ziemlich schwach vor. Sie ernährt sich nicht ausreichend.“

„Essstörung?“, ist alles was Norbert dazu einfällt.

„Nein, danach sieht es eher nicht aus.“

„Hat sie sonst noch Verletzungen von dem Unfall?“, will er nun wissen.

„Eine Gehirnerschütterung. Sie ist sehr unruhig. Heute Morgen, als sie zu sich kam wollte sie sofort gehen. Aber das können wir natürlich nicht verantworten.“

„Ich werde sehen, was ich erreichen kann“, sagt Norbert zuversichtlich. „Schließlich habe ich so etwas wie eine Verantwortung für Frau Frei nachdem ich sie in diese missliche Lage gebracht habe.“

„Tja, Herr Höchst, dann will ich Sie nicht länger aufhalten.“ Damit entlässt ihn die Krankenschwester.

Wieder wendet er sich Zimmer 131 zu. Jetzt klopft er wirklich an und tritt vorsichtig ein.

Im Zimmer stehen drei Betten. Jedoch erkennt er die junge Frau sofort wieder und nähert sich ihrem Bett.

„Grüß Gott, Frau Frei.“ Norbert hält ihr die schön verpackte Schachtel mit Pralinen hin.

„Wer sind Sie?“ Melanie starrt ihn verwundert an.

„Norbert Höchst, der Mann, der Sie heute Morgen angefahren hat. Ich wollte nach Ihnen sehen und mich erkundigen wie es Ihnen geht.“

Wie blass und dünn sie tatsächlich ist, sagt Norbert sich als er die Arme, die aus dem Krankenhaushemdchen ragen, mustert.

„Es geht schon, danke“, sagt sie nur müde und macht keine Anstalten nach dem Geschenk zu greifen.

Norbert stellt die Packung auf dem Nachttisch ab. „Kann ich Ihnen irgendwie helfen?“

„Nein, danke, es ist schon in Ordnung.“

„Soll ich jemanden benachrichtigen?“

„Nein, lassen Sie nur. Sehr nett von Ihnen.“

„Nun ja, Frau Frei, ich fühle mich ein bisschen für Sie verantwortlich. Schließlich habe ich Schuld an dem Unfall.“

„Ist schon gut“, wehrt Melanie wieder ab.

„Wissen Sie was, ich lasse Ihnen meine Karte da. Egal was ist, egal wann, melden Sie sich einfach.“ Er streckt ihr seine Visitenkarte entgegen. Wieder macht sie keine Anstalten sie zu ergreifen. Norbert legt sie zu den Pralinen auf dem Nachttisch.

„Tja, dann will ich mal wieder. Ruhen Sie sich gut aus und vor allem gute Besserung.“

„Danke“, zum ersten Mal zeigt sich ein kleines, zaghaftes Lächeln auf Melanies Gesicht.

„Auf Wiedersehen.“ Norbert ergreift kurz Melanies schmale feingliedrige Hand und drückt sie sanft.

„Auf Wiedersehen“, sagt Melanie leise und noch leiser, sodass er es kaum noch hört, „und vielen Dank fürs Kommen.“

Norbert dreht sich noch einmal kurz zu ihr um, lächelt ihr zu und verlässt das Zimmer. Er ist enttäuscht über den Besuch. Etwas mehr Freude hatte er sich erwartet.

Du kennst sie nicht, du weißt nicht wer sie wirklich ist und was los war bevor du sie angefahren hast. Sie ist eine Fremde, die ihr eigenes Leben führt. Darin hast du eben keinen Platz. Trotzdem spürt er einen Stich im Herzen. Wie gerne hätte er diesem so wehr- und schutzlosen Wesen geholfen.

In Gedanken versunken verlässt er das Krankenhaus und kehrt ins Büro zurück. Eigentlich hätte er sich noch an der Baustelle sehen lassen sollen, doch dazu ist es heute zu spät.

*

Melanie ist überrascht als der Fremde das Zimmer betritt und zielstrebig auf ihr Bett zusteuert. Sie hat den Mann noch nie gesehen und nun behauptet er, er hat sie heute angefahren.

Zunächst will sie gar nicht mit ihm sprechen. Schließlich hat er ihr dieses Schlamassel eingebrockt. Doch seine sympathische Stimme hat sie beeindruckt und umgestimmt. Aber irgendwie ist sie nicht in der Lage auf ein Gespräch mit ihm einzugehen. Ja, noch nicht einmal sein Geschenk möchte sie annehmen. Aber es ihm zurückzugeben hat sie auch nicht gewagt.

Er hat ihr sogar Hilfe angeboten. Im Augenblick weiß Melanie nicht mehr so recht wo sie die Hilfe, die sie wirklich braucht um mit ihrem kleinen Jonas weiterzuleben, hernehmen soll. Den Fremden will sie auf keinen Fall auf ihre finanzielle Lage ansprechen. Außerdem, solche Hilfsangebote sind doch nie ernst gemeint. Irgendeinen Haken haben sie immer. Darauf den Haken des Angebots zu erkunden kann sie gerne verzichten.

Noch eine Monatsmiete, dann ist ihr Konto leer. Arbeit ist nach wie vor nicht in Sicht. Wer will schon eine kleine Büroangestellte mit einem dreieinhalbjährigen Sohn einstellen?

Beim Gedanken an den kleinen Jonas steigen Melanie Tränen in die Augen. Hoffentlich ist der Kleine jetzt bei der Nachbarin, Frau Selend. Im Kindergarten hat sie wohlweißlich von Anfang an die Anweisung gegeben, wenn sie einmal unentschuldigt nicht kommt um Jonas abzuholen, dann möchte man bitte Frau Selend benachrichtigen.

Als alleinerziehende Mutter muss man seine Vorkehrungen treffen. Seit einem halben Jahr ist Jonas nun im Kindergarten, zwei Straßen von ihrer Wohnung entfernt. Bisher ist es nicht vorgekommen, dass sie ihn nicht abholen konnte. Bis auf heute eben.

Weshalb war sie auch so unachtsam? Sie hatte Jonas zum Kindergarten gebracht und wollte sich nur schnell im Laden gegenüber eine Zeitung holen. Dabei muss der Unfall passiert sein. Melanie kann sich aber an nichts mehr erinnern.

An den Nachbarbetten im Zimmer wird noch fleißig geredet und gelacht. Melanie hängt ihren Gedanken nach. Ihr Blick fällt auf das Geschenk, das der Mann dagelassen hat. Melanie beschließt, es nicht zu öffnen. Auch seine Visitenkarte liest sie nicht.

Vorsichtig steht sie auf und geht zunächst in das Badezimmer. Dann schaut sie ihre verschmutzte Kleidung an. Sie ist noch feucht. Melanie nimmt die Hose und die Jacke und hängt beides so auf, dass es besser trocknen kann. In der Jackentasche findet sie den Haustürschlüssel. Gut, den hat sie wenigstens nicht verloren. Auch der Fünf-Euro-Schein steckt noch in der Hosentasche.

Beruhigt legt die junge Frau sich ins Bett zurück.

Etwas später gibt es Abendessen. Die beiden Frauen in den Nebenbetten löschen ziemlich bald das Licht. Auch Melanie stellt sich schlafend. Die Schlaftablette, die sie einnehmen sollte hat sie im Klo hinuntergespült.

Sie weiß nicht wie spät es ist, aber alles um sie herum scheint ruhig zu sein. Von den Betten nebenan vernimmt sie regelmäßiges Atmen und leichtes Schnarchen.

Melanie erhebt sich leise, zieht die immer noch feuchte Kleidung an und verlässt das Zimmer. Auf dem Gang ist niemand zu sehen. Unbehelligt verlässt sie die Station und schließlich das Krankenhaus.

Sie hat zwar Kopfschmerzen, aber keinen Schwindel, keine Übelkeit oder sonstige Beschwerden. Langsam tritt Melanie in der dunklen, kalten Nacht den Heimweg an.

*

Endlich kommt sie am Rande der Erschöpfung zu Hause an. Sie öffnet die Haustüre, steigt in den zweiten Stock und klingelt sofort an der Wohnungstüre gegenüber ihrer eigenen Wohnung.

Melanie muss ein bisschen warten bis sie schlurfende Schritte hört. Jemand schaut durch den Spion, dann wird die Türe aufgerissen. Vor ihr steht die Nachbarin in einem warmen Flanellnachthemd. Die grauen, kurzen Haare zerzaust. Man sieht ihr an, dass sie bereits geschlafen hat.

„Meine Güte, Frau Frei!“, ruft Frau Selend aus. „Was ist denn passiert? Wie sehen Sie denn aus?“

Müde lehnt Melanie sich an den Türrahmen. „Ich bin heute Morgen angefahren worden. Als ich aufgewacht bin lag ich im Krankenhaus.“

„Das ist ja furchtbar.“ Frau Selend fährt sich mit der rechten Hand über die Stirn. „Ja, vom Kindergarten haben Sie angerufen, weil Sie Jonas nicht abgeholt haben. Ich bin dann schnell los.“

„Ist mein Schatz bei Ihnen?“

„Na klar. Ich hatte zwar einige Mühe ihn zu beruhigen und ihn später schlafen zu legen, aber jetzt schläft er zum Glück. Wie sind Sie um diese Zeit aus dem Krankenhaus gekommen?“, fällt Frau Selend plötzlich ein. Sie weiß aus eigener Erfahrung, dass abends niemand mehr aus der Klinik entlassen wird.

„Ich bin gegangen.“

„Die haben Sie nicht entlassen!“, die Nachbarin schaut Melanie ungläubig an.

„Ich kann doch meinen kleinen Jungen nicht allein lassen“, rechtfertigt sich Melanie schwach.

„Sie sollten sofort wieder ins Krankenhaus zurückkehren.“ Frau Selend ist besorgt.

„Nein, nein, es geht schon. Ich nehme Jonas jetzt mit.“

„Lassen Sie ihn doch bei mir schlafen“, schlägt Jonas Behelfsoma vor.

„Nein, es ist besser, wenn er morgen im eigenen Bett aufwacht, glauben Sie mir“, beharrt die besorgte Mutter.

„Gut.“ Frau Selend geht von der Türe weg und lässt Melanie eintreten. Gemeinsam schleichen sie ins Schlafzimmer und schauen auf das Bett in dem Jonas selig schläft.

Die Ältere schiebt die junge Frau wieder aus dem Zimmer. Erst dann fragt sie leise: „Wollen sie ihn wirklich mitnehmen.“

Melanie ist unschlüssig.

„Sehen Sie, Frau Frei, Sie sind recht blass und müde. Legen Sie sich erst einmal hin. Morgen Früh läuten wir bei Ihnen und Sie können Jonas wieder in die Arme schließen.“

„Danke, Frau Selend“, Melanie umarmt die hilfsbereite Nachbarin kurz.

*

Um halb vier Uhr nachmittags verlässt Norbert eilig das Büro, kauft in einem Blumengeschäft einen bunten Strauß und fährt ins Städtische Krankenhaus. Eiligen Schrittes steigt er die Stufen in den ersten Stock hoch und klopft kurz danach bei Zimmer 131 an.

Vorsichtig öffnet er die Tür und schaut auf das mittlere Bett. Dort liegt eine bedeutend ältere Frau. Auch in den beiden Betten nebenan entdeckt er Melanie nicht. Für mich ist sie nicht Frau Frei sondern schon Melanie, schießt es ihm in den Kopf.

„Entschuldigung“, murmelt er verwirrt. Er geht vor das Zimmer und vergewissert sich nochmals, dass er auch ins richtige Zimmer eingetreten ist. Ja, hier steht 131.

Leise schließt er die Türe und macht sich auf die Suche nach jemandem vom Pflegepersonal.

Schließlich klopft er beim Schwesternzimmer an.

„Ja, bitte“, sagt eine Schwester und blickt ihn verdrossen und fragend an.

„Ich wollte zu Frau Frei, Zimmer 131. Ist sie verlegt worden?“

„Frau Frei“, wiederholt die Schwester und starrt ihn an, „das war ein ganz schöner Trubel heute Morgen, habe ich mir sagen lassen. Sie ist einfach verschwunden. Niemand hat etwas mitbekommen.“

„Wie?“, Norbert ist völlig verwirrt.

„Ja, heute Morgen als das Fieberthermometer verteilt wurde war sie nicht mehr in ihrem Bett. Sie muss sich angezogen und bei Nacht und Nebel das Krankenhaus verlassen haben.“

„Aber sie hat doch eine Gehirnerschütterung“, erinnert sich Norbert.

„Das ändert nichts daran, dass sie verschwunden ist“, meint die Krankenschwester trocken.

„Haben Sie sie gesucht?“, hakt Norbert nach.

„Das ist nicht unsere Aufgabe“, belehrt ihn die Schwester.

Norbert lässt nicht locker: „Haben Sie wenigstens ihre Adresse?“

Die Schwester nickt. „Ja, die haben wir, aber wir dürfen sie Ihnen nicht geben. Datenschutz. Sie verstehen bestimmt.“

„Ich verstehe“, Norbert drückt der Schwester den Blumenstrauß in die Hand, „der ist für Sie. Wiedersehen.“

Er dreht sich kopfschüttelnd um. Den verspäteten Dank der Schwester hört er nicht mehr.

Gleich am nächsten Morgen fährt Norbert wieder um die Zeit als er zwei Tage vorher Melanie angefahren hat, die Strecke ab. Sie ist nicht zu sehen.

Er erinnert sich daran wie ihm gestern gesagt wurde, dass die junge Frau schlecht ernährt ist. Vielleicht hätte er irgendwie helfen können. Norbert macht sich Sorgen.

Bedrückt fährt er schließlich ins Büro.

Unfall ins Glueck

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