Читать книгу Der andere Jesus - Christine Kolbe - Страница 7

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1. Passahfest

Das große Tor wurde zur Nacht geschlossen. Mit lautem Getöse fiel es zu, und die Wächter verriegelten es mit dicken Eisenketten. Der Wachtposten auf der Mauer saß gähnend auf seinem Schemel. Blinzelnd blickte er nach Westen, wo die Sonne wie ein glühender Ball ihre letzten rot gefärbten Strahlen über das Land schickte.

Die kleine Karawane kam aus den Bergen des Sinai hinab in die Ebene.

Wenn die Stadttore verschlossen waren, wurde das Gelände unterhalb der Mauern lebendig. Die Verstoßenen, Aussätzigen und Bettler führten hier ihr grausames Regiment. Wer seine Beute oder erbettelte Habe nicht mit den anderen teilte, wurde verdroschen und wüst misshandelt. Deshalb brachten alle, soweit es sich nicht verbergen ließ, ihre ergaunerten Schätze wie Münzen, Brot, Käse, Weinschläuche und Früchte hierher auf den staubigen Platz unterhalb der Mauer, wo der Bettlerfürst streng und unnachgiebig regierte.

An diesem Tag saß ein Zwerg unter ihnen, den sie in der Gemeinschaft den Buckligen nannten. Er war eher gefürchtet als geachtet. Dennoch brachte man ihm Respekt entgegen, wenngleich sein Äußeres abstoßend war und seine fauligen Zähne einen üblen Geruch verbreiteten. Man sagte ihm nach, er stünde mit den Geistern im Bunde, und so manches Mal war es geschehen, dass er sich in Krämpfen am Boden wand und wirres Zeug von sich gab. Mal waren es unartikulierte Laute, mal Stimmen, die in fremden Sprachen schrill und unverständlich klangen.

Meistens war es jedoch die Sprache, die sie alle verstanden, und die Worte, die gurgelnd aus seiner Kehle quollen, jagten allen Schrecken und Angst ein. Es waren Worte des Zorns und der Zerstörungswut. Worte, die den Untergang von allem ankündigten und so lebendig beschrieben, dass die Umstehenden vor Angst das Weite suchten.

Manchmal sprach die wortgewandte Stimme Einzelne mit fremdem Namen an, wusste um ihre Geheimnisse und sorgte so für Tumult und Unfrieden. Man fürchtete diese Schrecken verbreitenden Anfälle, die den armen Buckligen so plötzlich überfielen, dass man sich nicht darauf vorbereiten konnte.

An diesem Abend, als das Bettelvolk beim Feuer unterhalb des großen Mauervorsprungs beisammen saß, um die heutige Ausbeute zu inspizieren, blickten alle nervös auf den Zwerg, der ahnungslos auf ein paar trockenen Datteln herumkaute.

Heute war Vollmond, und das war stets der Fall, wenn er in diesen gefürchteten Zustand fiel. Oftmals hatte er die kleinen und gro-ßen Vergehen, wie zur Seite gebrachte Diebesbeute oder Ähnliches, das unter dem Bettelvolk streng geahndet wurde, zur Sprache gebracht. Und hätte der Bettelfürst nicht ein so waches Auge auf den Zwerg gehabt, wäre er längst hinterrücks ermordet worden, um den gefürchteten und abscheulichen Darbietungen für immer ein Ende zu machen.

Auch heute beäugten ihn die Umstehenden mit dem ängstlichen Seitenblick der Verschwörer, die doch wieder ein paar Schekel zur Seite gebracht hatten, schon um sich auf der anderen Seite der Stadt eine Frau zu kaufen oder andere Geschäfte zu tätigen, von denen niemand etwas wissen sollte. Jeder, der gegen die Abmachung verstieß, wurde bestraft und aus der Gemeinschaft ausgestoßen, es sei denn, er gelobte, noch größere Beute beizubringen, um den Bettelfürst milde zu stimmen und die Gruppe zu besänftigen, damit sie ihn nicht gleich totschlugen.

Der Zwerg genoss diese gefürchtete Position. Er wusste nachher nicht, was mit ihm geschehen war, aber dass es etwas Besonderes gewesen sein musste, sah er in ihren Gesichtern. Niemals erfuhr er Genaues darüber, und er wollte es auch nicht wissen, solange er in der Gunst des Oberhauptes stand und täglich seine Ration an Wein, Brot und Münzen bekam, die unter allen verteilt wurde.

Die Gruppe hatte sich auf den staubigen Steinen rund um das Feuer niedergelassen und begann, ihre verteilte Habe zu verzehren und einige der Weinschläuche kreisen zu lassen, bevor sie sich zur Nacht auf den Mauervorsprüngen einrichteten, den Kopf auf ein Bündel Lumpen gebettet und mit ein paar Fellen notdürftig zugedeckt.

***

Mittlerweile war es dunkel geworden. Der helle Vollmond spendete so viel Licht, dass die kleine Karawane weiter auf die Stadt zuschritt, gemächlich, mit schwer beladenen Eseln und einem Tross von Fußvolk, das sich kein Gefährt erlauben konnte. In ihrer Mitte war ein Mann mittleren Alters, den sie den Magier nannten. Er trug einen roten Turban und um die Hüften einen braunen Ledergürtel, der mit seltsamen Zeichen reich verziert war. Seine Sprache war Arabisch, aber er verstand auch den Dialekt dieser Gegend, obwohl er ihn nur gebrochen sprach. Sein Ziel war die Stadt, die zur Sonnenwende ein großes Fest feierte und wo er als Wahrsager und Heiler sein Geld verdiente. Sein größter Erfolg war es, den Frauen, die nicht gebären konnten, zu der ersehnten Schwangerschaft zu verhelfen.

Heute wollten sie die Stadt erreichen, um dann am frühen Morgen durch das Stadttor zu ziehen und ihre Waren auf den Marktplätzen feilzubieten.

Abdul Ben Massa hatte ein kurzes Schwert unter dem langen, braunen Wollumhang verborgen. Man wusste, dass sich das Gesindel an der Stadtmauer niederließ, und er wollte vor Überraschungen sicher sein. Sein Kaftan wehte im Wind und eine frische Brise kam vom Meer herüber.

Sein Pferd, ein ausgemergelter Gaul, war darauf trainiert, auf die kleinste Berührung zu reagieren und konnte, wenn nötig, in einen schnellen Sprint fallen, um eventuellen Angreifern zu entkommen.

Sie ließen sich unter den Palmen nieder, die unweit der Stadt einen kleinen Hain bildeten. Wachen wurden postiert, und eine Gruppe jüngerer Frauen begann damit, Feuer zu machen, um noch vor der Nacht ein Essen zu bereiten. Abdul hielt sich abseits von der Gruppe. Er liebte es nicht, von den anderen umringt zu sein. Eine eigentümliche Unruhe hatte ihn ergriffen und so blickte er sich um, ohne genau zu wissen, was er eigentlich suchte.

Die Bettler hatten die Karawane kommen sehen, wagten aber nicht, mit Knüppeln und Steinen gegen die gut bewaffneten Posten vorzugehen. Sie würden am Morgen auf dem Marktplatz zu stehlen und zu betteln versuchen. Stets boten sie bereitwillig ihre Dienste an. Sie halfen beim Abladen der Waren, schleppten Wasserkrüge oder gaben vor, betuchte Käufer anlocken zu können. Aber sie taten all dies nur, um in einem unbemerkten Augenblick etwas zu stehlen und verschwinden zu lassen.

Oft wurden sie deshalb verjagt, bevor sie in die Nähe der Waren kommen konnten. Aber oft genug bestachen sie die Wachtposten, die dann zufällig wegblickten, wenn in dem allgemeinen Tumult auf dem Marktplatz ein Schlauch Wein verschwand oder eine Ziege plötzlich fortlief und unter lautem Protest in den Gassen abhandenkam.

Als der Morgen graute, sprengten einige Reiter in langen weißen Kaftanen heran. Es waren Herolde des Königs, die dem Statthalter neue Nachrichten zu überbringen hatten. Unter lautem Rufen öffneten die Wachen die schweren Stadttore. Das Quietschen der eisernen Angeln wurde nur noch von den Rufen der Esel übertönt, die lauthals nach Wasser verlangten.

Die Reiter verschwanden schnell in den Gassen der Stadt, um sich zum Palast des Statthalters zu begeben, der bereits auf ihr Eintreffen wartete. Die Meute Hunde, die den Reitern den Weg versperrten, um im Unrat der Gassen zu stöbern, stob nach allen Seiten auseinander.

Einer, der durch seinen schwarzen Gürtel mit silbernen Emblemen augenscheinlich der Anführer war, zog eine große Umhängetasche unter seinem Sattel hervor. Seine Begleiter flankierten ihn, wie um ihn vor etwaigen Angreifern zu beschützen. Im Schein einer Fackel, die wie gewohnt die ganze Nacht über an dem Portal brannte, trat er auf den kleinen Einlass zu, der sich an der seitlichen Einfassung befand. Ein Murmeln, gefolgt von Schlüsselklappern, war zu hören, als die kleine Pforte sich öffnete und die Reiter, bis auf einen Wachtposten, in dem umfriedeten Gelände verschwanden.

Schon beim ersten Morgengrauen war er erwacht, schweißgebadet von einem verwirrenden und bedrückenden Traum. Wieder war er ihm im Traum begegnet, der, auf den die Juden warteten und der nun bald erscheinen sollte. Sein Bettzeug war vom Schweiß getränkt und sein Atem ging schnell und unregelmäßig. Es war nun schon das siebte Mal, dass er diesen Traum träumte, in dem er ihn, den sie den Messias nannten, zum Tode verurteilte und in dem eine innere Stimme ihm sagte, dass dies ewige Verdammnis bedeuten würde.

Beim Geräusch des nahenden Dieners schreckte er hoch und bedeckte sich mit einem weiten Mantel, damit sein Leibwächter seine Verfassung nicht erkennen konnte. Seit Wochen fühlte er diese Bedrohung, diese Angst, in etwas hineingezogen zu werden, das fürchterlich und grauenvoll war. Aber war es nur das, oder rührte die Angst noch aus einem anderen Grund, den zu erkennen er nicht wagte?

Der Diener stellte wortlos Brot und Früchte bereit und verließ das Gemach, das an diesem Morgen stickig und schwül war. In den Gassen der Stadt tummelten sich schon zu Hunderten die Händler, die in der ganzen kommenden Woche die Stadt in einen einzigen Basar verwandeln würden. Es gab buchstäblich nichts, was hier nicht angeboten wurde. Brot, Früchte, Wein, süße Kuchen mit Rosinen, Töpfe, Kupfergeschirr, irdene Gefäße, Krüge, Schuhe, Lederwaren, lebende Tiere, Leinen und golddurchwirkte Brokatstoffe, Wolle, Farben zum Färben und natürlich all die Mixturen der Quacksalber, die die ominösesten Salben und Pulver verkauften, allesamt angeblich hochwirksam und heilkräftig bei jedem Gebrechen, das man sich denken konnte.

Die Kräuterweiber blieben unter sich. Auf dem Marktplatz bildeten sie einen Reigen von aufgetürmten Bündeln getrockneter Kräuter, die in keinem Haus fehlen durften.

In der hintersten Ecke des Marktes hatte Miriam einen kleinen Tisch mit den kostbaren Salbölen ihres Vaters aufgebaut. Duftende Blütenessenzen und seltene Balsamöle, die aus der Rinde bestimmter Bäume mühsam gewonnen wurden und die für das einfache Volk unbezahlbar waren.

Sie selbst hatte ihr Haar mit Orangenblüten geschmückt, und einige Locken ihres rötlichen Haares waren ihr in die Stirn gefallen. Ihr Bruder half ihr beim Aufbauen der Waren. Kleine Tonkrüge, mit Wachs verschlossen, und große Schalen, mit Blüten und Kräutern gefüllt, die noch frisch den Ölen beigemengt wurden. Eine kleine Schale kostbaren Salböls war auch dabei, die sie seit Kindertagen mit sich trug und die sie niemals verkauft hätte. Sie hatte das Gefühl, dass dieses Öl für einen besonderen Anlass bestimmt war, der irgendwann in ferner Zukunft eintreten würde. Sie rückte die letzten Tonkrüge zurecht, als eilig dahinreitende Männer in weißen Umhängen Richtung Stadttor davonpreschten. Sie blickte ihnen nachdenklich nach. Was mochte sie so zur Eile antreiben?

Wenig später standen die ersten Käufer vor den Auslagen, beäugten die Waren, fühlten, probierten und feilschten, so, wie es immer war.

Der Lärm unzähliger Stimmen erfüllte die Gassen und drang in das Arbeitszimmer des Statthalters, der über die Schriften des Königs gebeugt saß. Sorgenfalten machten sich auf seiner Stirn breit. Er fächelte sich Kühle zu und las den letzten Abschnitt nun schon zum dritten Mal. Immer wieder stiegen Bilder aus dem Traum der vergangenen Nacht auf und schoben sich vor die Schriftstücke, die ausgebreitet vor ihm lagen. Er war Statthalter und in seiner Funktion auch oberster Richter, von dem unmissverständlich ein grausames Urteil gefordert wurde.

Er ließ sich schwer auf seinen Sessel fallen, um die Diener zu rufen, ihm ein Bad zu bereiten. Es war ihm, als könne er damit alle Sorgen von sich abwaschen.

Das leise Klirren von Glas ließ ihn aufschrecken. In dem wohlig warmen Wasser war er beinahe eingenickt. Der Diener reichte ihm einen Kelch mit frischem Most und eine Rebe mit reifen roten Trauben. Er verspürte keinen Appetit und ließ alles unberührt, um sich für die tägliche Audienzstunde anzukleiden. Seine Toga aus rotem Samt lag schwer auf seinen Schultern. Die goldene Kette zerrte an seinem Hals, wie sein Amt an seinen Nerven. Die Gedanken kreisten um die Schriftstücke und die Konsequenzen, die sich daraus für ihn ergaben. Heute sollte er eine Ansprache auf dem Balkon des Palais halten, um den Basar offiziell zu eröffnen. Dabei machte sich niemand die Mühe, auf diesen Auftritt zu warten. Man hatte bereits begonnen, die Waren feilzubieten, und niemand achtete mehr auf ihn, wie er schwankend dastand, die Augen zum Himmel gerichtet, so, als ob von dort Hilfe zu erwarten sei.

Er mochte eine Weile so dagestanden haben, als seine Gemahlin neben ihn trat –, die jubelnde Menge unter ihnen, die sich auf die kommenden Festtage freute. Sachte legte sie ihre Hand auf seinen Arm und blickte ihn fragend an.

Das Volk drängte sich in den Gassen, die von Staub und Hitze erfüllt waren. Überall türmten sich Warenberge, Ziegen und Esel, Hühner und anderes Getier liefen zwischen Körben mit Gemüse und Obst umher. Das kommende Fest wurde von jedermann sorgfältig vorbereitet. Den rituellen Reinigungen in den Badehäusern folgten strenge Fastentage, die mit Gebeten und Exerzitien ausgefüllt waren.

Nun war es an der Zeit, die Vorratskammern für das bevorstehende Fest zu füllen. In jedem Haus gab es die traditionellen Kuchen und Speisen, die nur zu diesem Anlass gebacken und zubereitet wurden. Alles fieberte dem Passahfest entgegen, und mit bunten Wimpeln wurden die Häuser gekennzeichnet, in denen in diesem Jahr ein Kind zur Welt gekommen war. Bei dem großen Gottesdienst wurden alle neugeborenen Kinder mit einem besonderen Segen versehen und damit in die jüdische Glaubensgemeinschaft aufgenommen.

Die Frauen trugen große Körbe mit den benötigten Lebensmitteln nach Hause. Alles wurde nach strengen Regeln in eigens dafür vorgesehenem Geschirr und Töpfen zubereitet. Die Zeit der faden Fastenspeisen war damit vorbei, und alle freuten sich auf das Beisammensein mit der Familie und dem ausgiebigen Speisen, das dem Besuch der Synagoge folgte.

Heute schien eine besondere Anspannung in der Luft zu liegen. Die Händler fuhren unwirsch ihre Zöglinge an, die Frauen kreischten und gerieten in Streit, das Vieh blökte unruhig, und einige Adler kreisten über der Stadt. Ein Zeichen, dass etwas Besonderes in der Luft lag.

Sollte es etwa wieder ein Erdbeben geben?, so fragte sich Miriam. Sie hatte feste Stammkundschaft, die für verschiedenste Zwecke regelmäßig das Öl bei ihr kaufte. Mal waren es Salbungen, die rituell bei Hochzeiten stattfanden, ebenso wie spezielle Öle, mit denen Neugeborene eingerieben wurden. Die Salböle zum Reinigen der Verstorbenen bewahrte sie extra in einem Korb unter dem schlichten Holztisch auf. Sie wollte das Auge der Käufer nicht darauf lenken.

An diesem Morgen hatte sie schon eine Vielzahl von Käufern bedient und gönnte sich nun einen Schluck aus dem tönernen Wasserkrug und ein Stück Käse mit Brot, das sie in ihrer Tasche bei sich trug. Zu gern wäre sie selbst über den Markt gezogen, um all die Auslagen zu bewundern. Besonders die Goldschmiede erregten ihre Aufmerksamkeit. Der Schmuck, der in kleinen Holzkästchen angeboten wurde, war nach arabischer Art reich mit filigranen Mustern und Emblemen verziert.

Miriam wusste, dass sich heute Abend viele Gäste im Haus ihres Onkels versammeln würden. Ihr Bruder hatte ihr von der geheimen Zusammenkunft erzählt, die sich im Kreis einer besonderen Bruderschaft abspielte und zu der nur Mitglieder zugegen waren. Sie wusste, dass ihr Onkel seit Jahren Führer dieser Bruderschaft war, doch war ihr niemals zu Ohren gekommen, worum sich ihre regelmäßigen Versammlungen eigentlich drehten. Sie hatte sich niemals Gedanken darüber gemacht, bis eines Tages ein besonderer Gast erwartet wurde, der bei Anbruch der Dunkelheit ungesehen ins Haus geführt wurde und ebenso unbemerkt wieder verschwand. Dieser fremde Gast musste von besonderer Bedeutung sein, und Miriam war neugierig, ob sie ihn wohl heute zu Gesicht bekam. Sie war dazu eingeteilt, beim Austeilen der Speisen zu helfen, und somit würde sie die Versammelten in Augenschein nehmen können.

„Miriam, träumst du?“, rief die Bäuerin, die neben ihr einen Stand mit wohlriechenden Kräutern aufgebaut hatte. Einige Käuferinnen standen vor ihren Tonkrügen, um über ihren Inhalt zu beratschlagen. Doch Miriam hatte nur in Gedanken versunken vor sich hingestarrt. Nun fuhr sie auf, um die Käuferinnen zu beraten. Verwirrt zog sie ihr Kleid glatt und begann die verschiedenen Öle zu beschreiben.

Im Amtszimmer des Statthalters hatte sich eine Gruppe hoher Vertreter des jüdischen Rates versammelt. Sie waren abgesandt, um die Feierlichkeiten der kommenden Tage mit dem Statthalter zu besprechen und seine Soldaten um Rücksicht auf ihre religiösen Stätten zu bitten. Immer wieder verletzten römische Soldaten die Verbotszone am großen Platz vor der Synagoge und betraten heiligen Boden, der nur den jüdischen Priestern und Gläubigen vorbehalten war. Dieses Sakrileg wurde von der Gemeinde sehr beklagt, und so war auch heute die Gesandtschaft der Priester hier erschienen, um ihn zu bitten, seinen Soldaten Zurückhaltung aufzuerlegen.

In diesen Tagen kamen viele Menschen aus weit entfernten Regionen in die Stadt, um das große Fest zu feiern. Doch gab es immer auch allerlei Unruhen und Tumulte, wenn die hitzigen Diskussionen um religiöse Auslegungen und die allgemeinen Anfeindungen zwischen verschiedenen Bevölkerungsgruppen zu hohe Wellen schlugen. In diesem Fall war es den jüdischen Aufsichtsbeamten verwehrt, einzuschreiten, und römische Soldaten griffen oft allzu brutal ein, um die Streitenden zur Ruhe zu bringen. Daher waren in diesen Tagen die Gefängnisse überfüllt, und die bekanntermaßen immer wieder aufgegriffenen Streithähne wurden erst nach dem Fest wieder freigelassen.

Der Statthalter hörte sich die Klagen und Bitten der Priester ruhig an. Er war es leid, immer wieder schlichtend einzugreifen, aber wenn entscheidende Urteile gefällt werden sollten, wurde er gezwungen, in der einen oder anderen Weise zu entscheiden. Er fühlte sich wie ein Spielball zwischen rivalisierenden Gruppierungen, die ihn nach Belieben hinzuzogen oder ausschlossen. Und all dies tat er nur, um Ruhe in der Region zu bewahren, deren historische und traditionelle Feindseligkeiten für ihn nie genau zu durchblicken waren.

Auch heute wieder sollte er Soldaten dort postieren, wo die Priesterschaft es wollte, nicht jedoch da, wo ihre eigenen Wachtposten aufgestellt wurden. Manchmal wurde es ihm zuviel mit all den Regeln und den Sondergenehmigungen, die sie von ihm forderten.

Er kehrte in Gedanken in seine Heimat zurück, wo die religiösen Bräuche so viel einfacher und klarer waren. Es gab die einzelnen Feste, die den Göttern geweiht waren, und alle Welt konnte daran teilnehmen oder fortbleiben, ohne dass dies Züchtigungen und Sanktionen nach sich gezogen hätte. Er sehnte sich nach der Ruhe und Klarheit im Palast seines Vaters, wo alle Zeit das Leben nach eindeutigen Regeln ablief und alles seinen Platz hatte. Er verglich die Stadt hier mit einem Hexenkessel, einem Schlangennest im Vergleich mit seinem eigenen Zuhause.

Die Delegation verabschiedete sich, und er notierte einige Besonderheiten für den Dienstplan seiner Soldaten, die oftmals nur unwillig ihren Dienst versahen und von aller Welt nur verachtet und gehasst wurden. Das war kein Wunder nach der langen Belagerungszeit, die es jedoch niemals geschafft hatte, Ruhe und Ordnung in dieser Stadt zu schaffen. Was mochte das Passahfest dieses Mal wieder bringen? Schweiß rann ihm von der Stirn.

Der nächste Besucher war einer der wenigen Freunde, die er unter den Juden hatte. Er hatte ihn einst als Schlichter in den Auseinandersetzungen mit der Priesterschaft kennengelernt. Er war ein weiser und besonnener Mann, der immer wieder weitblickend und klug zu raten verstand. An diesem Morgen begrüßte er ihn besonders herzlich, war ihm dieser Gast doch immer willkommen.

Josef von Arimathäa war ein stattlicher Mann. Er überragte den Statthalter um Haupteslänge. Ein dichter dunkler Bart rahmte sein Gesicht ein, und seine hellen Augen blickten freundlich und weise in diese Welt.

Nach der Begrüßung setzten sie sich an den großen Tisch in der Mitte des Raumes. Ein Diener brachte kühle Getränke, und der Freund erkannte gleich, in welcher Gemütsverfassung sich der Prokurator1 befand. Sorgenvoll blickte er auf die Papiere, die die Oberfläche des Tisches bedeckten. Es waren unzählige Seiten, dicht beschrieben mit einer Vielzahl von Anweisungen und Erläuterungen, die er noch nicht annähernd durchgearbeitet hatte. Er wollte dies nicht seinem Sekretär Claudius überlassen, sondern selbst alles zuvor lesen, bevor er entschied, wie das eine oder andere von ihm umgesetzt wurde. Erneut hatte es in einem Viertel der Stadt Streitigkeiten darüber gegeben, wer die Treppe zuerst benutzen dürfe und welche Waren dort zu transportieren erlaubt waren, und welche nicht.

Solche ermüdenden Streitigkeiten kamen allenthalben auf seinen Tisch und wurden dann an untergebene Mitarbeiter weitergegeben. Die sorgenvolle Miene bezog sich nun nicht auf derartige Nichtigkeiten, sondern auf ein Dokument, in dem ein bevorstehender Prozess bereits in seinem Ausgang vorweggenommen wurde. Eine Vielzahl solcher Prozesse und Verurteilungen hatte er schon vorgenommen, doch dieses Mal, das spürte er deutlich, überschritt er seine Befugnisse.

Josef hatte still und mit ernstem Gesicht zugehört, als der Prokurator ihm seine Sorge mitgeteilt hatte. Er wusste, er würde ihm vertrauen können. Oft schon hatte er weitblickend Rat gewusst, besonders in Angelegenheiten, die religiöser Natur waren.

Josef fuhr sich mit der Hand über die Augen. Er hatte befürchtet, dass man das Passahfest dazu benutzen würde, um seiner habhaft zu werden und vor aller Welt ein Exempel zu statuieren.

Die ganzen letzten Monate hatte er diese latente Bedrohung gespürt, unwirklich und doch real. Viele Male hatten sie im engsten Kreis darüber diskutiert, welchen Ausweg es geben könnte. Nach monatelangen Diskussionen waren sie übereingekommen, einen Ausweg zu wählen. Dies war der Anlass seines Besuches gewesen. Dass nun der Prokurator selbst auf diesen Prozess zu sprechen kam, überraschte ihn. Er hatte nicht geglaubt, dass es so schnell gehen würde und der Hohe Rat die Verurteilung würde fordern können. Eine Weile saßen sie schweigend da.

„Nun, mein Freund, was wirst du mir raten in dieser schweren Stunde? Schon zum siebten Mal ist er mir im Traum erschienen, gottgleich mit strahlendem Gesicht. Sag mir, bist du ihm je begegnet, und stimmt es, was sie über ihn sagen?“

Josef antwortete nicht gleich. Er war sich darüber im Klaren, dass, wenn er die ganze Wahrheit zur Sprache brächte, er vielleicht das Vertrauen des Freundes verlöre. Er wollte ihn aber auch nicht hintergehen oder Unwahres antworten.

„Nun“, sprach er, „ich bin ihm begegnet. Und ich bin von seiner Lehre und von seinen Reden auf das Tiefste beeindruckt. Wenn er spricht, verwandelt sich die Welt, und es kehrt eine solche Stille und Ehrfurcht ein, dass niemand auch nur wagt, ihn zu stören oder das Wort zu erheben. Ich bin viele Male Zeuge dieser Kundgebungen geworden, bevor er im Geheimen zu lehren begann, und ich versichere dir, er ist der, auf den wir gewartet haben.“

Der Statthalter hatte mit weit aufgerissenen Augen zugehört. Er war zutiefst überrascht, aus dem Munde eines so besonnenen Mannes solche Worte zu hören.

„Ist es wahr, Josef, dass auch du dazugehörst?“

„Ja, es ist wahr, und ich werde dir auch erklären, wie es dazu kam.

Ich war im Hause eines Freundes in Kapernaum. Er war sterbenskrank und die Familie hatte schon die Totenwache holen lassen. Alle waren davon überzeugt, dass der Mann in wenigen Minuten versterben würde. Mein Freund rief ihn zur Hilfe und wenig später sah ich ihn zum ersten Mal. Als er den Raum betrat, ging ein Raunen durch die Reihen. Eine Ruhe und ein Glanz umgaben ihn, wie ich es noch nicht einmal bei den hohen Feiertagen in der Synagoge erlebt habe. Er murmelte nur wenige Silben, währenddessen hielt er die Augen geschlossen, und eine Hand erhob er über die Bettstatt des Sterbenden. Wir alle waren auf die Knie niedergefallen. Es geschah etwas Heiliges, überaus Wesentliches. Wir achteten nicht mehr auf den Grund seines Kommens, so gebannt waren wir von seiner Person und seiner Aura.

Wenig später schlug der Sterbende die Augen auf, sein Gesicht leuchtete und er sprach unverständliche Worte. Der Fremde nickte und ging schweigend davon. Das war das erste Mal, dass ich ihm begegnete. Später habe ich seinen Belehrungen zugehört, habe die wahre Lehre erkannt, die er spricht, und bin ihm viele Male begegnet, wo immer es möglich war. Mal hat er geheilt, mal Streit geschlichtet oder einmal sogar Hunderte von Anhängern gespeist, indem er wundersam die wenigen Lebensmittel vermehrte. Er kommt von Gott zu den Menschen, und es liegt eine große Gnade darin, ihm zu begegnen.“

Der Statthalter hatte staunend zugehört. „Dann stimmt es also, was sie über ihn sagen, er sei von den Göttern gesandt und mit besonderen Gaben ausgestattet?“ Josef nickte.

Der Wunsch, ihm ebenfalls zu begegnen, stieg in ihm auf. Warum nur, so dachte er bei sich, war der Unglückselige mit dem Hohen Rat so streng verfahren, hatte sie Heuchler und Brudermörder genannt? Warum war er für sie gefährlich, so bedrohlich, dass sie seinen Tod forderten? Er bedauerte es in diesem Moment, ihm nicht selbst begegnet zu sein, um ihn zu fragen, warum er all dies auf sich zöge, wenn er weiter in der Öffentlichkeit auftrat mit seinen aufrührerischen Ideen.

„Josef“, so sprach er nun, „ist es möglich, dass auch ich ihm begegne, ohne dass jemand etwas davon erfährt, ohne in Amt und Würden zu sein? Sag, ist es möglich? Es liegt mir sehr viel daran, mir selbst ein Bild von ihm zu machen, bevor ich ihm den Prozess machen muss. Sag, ist es möglich?“

Eindringlich klang seine Stimme und Josef nickte nur still.

„Komm heute Abend zu meinem Haus. Komm allein, ohne deine Leibgarde. Ich werde dir meine Söhne schicken, dich zu begleiten. Nimm einen einfachen Umhang und sorge dafür, dass niemand dir folgt.“

Mit diesen Worten erhoben sie sich, umarmten sich kurz und Josef verließ das Palais mit schnellen Schritten.

Es war kein Laut zu hören, als er unbemerkt das Haus verließ. Josefs Söhne warteten bereits. Sein dunkler Umhang verbarg auch sein Gesicht und das schlichte Gewand, das er an diesem Abend trug. Er hatte all seinen Schmuck abgelegt und sorgsam darauf geachtet, mit einfachen Sandalen und einem schlichten Stock zur vereinbarten Zeit an der hinteren Pforte zu warten.

Jetzt, wo es bereits dämmerte, wurde es stiller in den Gassen. Er war überrascht, wie schmutzig und schwül es hier war. Noch nie war er zu Fuß in diesen Teil der Stadt gekommen, wo sich nach Anbruch der Dunkelheit seltsames Volk in die Mauernischen drückte. Es war ihm, als würde er beobachtet, doch seine Begleiter eilten in schnellem Schritt voran, sodass er kaum Zeit hatte, sich umzusehen.

Als sie in den unteren Teil der Stadt gelangten, war das letzte Licht erloschen und die wenigen Fackeln erleuchteten nur spärlich den Weg. Er war es nicht gewohnt, so lange Strecken zu Fuß zu gehen und sein Atem ging schnell. Schweiß rann ihm von der Stirn. Jedermann, dem sie begegneten, musste den Römer in ihm erkennen mit seinem sorgfältig rasiertem Gesicht.

Sie erreichten einen kleinen, von Zedern umstandenen Platz. Hier befand sich das Essener-Tor, wo der Weg hinaus aus der Stadt führte, und hier lag das Haus Josefs, das eingerahmt von hohen Mauern direkt an die Stadtmauer angrenzte. Hinter der Mauer lag ein prächtiger Garten, ebenfalls von hohen ausladenden Bäumen überragt. Ein kleiner Weg führte zum Haus, wo schwaches Licht aus den Fensteröffnungen den Vorplatz beleuchtete. Es war in jeder Hinsicht ein bemerkenswertes Haus, ganz schlicht konstruiert, doch mit einer Vielzahl von Besonderheiten ausgestattet. Ein großer ausladender Steintisch flankierte eine prächtige Rosenhecke, die über und über blühte. Duftende Kräuter und breite Rabatten von Lavendel säumten den Weg, der aus kleinen Steinen in einem Muster aus Rauten und Kreisen kunstvoll gestaltet war. Das Haus selbst war von Wein bewachsen, der ein dichtes Blattwerk bildete. Die obere Etage war mit einer Aussparung zu einer Terrasse gestaltet, wo Josef zuweilen Sternenkunde betrieb und den Himmel beobachtete.

Beim Eintreten bemerkte der Prokurator eine große Versammlung in dem ersten Raum, an dem er vorbeigeführt wurde. Er hatte nicht damit gerechnet, dass so viele Menschen zugegen sein würden. Er schlug die Kapuze seines Umhangs zurück und ließ sich dankbar auf einen Stuhl fallen, der am Eingang des zweiten Raumes stand. Er sah eine Vielzahl von Personen, die hin- und hergingen, und eine spürbare Unruhe breitete sich aus. Er beobachtete all die Menschen, die ihm völlig fremd waren und die er noch nie zuvor zu Gesicht bekommen hatte.

Seine Hand glitt zu einem Beutel, der gut versteckt unter seinem Gewand an einem Gürtel befestigt war. Er hatte einige Silbermünzen bei sich, die er den Söhnen zum Dank für ihre Führung zu übergeben gedachte. Gerade als er sich erheben wollte, hörte er laute Stimmen, die vom Eingang her zu ihm drangen.

Er sah seinen Freund Josef, wie er gerade einen groß gewachsenen Mann begrüßte. Er trug ein staubiges Gewand und einen dichten dunklen Bart. Er hatte sein Gesicht noch nicht erkennen können, doch beim Nähertreten war er sich sicher, dass er es sein musste.

Viele begrüßten ihn, indem sie ihn umarmten. Viele verneigten sich nur scheu vor ihm, bevor er ganz den Raum betreten konnte. Josef steuerte direkt auf den Prokurator zu, der still die Situation beobachtet hatte. Mit dem ersten Blick, den der Fremde auf ihn richtete, ging etwas wie eine Woge von Energie durch seinen Körper. Er bemerkte, wie seine Knie zitterten und sein Herz pochte. Der Blick des Mannes war genauso, wie er es geträumt hatte. Tief und eindringlich, als ob für diesen Blick nichts verborgen bleiben könnte.

Im nächsten Moment stand Josef vor ihm, um ihm den Fremden vorzustellen. Er verbeugte sich tief und ein Gefühl großer Freude durchwogte ihn. Der Fremde hatte nur kurz seine Hand erhoben, wie, um ihn zu segnen, als es plötzlich still in dem Raum wurde.

Ein Sessel wurde herbeigeholt, und er ließ sich dort nieder, wo alle Versammelten ihn sehen und hören konnten. Er lächelte still und führte einen Becher zum Mund, den man ihm reichte. Er segnete alle Anwesenden, das Haus und den Gastgeber und begann dann in aramäischer Sprache, die dem Prokurator nicht geläufig war, zu sprechen. Seine Stimme war tief und wohlklingend und alle hingen gebannt an seinen Lippen. Er schien ein Gebet zu singen, in das alle von Zeit zu Zeit einfielen, um einen Refrain mit zu intonieren.

Ein kleines Mädchen schmiegte sich fest an ihn, um ganz in seiner Nähe zu sein. Josef hatte eine Schale mit Räucherwerk entzündet, der Duft von Kräutern und Sandelholz durchzog den Raum. Der Fremde hatte sein langes lockiges Haar, das tief über seine Schultern fiel, zum Vorschein kommen lassen, als er seinen Umhang ablegte. Er lächelte unentwegt, und Freude und Glückseligkeit machten sich im Raum breit.

Die Kleine war nun auf seinen Schoß geklettert. Sie hielt ihren linken Fuß hoch, der, es war nun deutlich zu sehen, verkrüppelt war. Er stand schief und verkrümmt ab, sodass sie nur einen Strumpf trug statt einer Sandale. Sie strahlte und herzte den Mann, der nun sanft und leise mit ihr zu sprechen begann. Die Kleine lachte und hörte andächtig zu, als er ihr etwas zu erklären schien. Sie hob abermals den verkrüppelten Fuß und der Fremde umschloss ihn vorsichtig mit seinen Händen. Er sprach währenddessen leise mit dem Kind und strich mit einer Hand sachte über den Fuß. Die Kleine hatte den Blick gesenkt und betrachtete ebenfalls den Fuß, der sich eigentümlich zu strecken begann. Er zuckte und zappelte mit einem Mal, so, als hätte sich eine fremde Kraft seiner bemächtigt.

Die Kleine stieß einen Schrei hervor, aber es war nicht der Schrei eines Schmerzes, den ihr der Fuß bereitete, sondern den des überraschten Erstaunens. Sie hob und drehte den Fuß und sprang dann auf die Füße, vollführte Freudensprünge und tanzte in der Mitte des Raumes herum. Alle waren verstummt und blickten gebannt auf die Kleine, die Freudentränen weinte und allen stolz ihren geheilten Fuß entgegenstreckte.

Die Eltern nahmen sie ebenfalls weinend in den Arm. Die Mutter kniete nieder, um dem Meister zu danken, der nur still dasaß und lächelte. Er hielt nun die Hand des Mädchens, das ihn überschwänglich herzte und umarmte. Er segnete die Familie und sagte den Eltern, dass ihre Tochter noch Großes vollbringen werde. Man solle sie in allem unterstützen, was die Kleine zu erlernen beabsichtigte.

Die Versammelten begannen nun wild zu gestikulieren und ein Stimmengewirr erhob sich, sodass der Prokurator nicht erkennen konnte, was nun vor sich ging. Viele umstanden den Fremden, und als sich der Tumult lichtete, war er verschwunden.

Die Menschen drängten nach draußen. Der Vater trug stolz die Tochter auf dem Arm, die unablässig auf ihren gesunden Fuß starrte. Alles strömte dorthin, wo ein Tisch mit Speisen angerichtet war. Sie bedeckten den ganzen Tisch. Oliven, Brot, Früchte und ein Gericht aus Linsen und Bohnen, das nur zur Fastenzeit zubereitet wurde. Alle füllten ihre Schalen, nachdem er sie gesegnet hatte. Sie redeten aufgeregt durcheinander und der Fremde stand da, hielt seine Schüssel in den Händen und antwortete auf Fragen, die die Umstehenden an ihn richteten.

Nach dem Mahl wandte der Fremde, den alle Meister nannten, den Kopf und blickte den Prokurator mit ernster Miene an.

„Nun, habt Ihr genug gesehen, um Euch ein Bild machen zu können?“

Pilatus blieb der letzte Bissen beinahe im Halse stecken. Woher kannte er seine Beweggründe und was bezweckte er?

„Ja“, antwortete er. „Ich habe genug gesehen, um zu bemerken, welche außerordentlichen Fähigkeiten Ihr beherrscht. Könnt Ihr mir ebenfalls helfen, meinen Gesundheitszustand zu verbessern?“ Er verneigte dabei leicht seinen Oberkörper, um seiner Hochachtung Ausdruck zu verleihen.

Der Fremde antwortete: „Würde dann Euer Urteil milder ausfallen?“

Der Prokurator schwankte. Röte schoss ihm ins Gesicht. Er weiß alles, fuhr es ihm durch den Kopf.

„Nun, da Ihr zu wissen scheint, in welcher Lage ich mich befinde, was ratet Ihr mir?“, antwortete er mit bebender Stimme.

Der Fremde lächelte jedoch nur: „Ich werde Euch Eure Arbeit nicht abnehmen.“

Damit wandte er sich ab, ohne eine Erwiderung abzuwarten.

Alle Umstehenden wandten sich ebenfalls zur Tür, um den Aufbruch des Meisters zu begleiten. Mit einem Mal wurde es still in dem Raum, wo der Fremde gerade seinen braunen Umhang umgelegt hatte. Ein seltsames Leuchten erfüllte den Raum. Das Gesicht des Meisters schien von innen her zu strahlen.

Miriam hatte sich tief vor ihm verbeugt. Sie war auf die Knie gesunken und hatte das Fläschchen mit dem kostbaren Salböl hervorgezogen. Ein Raunen ging durch die Menschen, die den Meister dicht umringten. Dem Prokurator gelang es, einen Blick auf das Geschehen zu werfen. Die junge Frau war niedergekniet, hatte die Füße des Meisters geküsst und dann mit dem Salböl übergossen. Sie rieb den Fuß damit ein, benetzte auch den anderen Fuß und begann, während ihr Tränen über das Gesicht rannen, mit ihrem Haar die Füße des Meisters zu trocknen. Sie schluchzte laut, den Kopf tief gebeugt.

Der Fremde hatte seine Hand auf ihren Kopf gelegt. Sein Blick ruhte auf der jungen Frau, die ihr Gesicht unter dem üppigen Haar verbarg. Der Meister murmelte einige unverständliche Worte. Leise und sanft klang seine Stimme. Dann nahm er die Hand der jungen Frau, richtete sie auf, und legte eine Hand auf ihre linke Schulter: „Komm mit und folge mir!“, waren die wenigen Worte, die der Prokurator vernahm.

Die Menge der Menschen murmelte und raunte und der Meister verließ das Haus, im Gefolge seine Begleiter und die junge Frau, deren Gesicht nun leuchtete und strahlte, so wie das Gesicht des Meisters, der vor ihr den Weg entlangschritt.

Die Gruppe verlor sich in der Dunkelheit, so, wie auch die anderen, die an der Versammlung teilgenommen hatten, sich in alle Richtungen zerstreuten.

Der Prokurator blieb nachdenklich zurück. Seine Knie gaben nach und er ließ sich auf den nächstbesten Stuhl fallen. Was war mit ihm geschehen? All sein Denken kreiste um diesen charismatischen Fremden, dem nichts verborgen blieb und der jeden Gedanken des anderen kannte. Was für ein Gott hatte sich da inkarniert? Wussten die Juden überhaupt, in welcher Gunst sie standen, dass er in ihrem Volk geboren war, so schoss es ihm durch den Kopf. Am liebsten wäre er aufgesprungen, um dem Fremden zu folgen. Doch etwas hielt ihn zurück und band ihn bleiern an den Stuhl, auf dem er saß.

Was hatte er damit gemeint, ob er sich ein Bild gemacht habe? War es überhaupt möglich, sich ein schlüssiges Bild zu machen, bevor er die Person überhaupt näher kannte, und wessen hatte er sich schuldig gemacht? Es war kein Vergehen, zu heilen oder zu segnen. Jeder Rabbiner durfte das. Was war es also, das ihn für die Pharisäer so gefährlich machte? Was war an dem sanften, freundlichen Mann so aufrührerisch?, so fragte er sich.

Sanft berührte ihn eine Hand an der Schulter, und er fuhr erschreckt zusammen. Josef stand neben ihm.

„Es ist Zeit, mein Freund. Eine Sänfte wartet und wird dich zurück zu deinem Palast bringen. Ich werde dich morgen zur Audienzstunde aufsuchen, um dir meine Pläne zu unterbreiten. Ich denke, du hast genug gesehen, um dir ein Bild zu machen.“

Schweigend umarmten sie einander, und er wurde zu einer Sänfte geleitet, die für ihn bereit stand. Erschöpft fiel er in den Sitz und schloss die Vorhänge, um unerkannt zu bleiben.

Wenig später, er hatte jedes Zeitgefühl verloren, erreichten sie den Palast des Prokurators. An der hinteren Pforte war die Tür unverschlossen und er konnte ungesehen in seine Gemächer gelangen. Ein einzelnes Öllicht brannte in seinem Schlafgemach, und er eilte in sein Ankleidezimmer, um sich auszukleiden und zu reinigen. Zu seinem Erstaunen hatte seine Gemahlin auf dem Bett Platz genommen. Sie schien ihn zu erwarten. Ernst blickte sie ihn an. Er wich ihrem forschenden Blick aus und legte seine Gewänder ab, ehe er in das Bassin mit warmem Wasser stieg. Er ließ sich hinabgleiten und schloss die Augen. Die Bilder des eben Erlebten stiegen in ihm auf. Konnte er ihr davon berichten, sie einweihen?, so fragte er sich. Sie war eine gläubige Frau. Jeden Tag wurden die Hausaltäre mit frischen Blumen geschmückt.

Sie hatte sich auf den Rand des Bassins gekniet und begann seine Schultern zu massieren. Niemand konnte das so wie sie. Ihre Hände waren so erfahren, genau die Muskeln zu bearbeiten, die es so dringend brauchten.

Ihre Stimme durchschnitt die Stille: „Und, hast du ihn gesehen?“

Er schnellte herum. Nervös blickte er zu ihr auf. Sein Herz pochte. Zitternd umklammerte er ihre Hände. Ungläubig blickte er auf: „Auch du?,“ flüsterte er. Sein Atem ging stoßweise vor Aufregung. „Dann weißt du um ihn?“

Sie nickte nur stumm: „Ich wusste, dass auch du eines Tages auf ihn stoßen würdest. Jeder findet ihn auf seine Weise. Es war meine Dienerin, die mir zuerst von ihm erzählte. Sie war zugegen, als er am See Genezareth eine Weile Menschen unterrichtete. Es ging die Kunde um, ein bedeutender Rabbiner sei gekommen, um die Lehre der Juden neu auszulegen und zu reformieren. Sarah ist gläubige Jüdin und hat seinen Belehrungen beigewohnt. Seitdem spricht sie von nichts anderem mehr. Jeden Tag erzählt sie mir von ihm. Sie sprach sogar davon, dass er Wasser in Wein verwandelt habe, als er Gast bei einer Hochzeit in Kanaan war. Ich hielt all dies für ausgemachten Unsinn. Ich dachte, sie sind ja in ihrem Wunderglauben noch schlimmer als die Römer.

Als er eines Tages aus dem Galil2 kam und hier in Jerusalem eine befreundete Familie besuchte, bat sie mich, sie zu begleiten. Sie glaubte, wenn ich es nur erst mit eigenen Augen gesehen hätte, würde ich ihr glauben. Das war vor über einem Jahr.

Seitdem bin ich viele Male zugegen gewesen, wenn er in die Stadt kam. Immer geschah etwas Unglaubliches. Ich sah, wie er eine blinde Bettlerin heilte und ein tot geborenes Kind zum Leben erweckte. Ich habe dir nie von all dem erzählt, weil ich glaubte, es würde dich beleidigen, wenn ich zu dem wundersamen Juden ginge. Jedes Mal nahm ich mir vor, dich zu bitten, mich zu begleiten. Doch meine Freunde, die ich unter der Anhängerschaft des Meisters fand, rieten mir davon ab. Sie sagten, wenn es so sein soll, wird sich dein Weg mit dem Seinen kreuzen. Und so ist es jetzt gekommen.

Sarah berichtete mir, dass sie dich unter den Anwesenden im Hause Josefs gesehen habe. Ich war zutiefst überrascht, aber auch sehr erleichtert. Ich kann nun offen zu dir sprechen. Aber erzähl mir, was hast du gesehen? Hat er wieder geheilt?“

Nach einigem Zögern begann er die Geschehnisse zu schildern. Sie fuhr erschreckt auf, als sie hörte, was der König und der Hohe Rat von ihm forderten. Bestürzt sprang sie auf. Ihre Augen füllten sich mit Tränen.

„Was wirst du tun?“, schluchzte sie, „du kannst ihn unmöglich dem Sanhedrin3 ausliefern!“

Er war in sich zusammengesunken. Tränen, die schon lange darauf gewartet hatten zu fließen, rannen nun an seinem Gesicht hinab. Schützend umklammerte er seine Gemahlin.

An ihrem Ohr flüsterte er: „Ich werde es nicht tun, das verspreche ich dir. Ich werde nicht tun, was sie von mir fordern. Ich bin der Prokurator Judäas, und sie haben mir nichts zu befehlen.“ Lange lagen sie sich in den Armen.

Am kommenden Morgen erwachte er gestärkt und erfrischt. Trotz der Erfahrung des vergangenen Abends war er beruhigt und zuversichtlich, eine Lösung zu finden. Er wartete nervös auf das Eintreffen seines Freundes, der sein Kommen ja angekündigt hatte.

Er bearbeitete einige Schriftstücke, nahm ein kleines Frühstück zu sich und beäugte jeden seiner Bediensteten so genau, dass sie nervös aufblickten. Jedes Mal fragte er sich, ob auch sie den seltsamen Meister kannten, womöglich dazugehörten? War es bereits eine geheime Gemeinschaft, die sich im Verborgenen gebildet hatte? Das konnte der Grund sein, warum man ihn weg haben wollte, so gingen ihm seine Gedanken durch den Kopf.

Am späten Vormittag klopfte es leise an die Tür. Ein Diener brachte ein Schreiben, das an ihn persönlich adressiert war. Er brach das Siegel und entrollte die Handschrift. Es war die Schrift Josefs, die er gut genug kannte. Mit zitternden Händen begann er zu lesen. Die Buchstaben waren augenscheinlich in aller Eile aufgezeichnet worden. Manches konnte er kaum entziffern. Den wenigen Zeilen konnte er entnehmen, dass Jeheshua, so hieß der Meister, verhaftet worden war.

Er war vor dem heiligen Bezirk von der Tempelpolizei festgenommen worden, als er dort sein Morgengebet verrichten wollte. Die Anklage lautete offenbar auf Verletzung heiliger Gebote, der Gesetze der Thora und Aufrührertum. Er hatte vor einer großen Menschenmenge Gebete angestimmt, und dies sei unzulässig und allein den Priestern vorbehalten. Er war im Kerker des Herodes inhaftiert worden.

Bestürzt legte er das Schriftstück nieder. Nun war das geschehen, was er um jeden Preis hatte verhindern wollen.

Wenn es um religiöse Verstöße ging, konnte der Hohe Rat selbst Inhaftierungen und Verurteilungen vornehmen. Er musste bei schweren Strafen jedoch seine Zustimmung geben und das Urteil bestätigen. Bisher hatte er erst einmal diese Bestätigung verweigert, weil er das Urteil als unbotmäßig hoch empfand. Daraufhin wurde mit einem Aufstand gedroht, der ihn seinen Posten hätte kosten können. Man wusste, dass er um jeden Preis eine Eskalation würde vermeiden müssen, denn die römischen Soldaten würden nicht lange einer aufständischen Bevölkerung standhalten.

In diesem Fall war er nun machtlos. Er konnte in solchen Angelegenheiten nicht allein entscheiden, ihm waren die Hände gebunden. Eilig warf er einige Zeilen auf einen Bogen Papier, worin er Josef bat, so schnell wie möglich bei ihm vorstellig zu werden. Ein Bote sollte das Papier sofort zum Hause Josefs bringen und es ihm persönlich übergeben. Josef war Mitglied des Hohen Rates. Er musste einen Ausweg finden.

Abdul Ben Massa hatte gute Geschäfte gemacht. Jemand hatte ihm angeboten, in seinem Haus zu wohnen. Seine kleine Tochter, gerade zehn Monate alt, litt an gefährlichem Durchfall. Das Kind war schon so geschwächt, dass es kaum reagierte. Der Mann hatte Abdul gebeten zu helfen. Dafür sollte er eine Unterkunft und Verpflegung von ihm erhalten. Er hatte dankend abgelehnt, da es ihm nicht behagte, so dicht mit fremden Menschen zusammenzuleben. Doch das üppige Mittagsmahl hatte er gern angenommen.

Der Tisch war mit Tonschüsseln und länglichen Tontellern gedeckt, auf denen verschiedene Speisen angerichtet waren wie gekochtes Gemüse, geschmortes Fleisch, Joghurt und ein Krug Wein.

Abdul hatte dem Mädchen etwas von einer Kräutertinktur eingegeben, die er schon oft bei Erkrankungen dieser Art erfolgreich eingesetzt hatte. Er gab der Mutter noch ein Fläschchen davon, bevor er sich nach dem Mahl von seinen Gastgebern verabschiedete.

Er überquerte den großen Platz und steuerte auf eine kleine Taverne zu, als er laute Stimmen und Pferdegetrappel hörte. Instinktiv bog er in eine der kleineren Gassen ab, denn nur römische Soldaten patrouillierten zu Pferde in der Stadt. Über einige Umwege erreichte er die Herberge, wo er sich auf der von Wein überrankten Terrasse an einem der einfachen Holztische niederließ.

Wieder spürte er diese Anspannung, diese Nervosität, die ihm schon am Abend zuvor aufgefallen war. Es herrschte eine Atmosphäre der Aggressivität. So stark hatte er sie noch niemals wahrgenommen. Immer da, wo viele Menschen beieinander leben, kam es zu solchen geballten Energien. Doch dieses Mal, das spürte er ganz deutlich, lag etwas anderes in der Luft. Eine Atmosphäre, die etwas ankündigte, wie etwa ein schweres Gewitter oder ein Erdbeben. Aber auch das spürte er ganz deutlich, es war keines von beidem. Er schloss die Augen, um sich stärker auf die Empfindung zu konzentrieren. Ja, es lag etwas in der Luft. Ein Ereignis von großer Bedeutung, eher bedrückend als erfreulich.

Er griff nach seinem Becher, den der Wirt der Herberge ihm bereitgestellt hatte. Der Tonkrug war mit frischem, kühlem Wasser gefüllt, das ihm in der schwülen Wärme, die in den Gassen stand, guttat.

Ein Fremder betrat die Terrasse. Von seinem Gewand her ein Mann aus dem Norden, wo man diese grob gewebten Wollgewänder trug. Sein geschnitzter Stab war der eines Hirten, doch sein Gebaren deutete eher darauf hin, dass er mit seinen Händen arbeitete. Abdul betrachtete eher abwesend den Fremden, der ebenfalls gierig seinen Becher leerte. Sein Gesicht sah sorgenvoll und angespannt aus. Was mochte den Mann bedrücken?, so fragte er sich.

Er nickte ihm freundlich zu, und der Fremde maß ihn mit einem forschenden Blick, in dem eher Misstrauen als Freundlichkeit lag. In diesen Zeiten, in denen so viele Menschen die Stadt bevölkerten, mochten auch viele Gauner unter ihnen sein, und ein gewisses Maß an Misstrauen war wohl angebracht.

Dieser Mann jedoch strahlte Angst und Sorge aus. Eine Weile beobachteten sie einander, dann erhob sich der Fremde und stellte sich vor. Er war Fischer aus dem Galil. Sein Dorf lag direkt am See Genezareth und er war mit Freunden in die Stadt gekommen. Einer von ihnen sei jedoch am Morgen unter völlig fragwürdigen Umständen verhaftet worden. Sorge und Trauer lagen in seiner Miene. Es tat ihm gut, mit jemandem zu sprechen. Abdul legte seine Hand auf seinen Arm, um ihm ein wenig Zuspruch zu leisten.

„Vielleicht ist er morgen schon wieder frei. An Tagen wie diesen wird schnell in den Kerker geworfen, um Ruhe in der Stadt zu bewahren.“

Doch der Fischer schüttelte nur stumm den Kopf. „Sie haben ihn mitgenommen.“

Mit einer Woge der Trauer erzählte der Fischer von dem Meister und von seinen Bedenken, er könne womöglich für immer von ihnen genommen werden. Er schluchzte in die aufgestützten Hände.

Abdul Ben Massa begriff, dass dieser Meister etwas Besonderes sein musste. Er versuchte den Mann zu beruhigen, und als der Abend heraufkam, hatte der Fischer ihm so viel von seinem Meister erzählt, dass er beschloss, ihm zu helfen.

Im Schutz der Dunkelheit machten sie sich auf den Weg zum Kerker des Herodes, der von dicken Mauern umgeben in dem nördlichen Teil der Stadt lag. Der Fischer wusste nicht genau, ob sie ihn dorthin gebracht hatten. Er hatte nur Stimmen gehört, die von diesem Kerker sprachen, und darum vermutete er, dass der Meister sich hier befinden müsse. Abdul Ben Massa schloss die Augen und vertiefte sich einen Moment. Er tastete in Gedanken das Gebäude ab, das schwer und drohend vor ihnen lag. Er spürte Leid, Schmerzen und Schmach. Der stechende Geruch von fauligem Fleisch und Exkrementen schlug ihm entgegen. Doch schon bald konnte er eine helle Lichtquelle wahrnehmen, stark, rein und liebevoll. Ja, das musste der Meister des Fremden sein, so, wie er ihn geschildert hatte.

Abdul hatte den starken Wunsch, diesen Meister kennen zu lernen. Er holte einige Münzen aus seinem Beutel und trat zu der Wache, die ein gewaltiges Tor bewachte. Er sprach leise mit dem Mann und erfuhr für eine kleine Gegenleistung, dass man heute einen Verrückten eingesperrt habe, von dem alle behaupteten, er sei der Messias.

Ein zahnloses Grinsen begleitete seine Ausführungen. „Sie werden ihm wohl den Garaus machen, ihr werdet schon sehen. So, wie sie ihn behandelt haben, wird nicht viel von ihm übrig bleiben.“

Abscheu stieg in Abdul auf. Er wandte sich ab, um dem Fischer zu berichten, was er erfahren hatte. Simon, so hieß der Fischer, hatte Vertrauen zu Abdul gefasst.

„Komm mit heute Abend zu einer der Versammlungen, wo wir uns treffen“, zischte er leise.

Eine heftige Windböe wirbelte den Staub auf, der sich auf dem Platz angesammelt hatte. Die Fensterläden waren dicht verschlossen, und im Inneren des Hauses hatte sich eine kleine Gruppe von Menschen versammelt, die zum engsten Kreis des Meisters gehörten. Judas, Karim, Nikodemus, Sarah, Maria Magdalena und Simon Petrus, der den Fremden mitgebracht hatte.

Bedrücktes Schweigen herrschte in dem Augenblick, in dem sie sich zusammengefunden hatten. Mit ernsten, tief besorgten Gesichtern saßen sie da, um Brot und Wein miteinander zu teilen, so, wie es der Meister stets tat. Nach den Gebeten hatten sie sich an den Händen gehalten, um gedanklich zu ihrem Meister zu reisen, der an diesem Abend nicht bei ihnen sein konnte.

Nikodemus hatte ein Schriftstück entrollt, das er am Nachmittag mit Hilfe von Josef von Arimathäa verfasst hatte. Man bat darum, den Inhaftierten bis zur Verhandlung freizulassen und ihm zu erlauben, sich innerhalb der Stadt zu bewegen.

Die Bedrückung steigerte sich noch weiter, als Josef von Arimathäa eintraf und nur schweigend den Kopf schüttelte. Sie hatten ihn der Ämter, die er im Hohen Rat bekleidete, enthoben und damit alle Befugnisse genommen. So konnte er den Versammlungen nicht mehr beiwohnen und die Debatten und Entscheidungen dort nicht mitverfolgen. Sie spürten, dass Jeheshua noch am Leben war, aber sie spürten auch Zorn und Wut auf den Hohen Rat und die Pharisäer, die mit allen Mitteln versuchten, ihn zu verurteilen.

Das Öllicht flackerte, wenn eine neue Windböe durch die Gassen fegte. Sie stimmten erneut ein Gebet an, indem sie sich an den Händen hielten und den Worten des Simon lauschten.

Abdul Ben Massa hatte etwas abseits in einer Ecke des kleinen Raumes Platz genommen. Er hatte alle Anwesenden nur still beobachtet und den Gebeten gelauscht. Jetzt blickte Josef freundlich zu ihm herüber: „Komm doch näher, Fremder, und erzähl uns, wer du bist und was dich zu uns geführt hat.“

Zögernd verbeugte er sich leicht und stellte sich vor.

Alle Anwesenden richteten ihre Aufmerksamkeit auf den Fremden, der ihnen trotz allem irgendwie vertraut erschien.

Abdul Ben Massa begann zu erzählen: „Ich stamme aus einem fernen Land, weit von hier. Ihr würdet es Gallien nennen. Meine Eltern sind vor vielen Jahren dorthin verschleppt worden, und ich bin in diesem Land geboren, dessen Sprache ich auch beherrsche, denn bis zu meinem sechsten Lebensjahr habe ich dort gelebt.

Dann gelang uns auf mysteriöse Weise die Flucht, denn meine Eltern dienten dort als Sklaven bei einem reichen Kaufmann. Ich selbst musste schon früh den Herrschaften zu Diensten sein und habe bereits als kleines Kind Wasserkrüge geschleppt und im Garten geholfen. Meine Mutter wurde plötzlich sehr krank, und wir alle befürchteten, dass sie sterben würde. Doch die Heilkunst eines Magiers aus einem benachbarten Land ließ sie sehr schnell wieder genesen. In diesem Moment war für mich entschieden, was ich einmal aus meinem Leben machen wollte, und der Mann, der meine Mutter geheilt hatte, eine große, aufrecht stehende Persönlichkeit mit ausdrucksvollem Gesicht, lächelte mich nur an, als verstünde er meine Gedanken zu lesen.

Er war es auch, der uns zur Flucht verhalf, denn meine Eltern wollten unbedingt noch einmal ihr Heimatland sehen, bevor meine Mutter sterben würde, denn der Fremde sagte uns, dass sie zwar zunächst geheilt sei, aber die Krankheit wiederkommen werde. Ich fragte mich damals, unwissend, wie ich war, wie er das wissen konnte? Heute ist es für mich selbstverständlich, in den Geist eines Menschen einzutauchen und sowohl seine Vergangenheit als auch seine Zukunft zu lesen.“

„Welche Zukunft hat unser Meister?“, wurde Abdul von Miriam unterbrochen.

„Ich sehe einen Mann, der ans Kreuz geschlagen wird. Aber er wird die Kreuzigung überleben!“

Alle starrten Abdul mit weit aufgerissenen Augen und völlig fassungslos an. Maria Magdalena begann leise zu weinen und Simon Petrus wurde wütend. Er begann zu schimpfen und die Römer zu verfluchen.

„Was, was können wir tun?“, stammelte Josef, der als erster die Fassung wieder zu erlangen schien.

„Wir können ihm den Schmerz nehmen, indem ihr ihm eine Tinktur verabreicht, die ich eigens für diesen Zweck herstellen kann.“

„Was ist das für eine Tinktur?“, wollte Judas wissen, der bisher ziemlich teilnahmslos in der Ecke gestanden hatte und still in sich versunken war.

„Es ist eine besondere Rezeptur, die mir mein Meister anvertraut hat. Sie wirkt sehr schnell und lässt den Einnehmenden in eine Art Rausch fallen, der ihn zwar noch seine Umwelt wahrnehmen lässt, der aber auch dazu führt, dass der körperliche Schmerz größtenteils ausgeschaltet wird.“

„Wie sollen wir ihm diese Mixtur verabreichen?“, fragte Josef, der keinen Augenblick an den Aussagen des Fremden zweifelte, der über ein so großes Wissen zu verfügen schien.

„Ich werde es tun!“, meldete sich Karim zu Wort. Er war Gewürzhändler seines Zeichens, hatte aber einige Jahre bei den Essenern verbracht, einem geheimnisumwitterten Orden in der Wüste, der zu vielen Spekulationen anregte. Für die einen handelte es sich um Verrückte, die auf den Weltuntergang warteten, für die anderen galt dieser Orden als Stätte großen Wissens und tiefer, besonderer Kenntnisse, in die auch der Meister eingeweiht worden war.

Nun schaute Josef Karim an. „Wie willst du das bewerkstelligen?“

„Lass das nur meine Sorge sein. Ich habe da so meine eigene Vorstellung.“

Niemand zweifelte daran, denn Karim war dafür bekannt, über besondere Beziehungen zu verfügen, die ihm Wege in die höchsten Kreise ebneten. Er galt als Chamäleon, weil er es verstand, sich stets den Umständen entsprechend zu verwandeln. Mal als Bettler, mal als kluger und erfolgreicher Geschäftsmann, mal als Eingeweihter, der den engsten Schülern Jeheshuas Meditations- und Übungsanleitungen gab. Er stand dem Meister besonders nah, hatte er doch einige Jahre mit ihm gemeinsam bei den Essenern verbracht und war seit seinem öffentlichen Wirken nicht mehr von seiner Seite gewichen.

Eile war geboten, denn das Passahfest nahte und Pontius Pilatus war bereits, das hatte man aus geheimen Quellen erfahren, dazu aufgefordert worden, das Urteil des Hohen Rates zu bestätigen, das ohne eine Verhandlung wohl schon verhängt worden war, so erzählte Josef weiter. Er verheimlichte jedoch einige Details, weil er wusste, dass diese die Anwesenden zu sehr bestürzen würden.

Jeheshua lag auf dem kalten Steinboden. Blut rann aus vielen Wunden, die ihm seine Peiniger zugefügt hatten. Er war, nachdem man ihn in den Kerker geworfen hatte, aufs Übelste misshandelt worden. Die Wärter hatten sich einen Spaß daraus gemacht, ihm seine Kleider vom Leib zu reißen, um ihn übel zu beschimpfen und zu bespucken und mit ihren Peitschen zu traktieren. Sie hatten von oberster Stelle die Erlaubnis dazu erhalten, nachdem ein Zwiegespräch zwischen Herodes und dem Gepeinigten ergebnislos verlaufen war.

Herodes hatte ihn gefragt: „Bist du der König der Juden? Bist du der neue König der Juden?“

Doch dieser hatte nur geantwortet: „Mein Reich ist nicht von dieser Welt.“

Der als cholerisch bekannte und deswegen gefürchtete Herodes ohrfeigte ihn daraufhin und ließ ihn erneut auspeitschen. Doch auch nach dieser unmenschlichen Behandlung hatte er keine andere Antwort erhalten.

Er muss weg – dachte er bei sich –, er muss von der Bildfläche verschwinden. Er hatte die Wachen angewiesen, sich seiner anzunehmen, und die Umstehenden wussten nur zu gut, was das bedeutete. Die meisten überlebten diese Qualen und Folterungen nicht. Aber dieser Mann schien von außerordentlicher körperlicher Widerstandskraft zu sein.

Jeheshua lag auf der Seite, denn die tiefen Wunden auf seinem Rücken, die die Peitschenhiebe verursacht hatten, erlaubten es ihm nicht, auf dem Rücken zu liegen. Er wandte sich an einen Mitgefangenen und bat ihn um einen Schluck Wasser. Dieser ging zu dem Wachtposten und fragte nach einem Schluck. Doch dieser lehnte lächelnd ab.

„Soll euer selbsternannter König doch einen seiner Bediensteten schicken!“, antwortete er sarkastisch und lachte dabei lauthals.

Der Mithäftling, ein stadtbekannter Dieb von großer Statur und nicht das erste Mal in Haft, neigte sich zu dem Gepeinigten und wollte ein paar tröstende Worte sprechen. Doch dieser war schon wieder in eine tiefe Ohnmacht gefallen. Zu stark waren die Schmerzen und der Verlust von Blut, das an seinem ganzen Körper klebte und immer noch in kleinen Bächen aus den tiefen Wunden rann.

Die Anhänger hatten bis tief in die Nacht zusammengesessen. Sie vertrauten dem Fremden und glaubten seinen Worten. Der Sturm rüttelte an den Pforten, und es war menschenleer in den Gassen. Als die Öllampen heruntergebrannt waren, verließen sie das Haus Karims, wo sie sich getroffen hatten. Zuvor verabredeten sie sich, am kommenden Abend in Josefs Haus zusammenzutreffen.

Abdul Ben Massa kehrte in seine Herberge zurück. Er spürte die Bedrohung, die auf dem Meister lag, aber er vermochte nicht zu sagen, wie man sie würde abwenden können.

Am kommenden Morgen sollte Josef beim Prokurator vorstellig werden. Er fand dessen Nachricht vor, als er in sein Haus zurückkehrte.

Der kommende Tag war grau verhangen. Der Sturm, der den Wüstensand mit sich in die Stadt trug, ließ die Menschen in den Häusern verharren.

Josef machte sich frühzeitig auf, um mit Pontius Pilatus zu sprechen. Er hatte einige Paragraphen und Gebote ausfindig gemacht, die bestimmten, was den Verurteilten zustand, und ihnen ein zu langes Leiden ersparen konnten. Er wollte seinen Freund bitten, diese Regelungen dem Sanhedrin vorzutragen. So war es möglich, nach Sonnenuntergang den Leichnam vom Kreuz zu nehmen und zu bestatten. Er wollte von diesem Recht Gebrauch machen, wenn es so weit kommen sollte.

Von Sorgen gebeugt und in tiefer Trauer erreichte er das Palais des Prokurators, der ihn bereits ungeduldig erwartete. Ein Augenblick lang lagen die Männer einander schweigend in den Armen, bevor sie sich im Audienzzimmer niederließen.

Pontius Pilatus hatte einige Schriftstücke verfasst, worin er den Sanhedrin bat, den Gefangenen den römischen Gerichten auszuliefern. Immerhin konnten Aufrührertum und unerlaubtes öffentliches Auftreten auch vor dem Prokurator und der römischen Aufsichtsbehörde verhandelt werden. Er glaubte nicht recht daran, dass dies möglich wäre, aber es war einen Versuch wert.

Josef hatte still und mit ernstem Gesicht den Ausführungen des Freundes gelauscht: „Was, wenn sie es nicht tun?“, antwortete er. Sein Kopf war auf seine Arme gestützt, so, als wäre dieser zu schwer für ihn geworden.

Pontius Pilatus schüttelte zögernd den Kopf: „Nun, ich weiß es nicht, Josef. Wenn sie mich nicht eingreifen lassen, wird er schon bald verurteilt. Was das bedeutet, weißt du. Noch nie haben wir jemanden davor retten können, selbst wenn der Anlass zur Verurteilung noch so nichtig war. Sie werden ein großes Spektakel daraus machen, um ihre Macht zu demonstrieren. Ich werde als letzte Instanz in dem Prozess zugegen sein. Bitte die Götter, dass sie mir mehr Handlungsspielraum einräumen und ihn meinem Gefängnis überstellen. Ich werde noch heute das Schriftstück überbringen lassen. Wenn ich erst allein Verfügungsgewalt habe, können wir den Prozess nach unseren Wünschen lenken.“

Josef schüttelte ungläubig den Kopf. „Ich kann nicht glauben, dass sie dem zustimmen. Wir müssen einen anderen Weg finden, um ihn zu retten.“

Mit wenigen Worten schilderte er die Ausführungen des fremden Magiers, der am vergangenen Abend seine Hilfe erboten hatte. Er erwähnte die Tinktur, die, richtig angewandt, den Körper schmerzfrei machen konnte.

Pontius Pilatus dachte einen Augenblick lang nach. Wie sollte das vonstattengehen? Wer konnte gefahrlos die Gefängnismauern betreten? Er wusste, es war nur in Ausnahmefällen erlaubt, Angehörigen den Weg in die Zellen zu öffnen, und das auch nur, wenn die Gefahr bestand, dass der Inhaftierte zu sterben drohte.

Sie redeten noch einige Stunden, bis ein Plan herangereift war, der gelingen konnte.

Noch am Nachmittag desselben Tages machte sich die Gemahlin des Prokurators in Begleitung ihrer Dienerin und zweier Soldaten auf den Weg zum Gefängnis. Sie trugen Körbe mit Wein, Brot und Früchten bei sich, ferner etwas Öl, um heilende Verbände anzulegen. Man wusste, dass die Inhaftierten oftmals bis zur Bewusstlosigkeit gepeinigt wurden.

Sie betraten durch das Hauptportal den Palast und wurden zum Hauptquartier der Wächter geführt. Procula4 gab vor, anlässlich des bevorstehenden Festes den Gefangenen Brot und Wein zu bringen.

Die Anordnung des Prokurators, seiner Gemahlin Einlass zu gewähren, sollte befolgt werden, und so stand sie einige Zeit später in den dunklen Gängen, die zu den Zellen führten. Der Gestank, der ihr hier entgegenschlug, war betäubend. Sie drückte ihren Schleier fest vor das Gesicht.

In einigen Zellen konnte sie im Halbdunkel zerlumpte Gestalten erkennen. Sie lagen oder hockten auf dem von Unrat übersäten Steinboden. Sie reichte in die Zellen, die sie passierten, einige Brotlaibe, die mit gierigen Händen ergriffen wurden. Tränen rannen über ihr Gesicht. Die Soldaten, die sie begleiteten, mussten erst den Gang von Unrat und Schmutz befreien, bevor sie ihren Weg fortsetzen konnte.

Jedes Mal war es dasselbe Bild. Die Zellen waren vollgestopft mit Menschen, die an Händen oder Füßen Ketten trugen. Nach einiger Zeit hatten sich ihre Augen an die Dunkelheit gewöhnt. Sie stiegen in tiefere Gefängniskeller, die über enge Treppen, mit Schmutz bedeckt, zu erreichen waren.

Beinahe wollte sie aufgeben, die Zelle des Meisters zu finden, als ein alter, zahnloser Mann sie heranwinkte. Die vor Schmutz starrenden Hände wiesen auf den am Boden liegenden Gefangenen. Sie erkannte sofort den Meister. Er war bewusstlos oder in tiefem Schlaf. Jedenfalls bewegte er sich nicht. Sein Körper war über und über mit Wundmalen bedeckt.

Übelkeit stieg in ihr hoch. Sie wies den Wärter an, die Gittertür zu öffnen, was dieser widerwillig befolgte. Sie gab den Mitgefangenen Brotlaibe und Früchte.

Sarah hob vorsichtig das Haupt des Meisters. Sein Blick war gebrochen, seine Lider flackerten. Sie entrollten einige Tücher, legten ihn vorsichtig darauf und begannen seine Wunden mit Öl zu reinigen. Nur einmal blickte er kurz auf, stöhnend hob er die Hand, ehe er wieder bewusstlos wurde.

Sie flößten ihm einige Schlucke Wasser ein und bedeckten ihn mit Tüchern, bevor sie die Zelle wieder verließen.

Tränenüberströmt eilten sie durch die engen Gänge, in denen der Gestank ihnen fast die Sinne raubte.

„Er lebt noch!“, flüsterte sie, wie um sich selbst zu beruhigen.

Der Wachmann schloss hinter ihnen die Pforte, in die nur eine kleine Öffnung eingelassen war. Krachend fiel die Tür hinter ihnen zu.

Auf dem Vorplatz waren nur wenige Menschen, vollkommen verhüllt, um die staubige Luft nicht einatmen zu müssen. Eilig kehrte sie in den Palast zurück, um ihrem Gemahl alles zu berichten. Ihre Knie zitterten und Schwäche befiel sie, als sie das Palais erreichten. Der Anblick des Gefängnisses war zu viel für sie gewesen.

Dunkle Wolken hingen tief am Himmel, als die Gemeinschaft sich an diesem Abend zusammenfand. Die kleine Halle im Hause Josefs war hell erleuchtet. Alle hatten um den großen Tisch Platz gefunden, an dem der Meister noch vor kurzem die Speisen gesegnet hatte.

Sarah hatte vor Aufregung glänzende Augen. Sie wolle den Versammelten von dem Besuch im Gefängnis berichten. Schon am Nachmittag hatte sie Josef aufgesucht, um ihn ins Bild zu setzen. Nun, da sie den anderen davon berichten sollte, war ihre Kehle wie zugeschnürt. Die Bilder und Eindrücke des im Gefängnis Erlebten ließen Tränen aufsteigen. Mit ganzer Kraft rief sie sich zur Ordnung, um mit zitternder tränenerstickter Stimme ihren Besuch mit ihrer Herrin im Gefängnis zu schildern.

Nachdem sie geendet hatte, stand Simon Petrus abrupt auf. Er schleuderte seinen Stuhl zur Seite, mit dem Gesicht zur Wand hämmerte er mit den Fäusten auf die rohen Steine. Seine Verbitterung und Wut waren grenzenlos.

Josef stand nun hinter ihm. Er legte beschwichtigend seine Hand auf Simons Schulter:

„Bedenke, was der Meister dir in diesem Moment sagen würde“, flüsterte er.

Stumm ließ Simon sich zurück an den Tisch führen. Er war bereit, sich ebenfalls einkerkern zu lassen, nur um dem Meister nahe zu sein. Alle Versammelten waren starr vor Schreck. Was sollte es nutzen, wenn noch einer von ihnen den Folterern zum Opfer fiel? Was konnte er im Gefängnis ausrichten? War es nicht viel besser, auf dem gleichen Weg, den Sarah gegangen war, erneut ins Gefängnis zu gelangen? Alle versuchten, Fluchtmöglichkeiten zu entwickeln, als der Fremde, der auch heute der Versammlung beiwohnte, sich zu Wort meldete.

Mit unbewegter Miene bat er um Ruhe: „Ich habe eine starke Energie wahrgenommen, die sich hier im Raum befindet.“

Er hatte seine Augen geschlossen und konzentrierte seine inneren Sinne auf eine helle Gestalt, die mitten unter ihnen wahrzunehmen war. Es war der Meister in seinem Geistkörper. Starke Schmerzen ließen seine Züge verschwimmen, aber seine Präsenz war so stark, dass nun auch Maria Magdalena ihn wahrnehmen konnte.

„Er ist da!“, schrie sie. „Seht doch, er steht hier mitten unter uns!“

Alle wirbelten herum, um an die Stelle zu blicken, auf die sie mit ihrer Hand deutete.

Der Meister hatte einen hellen Lichtschein im Raum entstehen lassen. Besonders um sein Haupt schien er sichtlich stärker zu leuchten. Simon fiel auf die Knie: „Meister“, schluchzte er, „wie können wir dir helfen?“

Der Meister legte segnend die Hand auf sein Haupt: „Simon“, flüsterte er, „ich möchte, dass du die Gruppe anführst. Du sollst die Unterweisungen fortführen. Ich werde nicht mehr lange unter euch sein.“

Mit diesen Worten verschwand die Lichtgestalt ebenso plötzlich, wie sie gekommen war. Maria Magdalena schluchzte laut auf. Was bedeutete es, wenn er sagte, er sei nicht mehr lange unter ihnen? Sie wollte das eben Gehörte nicht begreifen. Er durfte sie nicht verlassen. Es war undenkbar, ohne ihn zu sein. Sie war weinend in sich zusammengesunken.

Auch Josef rannen Tränen in den dichten Bart. Sie waren alle Augenzeugen seines Erscheinens gewesen, doch niemand wollte glauben, was alle soeben gehört hatten. Sollte er sie zurücklassen? War er womöglich schon im Gefängnis gestorben?

Der Fremde meldete sich zu Wort: „Der Meister lebt. Er hat sich seines Geistkörpers bedient. Das tun viele hohe Eingeweihte.“

Er war noch immer tief beeindruckt von der Strahlkraft, die die Lichtgestalt ausgesandt hatte. Schützend hatte er die Hand vor die Augen gehalten, so geblendet war er.

Die Gruppe hatte sich um Maria Magdalena geschart, um sie zu trösten. Doch waren alle in ihrem Innersten tief betrübt. Sollte ihre gemeinsame Zeit mit ihrem Meister schon beendet sein? Sollte er niemals zu ihnen zurückkehren? Sie wollten und konnten dies nicht glauben.

Pontius Pilatus hatte lange seiner Gemahlin gelauscht, als sie, nachdem sie einen stärkenden Trunk zu sich genommen hatte, alles berichtete.

Vor Abscheu hatte sie die Hände vor die Augen gelegt, während sie detailgetreu alles berichtete. Jetzt, wo sie wieder in ihrem prächtigen Gemach war, war sie selbst verwundert, wie sie die Kraft hatte aufbringen können, diesen schrecklichen Ort aufzusuchen. Sie war stolz auf sich. Und sie war entschlossen, auch erneut um einen Besuch zu bitten, wenn dies ihrer Sache dienlich war.

Der Prokurator hatte die Hände auf ihre Schultern gelegt. Er war von ihrer Stärke und ihrem Mut stark beeindruckt. Niemand würde freiwillig in diesen Teil des Palastes des Herodes eindringen. Er war stolz auf seine Frau, die fest entschlossen auch ein zweites Mal diesen Weg gehen würde.

Er hatte wieder Mut gefasst, denn sollte sein Plan gelingen, so würde es ihm möglich sein, ihn zu retten. Noch war allerdings alles in Unwägbarkeiten gehüllt. Der Meister lebte, und das war das Wichtigste.

Der Morgen dämmerte bereits, als die Gemeinschaft sich trennte. Sie hatten die ganze Nacht hindurch gebetet, um dem Meister Kraft und Unterstützung zukommen zu lassen. Alle waren am Morgen erschöpft in ihre Häuser oder Herbergen zurückgekehrt. Josef hatte, nachdem der letzte Besucher das Haus verlassen hatte, noch eine Weile niedergekniet. Er war tief in seinem Inneren davon überzeugt, dass ihr Plan gelingen konnte. Den Fremden hatte der Himmel geschickt, damit er ihnen zu Hilfe kommen konnte. Wenn alles glückte, würde der Meister die Kreuzigung überleben.

Abdul Ben Massa hatte die Zusammenkunft mit den anderen verlassen. Er spürte eine seltsame Zuneigung zu Simon, der ihm irgendwie vertraut vorkam. Er beschloss, am kommenden Morgen allein einen Versuch zu unternehmen, mental mit dem Meister in Kontakt zu kommen. Dazu würde er sich ebenfalls seines Geistkörpers bedienen und versuchen, in das Gefängnis zu gelangen. Vielleicht konnte er helfen, die Absichten des Inhaftierten zu ergründen. Er hatte am Abend das Gefühl, der Meister sei gekommen, um sich zu verabschieden. Aber er spürte auch, dass er nicht durch die drohende Verurteilung sterben würde.

Pontius Pilatus hatte an seinem, von Schriftstücken übersäten Schreibtisch Platz genommen. Noch in der Nacht hatte er ein Schriftstück verfasst, welches allen Dieben und Hausierern, die vor dem Passahfest in die Stadt gekommen waren, eine Generalamnesie gewährte.

Er wollte damit ein Zeichen setzen, dass er das heilige Fest der Juden achtete und die besondere Zeit dieser Tage dazu nutzen wollte, Milde walten zu lassen. Vielleicht würde der Hohe Rat diesem Beispiel folgen, schon um nicht hinter den verhassten Römern in der Gunst des Volkes zurückzustehen. Alle leichten Vergehen sollten ungestraft bleiben, wenn die Betroffenen sofort die Stadt verließen.

Er hatte für den späten Nachmittag eine öffentliche Kundgebung dieses Beschlusses angekündigt und den römischen Rat zur festgesetzten Stunde in das Palais gebeten. Die öffentlichen Ausrufer amtlicher Mitteilungen würden dann im Anschluss die Nachricht unter das Volk bringen. Er wusste in diesem Moment nicht, ob diese Maßnahme die Wirkung, die er wünschte, zeitigen würde. Aber es war gewiss ein kluger Schachzug, die Öffentlichkeit auf diese Haltung zu lenken.

Gerade hatte er ein Schriftstück begutachtet, als es leise an der Tür zu seinem Amtszimmer klopfte. Ein Diener trat herein und meldete einen fremden Gast, der um eine Unterredung mit dem Prokurator bat. Es sei eine sehr fragwürdige Person, fügte der Diener mit gesenktem Blick hinzu.

Der Prokurator empfing niemals ohne Vorankündigung und zuvor geprüfter Gründe einen Besucher persönlich, sondern verwies alle Bittsteller an seine persönlichen Sekretäre. In diesem Fall jedoch war es ein innerer Impuls, dem er folgte, und er gewährte dem Besucher einzutreten.

Mit hochgezogenen Augenbrauen öffnete der Diener die große Tür, um den Fremden hereinzubitten. Überrascht über die kuriose Erscheinung, erhob sich Pontius Pilatus.

Ein Zwerg, kaum größer als ein zehnjähriges Kind, aber mit dem Gesicht eines alten Mannes, stand vor ihm. Ein wenig stieg Zorn in ihm auf. Wie konnte ein solcher Wicht in schmutzigen Kleidern es wagen, in sein Amtszimmer zu kommen?

Doch bevor er seinem Zorn Ausdruck geben konnte, verbeugte sich der Zwerg und sprach mit lauter fester Stimme: „Ich habe den Auftrag, Euch eine Botschaft zu überbringen. Es ist sehr wichtig.“

Der Prokurator ließ sich sprachlos auf seinen Sessel zurücksinken. Die Sprache und Wahl der Worte hatten ihn überrascht. Niemals hätte er dieser kuriosen, zerlumpten Person eine solche vornehme Ausdrucksweise zugetraut. Ein leises Lächeln glitt über das Gesicht des Zwerges.

Er begann in kurzen klaren Sätzen über seine besondere Gabe zu berichten und erwähnte auch die allmonatlichen Umstände seiner Anfälle.

„Doch dieses Mal, hoher Herr, war alles anders. Ich bin umgefallen und wand mich am Boden, Schaum auf den Lippen. Doch nicht das gewohnte zornige Wirrwarr von Worten und Beschuldigungen folgte, sondern eine zarte Stimme, die zu mir sprach, quoll aus mir heraus. Ich sage Euch, es war ein Engel, der durch mich sprach. Seitdem bin ich wie verwandelt. Ich will nicht mehr länger unter dem Bettelvolk leben. Aber der wahre Grund meines Kommens ist, dass ich angewiesen wurde, Euch eine Nachricht zu überbringen. Ich soll Euch sagen, dass es Eure Aufgabe sei, das Leben des Auserwählten zu retten. Nur diesen einen Satz, und mir wurde eindringlich versichert, hoher Herr, dass dies sehr wichtig für Euch sei und für alle Menschen in der Stadt.“

Der Zwerg hatte den Kopf gesenkt, so, als würde er mit Ängsten der Reaktion des Prokurators entgegensehen. Doch dieser, ganz zur Überraschung des Zwerges, wollte nun mehr und Genaues über seine Anfälle wissen und ob er ein Seher sei.

Er war näher an den Zwerg herangetreten und dieser begann von seinem Leben unter den Bettlern zu erzählen und dass er jedes Vergehen der anderen während seiner sonderbaren Anfälle zur Sprache brachte, so, als ob ein innerer Richter sich Gehör verschaffte. Neugierig hörte der Prokurator zu. Der Zwerg schien Wahres zu sprechen. Er kannte solche Orakelmedien aus Rom, die dort sehr geachtet und angesehen waren.

Er wies seinen Diener an, den Zwerg neu einzukleiden. Er wolle ihn in seine Dienste nehmen. Vor Überraschung sperrte der Kleine den Mund auf. Er hatte damit gerechnet, gewaltsam vor die Tür gesetzt zu werden. Jetzt sollte er sogar in der Nähe dieses hohen Herrn leben und für ihn arbeiten. Er traute seinen Ohren nicht.

Die Gesandtschaft des römischen Rates hatte im Amtszimmer des Prokurators Platz genommen. Die hohen Herren saßen mit geradem Rücken und besorgter Miene dem Prokurator gegenüber. Ihr Sprecher begann eine Zusammenfassung des Rates zu verlesen, worin dieser seine Bedenken und Vorbehalte ausdrückte, die die bevorstehende Amnestie betrafen.

Pontius Pilatus hatte mit solchen Einwänden gerechnet. Er erläuterte seine näheren Beweggründe.

Diese Maßnahme sei dazu gedacht, den Unruhestiftern den Wind aus den Segeln zu nehmen. Denn seine jüdischen Informanten hätten von geplanten Krawallen berichtet, die sich auf die strenge und willkürliche Verhaftung von gläubigen Juden bezogen, die angeblich völlig unbescholten in römischen Gefängnissen gelandet seien. Er wolle einem Aufstand zuvorkommen, um die Ruhe in der Stadt zu gewährleisten. Gleichzeitig kündigte er an, die Patrouillen zu verstärken und somit eine größere Präsenz von Soldaten in der Stadt anzuordnen.

Die Ratsmitglieder nickten zustimmend. „Ja, das ist eine weise Entscheidung“, entgegnete ihr Sprecher. Noch am selben Tage wurden die öffentlichen Ausrufer ausgeschickt und die ersten Inhaftierten in die Freiheit entlassen.

Die Versammlung fand wie immer im Geheimen statt. Man brach Brot und trank den Wein so, wie er es sie gelehrt hatte. Maria Magdalena hatte Speisen zubereitet, so, wie es zur Passahzeit üblich. war. Der Fremde war auch zugegen. Er hatte seinen roten Turban abgelegt und trug nun wie sie das braune Wollgewand der Galiläer. Er wollte zu ihnen gehören, seine Lehre erfahren und daran mitwirken, sie zu verbreiten.

Er hatte in der Nacht den Meister aufgesucht und ihm seine heilende Kraft gebracht. Der Meister hatte ihn gesegnet und seinen Geistkörper mit seiner Kraft gespeist. Mit bewegter Stimme schilderte er seine Erfahrung und dass der Meister sich ein wenig erholt habe.

„Seine Peiniger haben ihn nicht mehr geschunden, damit er zur Verhandlung ohne fremde Hilfe erscheinen kann. Er hat sogar etwas wässrige Suppe und Brot bekommen.“

Abdul Ben Massa schilderte all dies so, als wäre er tatsächlich in der Zelle des Meisters gewesen. Alle hatten seine Ausführungen gebannt verfolgt. Es war ihm ohne Zweifel möglich, allein mit seinem Geistkörper solche Besuche abzustatten.

Simon lehnte sich stolz zurück. Er hatte den besonderen Fremden mitgebracht, und ein wenig war es auch sein Verdienst, dass die Gruppe in den Genuss dieser besonderen Fähigkeiten kam.

Stephanus hatte die Abendgebete gesprochen, als sich plötzlich eine seltsame Stimmung im Raum bemerkbar machte. Abdul Ben Massa hielt inne.

„Er ist da“, rief er aufgeregt. „Ich spüre ihn.“ Alle verstummten. Mit aller Kraft versuchten sie, ihre Sinne darauf zu konzentrieren, ihn wahrzunehmen. Doch anders als beim ersten Mal war es keine Lichtgestalt, sondern seine Stimme, die zu ihnen sprach.

„Fürchtet euch nicht. Ich bin es, euer Meister“, sprach er.

Die Anwesenden fielen auf die Knie. Eine starke Kraft durchströmte sie, so, als würden sie mit besonderen Gaben ausgestattet. Simon Petrus fiel zu Boden. Sein Blick war ins Leere gerichtet und seine Arme zuckten. Vor Schreck fuhr Maria Magdalena auf. Sie stand starr vor ihm und hatte die Augen geschlossen. Wie ein Blitz durchfuhr es sie. Sie, die dem Meister so nahe gestanden hatte, musste auch jetzt auf besondere Weise mit ihm in Kontakt getreten sein. Sie ließ die Arme sinken und begann leise zu flüstern, was der Meister ihr eingab.

„Nehmt meinen Leib und nehmt auch mein Blut als mein Geschenk an euch, damit ihr wirkt wie ich und lehrt, wie ich es tat.“

Damit verschwand die Kraft so plötzlich, wie sie gekommen war. Alle hielten sich bei den Händen, wie um einander zu stützen und ihre Verbundenheit auszudrücken. Simon erhob sich zögernd vom Boden. Er strich sein Gewand glatt und setzte sich still auf seinen Stuhl. Tränen rannen über sein Gesicht.

„Warum nur?“, murmelte er. „Warum dieses Opfer?“

Er vergrub sein Gesicht in den Händen. Maria Magdalena hatte sich umgewandt und blickte die Versammelten geradewegs an.

„Er ist bereit, den bitteren Weg zu Ende gehen, aber es wird nicht das Ende sein. Glaubt mir, meine Freunde, ich spüre es ganz stark. Er will die Prophezeiung vollenden, aber er tut es auf seine Weise. Wir müssen ihm helfen. Wir sind es, die den entscheidenden Teil dazu beitragen müssen. Glaubt mir, meine Brüder, es ist an uns, die Wege zu ebnen und dies möglich zu machen.“

Weinend brach sie zusammen. Sie hatte die kommenden Ereignisse im Voraus erschaut und war darüber zusammengebrochen. Aber sie hatte auch gesehen, dass es ganz anders kommen würde, als alle es bisher angenommen hatten. „Fürchtet euch nicht“, murmelte sie, wie um sich selbst zu beruhigen. „Er wird sein Werk vollbringen und wir werden daran teilhaben.“

Abdul Ben Massa erhob sich. Zögernd blickte er sich um, ob er sich als fremder Gast würde zu Wort melden dürfen. Doch in seinem Inneren wirbelten die erfahrenen Eindrücke, die er nicht für sich behalten konnte.

„Ich habe ihn gesehen“, stammelte er. „Er hatte die Wundmale des Gekreuzigten, aber er lebte. Er wird es überleben“, stieß er hervor. Er war sich so sicher, dass Freude in ihm aufkeimte.

„Er wird es überleben. Er ist der Meister über Leben und Tod und es obliegt ihm, darüber zu entscheiden.“

Jetzt waren alle wie elektrisiert aufgesprungen. Sie spürten, dass Hoffnung in ihnen aufkeimte. Sie mussten nur fest genug daran glauben, so, wie er es sie gelehrt hatte. Dann würden auch genau diese Ereignisse eintreten. Sie hielten einander an den Händen, um ihren Glauben daran zu verstärken und mit aller Macht in die physische Welt zu holen. Die Hoffnung gab ihnen Kraft und sie wussten, dass es möglich war.

Die Wächter hockten am Boden und würfelten. Jeder von ihnen hatte einige Münzen vor sich liegen. Der Weinschlauch kreiste und sie nahmen einen Schluck, bevor sie sich wieder dem Spiel widmeten.

Der Älteste von ihnen war schon seit Jahrzehnten Wärter im Gefängnis des Herodes. Er hatte schon dem vorigen König gedient, und sein Leben spielte sich beinahe völlig in den Gefängniskatakomben ab, wo er täglich seinen Dienst versah. Es gab nichts, was ihn schockierte, kein Leid, das ihn rührte. Er war meist im Rotweinrausch und auch den beißenden Gestank nahm er kaum wahr. Wenn er nicht in den Gängen patrouillierte oder dafür zu sorgen hatte, dass neue Inhaftierte in die Zellen geworfen wurden, vertrieb er sich die Zeit damit, kleine Holzfiguren zu schnitzen. Meist hatten sie grässliche Fratzen und sahen kleinen Dämonen ähnlich. Er hatte Freude an den schauerlichen Figuren.

Heute hatte er Gesellschaft, denn die Riege der Wachtposten war verstärkt worden. Dies kam nur selten vor, denn wer sollte sich schon aus Ketten und verschlossenen Zellen befreien können? Vielleicht, so schoss es ihm durch den Kopf, hatte es mit dem Passahfest zu tun. Die Zellen waren mehr als überfüllt, auch jetzt noch, wo die ersten Prozesse stattfanden und stündlich Gefangene abgeholt wurden, um vor dem Tribunal ihre Strafe zu erfahren.

Das Volk johlte auf dem Vorplatz. Es war eine beliebte Sensation, den öffentlichen Auspeitschungen und Folterungen zuzusehen. Der Platz für die Steinigungen lag weiter draußen, und auch dort hatte sich, wie jedes Mal, viel Volk versammelt. Er hörte von fern, die Mauern waren dick und ließen nur wenige Geräusche von draußen durch, wie das Volk grölte, wenn wieder einer der Sträflinge strauchelte und zusammenbrach.

Quintus war einer der neuen Wächter. Er hatte schon an anderer Stelle für Herodes gedient. Obwohl er Römer war, ließ er sich für Geld anheuern und erfüllte auch die schmutzigsten Dienste, wenn nur genug dafür gezahlt wurde.

Er bohrte mit den Fingern in seinen Zähnen. Er hatte alles Zivilisierte, das die Römer ausmachte, aufgegeben. Sein Bart war lang und verkrustet und sein Haar, hellbraun und gelockt, fiel strähnig an seinem Kopf herab. Er hatte stets ein Würfelspiel bei sich, um sich die Zeit zu vertreiben. Sein Dienstherr hatte ihn den Wachen des Kerkers zur Seite gestellt, weil man befürchtete, dass der verrückte Gefangene womöglich gewaltsam befreit werden könnte. Er hatte dies nur am Rande vernommen, als sein Dienstherr sich mit dem Kommandanten des Gefängnisses unterhielt.

Alle waren gespannt, wann man ihm den Prozess machen würde. Es ging die Kunde um, er könne sich unsichtbar machen und durch Wände gehen. Man würde für den Prozess besondere Sicherheitsvorkehrungen treffen, denn die Anhängerschaft war beträchtlich und man wollte sichergehen, dass keine Unruhen ausbrachen.

Quintus hatte zum fünften Mal gewonnen, was seine Mitspieler sehr verdross. Sie murrten und nannten ihn einen Gauner, der das Spiel zu seinen Gunsten zu lenken vermochte. Er hatte schon zuviel des Weines und war dadurch streitlustig geworden. Er packte einen der anderen Wächter am Hals und bohrte ihm seinen Daumen in die Kehle. Der Arme schrie vor Schmerz laut auf und raffte seine verbliebenen Münzen zusammen, nachdem er von ihm abließ.

Der Schrei hatte die Gefangenen aufgeweckt. Ein Kettenrasseln, gefolgt von lauten Rufen nach Wasser und Brot, brach aus. Eine unnötige Störung, wo sie doch gerade erst angefangen hatten zu würfeln. Die nächste Runde sollte entscheiden, wer den stündlichen Rundgang durch die Gefängnisgänge machen sollte. Der Verlierer würde mit dem Stock und dem Öllicht durch die stinkenden Gänge patrouillieren und den Schreihälsen das Maul stopfen, indem er ihnen den Knüppel in die Rippen stieß.

Gerade war der Dritte von ihnen an der Reihe, als ein großes Geschrei ausbrach. Laut hörten sie die Ketten an die Gittertüren donnern. Auch das noch, dachte Quintus, den der Wein müde und schläfrig gemacht hatte.

„Was soll der Lärm“, schrie er hinüber zu Aaron, der gerade seine letzten Schekel zusammenraffte, bevor im Tumult einer der anderen danach greifen würde.

Quintus packte sein Schwert, um nach dem Rechten zu sehen, als zwei Wächter, die am anderen Ende des Ganges Dienst taten, auf ihn zugestürzt kamen.

„Er ist fort“, schrien sie. „Er ist einfach durch die verschlossene Tür gegangen.“ Von allen Seiten hörten sie laute Schreie und Getöse. Die Wächter waren, so schnell sie konnten, herbeigeeilt, um zu sehen, was da vor sich ging. In allen Zellen drängten sich die Gefangenen dicht an die Gittertüren, um einen Blick zu erhaschen.

Quintus rieb sich gähnend die Augen. Wahrscheinlich war es dieser Wahnsinnige, der diesen Tumult verursachte. Er würde ihn ein wenig zur Raison bringen und sich gleichzeitig diesen Verrückten einmal näher anschauen.

Er torkelte hinter den anderen her, die enge Treppe nach unten, von wo das lauteste Geschrei ertönte. Die Wärter hieben mit Knüppeln auf die Gefangenen in den Zellen ein, sodass diese entsetzt zurückwichen.

In der Zelle, wo der Verrückte sein musste, war alles still. Die verdreckten Gestalten knieten auf dem Boden oder kauerten in der Ecke. Keiner von ihnen gab den geringsten Laut von sich. Sie schienen wie gelähmt, völlig abwesend zu sein.

Er stieß die Tür auf und schrie in die Zelle hinein: „Wer ist der Verrückte aus Nazareth?“ Doch es kam keine Antwort zurück. Die anderen Wächter drängten sich am Eingang. Keiner mochte die Zelle betreten. Sie fürchteten einen Hinterhalt, einen bösen Zauber oder sonst etwas Grauenvolles. Die lähmende Atmosphäre irritierte sie.

Polternd hielt Quintus auf einen Gefangenen zu, der sich in der Ecke zusammengekauert hatte.

„Wer bist du?“, schrie er. „Steh auf, wenn ich mit dir rede!“

Der Mann erhob sich langsam. Die Ketten an seinen Füßen rasselten. Er hob die Hände, wie um bevorstehende Schläge abzuwehren. Quintus versetzte ihm einen Tritt. „Sprich mit mir. Wo ist dieser verdammte Nazarener? Er ist doch hier gewesen!“

Einer drängte sich vor. „Er war vorhin noch hier. Ich habe ihn gesehen. Er lag am Boden wie die anderen. Es ist ein böser Zauber, der uns verhext. Lass uns gehen.“ Er zerrte Quintus am Ärmel.

Dieser drehte sich widerwillig um. Er glaubte nicht an Zauber und Hokuspokus und stieß den Gefangenen mit seiner Lanze.

„Sprich, Elender, wo ist er? Wo habt ihr ihn versteckt?“

Der Gefangene machte einen Schritt auf Quintus zu und spuckte ihm ins Gesicht. „Er ist weg, einfach weggegangen!“

Er zog sein Schwert und hieb auf ihn ein. Der Mann strauchelte. Blut strömte aus einer tiefen Kopfverletzung. Es rann in Strömen über eine Gesichtshälfte. Wieder machte er einen Schritt auf ihn zu.

Quintus wich zurück. Er wollte nicht mit dem Blut besudelt werden. Noch bevor der Mann den Mund öffnete, um ihn erneut anzuspucken, kippte er vornüber und schlug auf den Boden auf, dass er das Knacken des Schädels hören konnte.

Quintus machte kehrt und schlug die Gittertür hinter sich zu. Die Wärter waren zurückgewichen. Sie durften die Gefangenen quälen und foltern, aber nicht töten. Jedenfalls nicht, solange sie noch auf ihren Prozess warteten.

Dieser Mann war erst gestern gekommen. Sie hatten Anweisungen, ihn morgen zum Verhör zu bringen. Erst danach wandte man die Folter an. Quintus stieß einen Fluch hervor. Er war wütend auf diesen Nazarener, der den ganzen Spuk angerichtet hatte.

„Verteilt euch, sucht alle Gänge ab. Er muss noch hier sein!“ Keuchend rannte er durch die Gefängnisgänge. Irgendwo musste dieser Wahnsinnige sein. Er würde ihn zur Strecke bringen, nahm er sich vor.

Der Präfekt, dem sämtliche Wachoffiziere des Gefängnisses unterstellt waren, war außer sich vor Wut. Er stieß den Stuhl zurück und ließ sämtliche Wachmänner im Hof antreten. Sie hatten alle Vorkehrungen getroffen, und doch war er ihnen entkommen. Er glaubte zutiefst, dass die Wächter gegen ein ordentliches Bestechungsgeld die Tür zu schließen vergaßen. Jeden von ihnen wollte er persönlich verhören, und Gnade dem, der es gewesen war.

Er würde sofort selbst in der stinkendsten Zelle landen, um dort auf immer sein Leben zu fristen.

Er lachte höhnisch auf, als er die Geschichte der Wächter hörte, er sei durch geschlossene Türen gegangen. Seine Wut und sein Zorn steigerten sich ins Unermessliche.

„Ihr armen Würmer“, schrie er. „Ihr glaubt wohl, mir solch ein übles Lügengespinst vortragen zu können. Dafür sollt ihr alle ausnahmslos eure Strafe bekommen. Führt sie ab, legt sie in Ketten und lasst sie auspeitschen, bis ich die Schuldigen finde.“

Soldaten packten die Wächter und schleppten sie in die Zellen, in denen die Schwerverbrecher und Mörder saßen. Sollten die sich an ihnen gütlich tun.

Quintus schrie auf. Der Soldat, der ihm die Hände in Ketten legte, trat mit den Füßen auf seine Handgelenke. Knochen knirschten, Fingerknöchel brachen. In der düsteren Zelle brach Gejohle und Gelächter aus.

Sie kamen zu fünft auf ihn zu und packten ihn an den Ketten, die er an Händen und Füßen trug. Einer von ihnen legte ihm eine Kette hinterrücks um den Hals. Er fühlte, wie ihm schwarz vor Augen wurde. Es schnürte ihm die Luft ab, während die anderen in seine Magengrube schlugen und ihn mit Füßen traten. Nachdem er halb bewusstlos am Boden lag, schrie einer von ihnen: „Lasst ihn leben, damit wir noch eine Weile Spaß mit ihm haben.“

Sie hatten seine Hände auf den Rücken gedreht und die Ketten so ineinander geschlungen, dass er sich nicht mehr rühren konnte. Bäuchlings lag er in Kot und Unrat, mit dem Gesicht nach unten.

Pontius Pilatus hörte erst von dem Vorfall, als bereits alle in der Stadt die Geschichte verbreiteten. Herodes' Präfekt hatte sich nicht die Mühe gemacht, ihn zu unterrichten. Wieder einmal ein offener Affront, so dachte er bei sich.

Eilig ließ er sich ankleiden und in einer Sänfte durch die Straßen von Jerusalem tragen. Er musste mit Josef sprechen. Sie hatten ein altes Kloster am Rande der Stadt ausgesucht, um mit den übrigen, die zum inneren Kreis gehörten, über diese neue Situation zu beraten. Alle Welt war nun davon überzeugt, dass es sich um den Messias handelte. Wer so etwas vermochte, war entweder ein Zauberer oder der Auserwählte.

Das schlichte Gebäude, das einstmals eine kleine Bruderschaft beherbergte, lag am Fuße des Berges versteckt hinter hohen Mauern und war nur über steinige Wege zu erreichen. Sie hatten diesen Ort gewählt, weil sich nur selten jemand hier heraus verirrte. Allenfalls kamen Ziegenhirten mit ihren Tieren hierher, wo außer Staub, Disteln und Steinen nichts war, nur glühende Hitze bei Tage und eisige Kälte in der Nacht.

Miriam hatte über dem Feuer in der geräumigen Halle einen großen Topf Suppe bereitet. Einige Brotlaibe stapelten sich auf dem blanken Holztisch.

Der letzte Bruder dieser Gemeinschaft, ein Greis von über achtzig Jahren, lebte hier sein Einsiedlerleben.

Was niemand von draußen sehen konnte, war ein üppiger, wilder Garten, in dem blühende Sträucher, ausladende Feigenbäume und wilde Kräuter wucherten. Der Alte versorgte noch einen kleinen Gemüsegarten, der dank der sprudelnden Quelle im Zentrum des Hofes üppig gedieh.

Sie hatten unter der großen Feige einige Tische zusammengerückt. Die Kunde von seinem Verschwinden hatte sie alle in helle Aufregung versetzt. Auch jetzt noch herrschte diese freudige und erleichterte Stimmung, die alle ergriffen hatte, nachdem sie von dem Ereignis erfahren hatten.

Simon Petrus hatte sich im Schatten nahe dem Brunnen niedergelassen. Seine Gedanken schweiften umher. Vor seinem inneren Auge ließ er alle Orte Revue passieren, an denen sie in den letzten Monaten gewesen waren. Noch niemand hatte den Meister zu Gesicht bekommen und alle erwarteten, ihm bald zu begegnen, ihn wiederzusehen.

Wo mochte er in diesem Augenblick sein? War er wirklich entflohen oder war es eine trickreiche Geste des Sanhedrin, ihn für immer einfach verschwinden zu lassen? Hatten sie ihn hinter den Palastmauern schon ermordet?

Seine Anspannung war mit der Nachricht keineswegs von ihm gewichen. Vielmehr wuchs seine Sorge, wenngleich er tief in seinem Inneren spürte, dass es dem Meister gut ging.

Er schreckte hoch, als Martin ihm einen Becher Wein reichte. Alle waren in freudiger Stimmung und konnten nicht verstehen, warum Simon so verdrossen blickend auf dem Stein am Brunnen saß.

Die Gemeinschaft brach gemeinsam das Brot und trank den Wein, bevor sie sich die Mahlzeit schmecken ließen. Josef war eingetroffen, in Begleitung eines hohen Herrn, der in Würde und Ornat wie ein hochgestellter reicher Römer aussah.

Misstrauisch tuschelten sie miteinander. Hatte er einen Verräter mitgebracht, einen Spitzel? Sollte Josef so unvorsichtig sein? Sie wichen zurück, als der Fremde sich näherte. Einige erkannten ihn von der letzten Zusammenkunft, bei der der Meister zugegen gewesen war. Was mochte er wollen, wozu sollte das nutze sein?

Zornig fuhr Judas, der die ganze Zeit abseits gesessen hatte, Josef nun an: „Willst du uns gleich alle in den Kerker bringen, jetzt wo er entflohen ist?“ Alles verstummte.

Beschwichtigend hob Josef die Hand. „Freunde“, sprach er, „hört mich an. Dies ist mein Freund. Wenn ihr mir vertraut, könnt ihr auch ihm vertrauen.“

Pontius Pilatus verbeugte sich leicht. Mit stockender Stimme sprach er einige Worte. „Ich bin gekommen, um euren Meister vor dem Sanhedrin und Herodes zu retten. Ich bin zwar nur ein Römer, aber glaubt mir, ich habe euren Meister gesehen, und ich habe nur einen Wunsch, das schreckliche Schicksal abzuwenden.“ Mit diesen Worten machte er eine ausladende Geste.

Zu Josef hingewandt sprach er: „Lasst uns gemeinsam beratschlagen, wie wir nun verfahren, bevor er womöglich erneut verhaftet wird. Er ist jetzt ein geflüchteter Sträfling. Man hat jederzeit das Recht, ihn zu ergreifen, wo immer man seiner habhaft werden kann. Wer von euch hat ihn gesehen? Wo könnte er sich aufhalten und wie können wir ihn beschützen?“

Die fröhliche Stimmung wich der Beklommenheit. Der Römer hatte Recht. Die Gefahr war nicht vorüber. Jederzeit konnte er erneut verhaftet werden.

Josef ergriff das Wort. Er sprach laut ein Gebet, bat um Schutz für ihren Meister und segnete die Versammelten. „Wenn jemand etwas zu sagen hat, so soll er nun vortreten.“

Langsam erhob sich Stephanus, der stille junge Mann, den jeder gern mochte, der aber nie vor versammelter Gemeinde sprach. Er hob eine Hand zum Himmel und sprach mit leiser Stimme ein Dankgebet, dass die Befreiung des Meisters gelungen war.

„Ich habe in dieser Nacht geträumt, dass er in die Wüste gegangen ist. Ganz allein, ohne Begleitung. In meinem Traum war ein Löwe an seiner Seite. Er begleitete den Meister wie ein zahmer Hund. Als ich am Morgen erwachte, hörte ich schon das Gerücht von seinem Verschwinden. Ich glaube, dieser Traum ist ein Zeichen. Wir sollten beten und dem Meister in Gedanken eine Botschaft senden. Er hat uns immer wahrgenommen. Vielleicht kommt er zu uns.“

Die Versammelten nickten zustimmend.

Josef hatte sich wieder erhoben. „Wenn er in die Wüste gegangen ist, wird er vor Verfolgern sicher sein. Aber wenn er in die Stadt zurückkommen sollte, werden sie ihm sofort den Prozess machen, damit er ihnen nicht noch einmal entwischt. Wir müssen versuchen, mit ihm in Kontakt zu treten.“

Alle Augen richteten sich auf Maria Magdalena. Sie hatte stets den besten Kontakt zu ihm gehabt. Erschreckt blickte sie auf. Langsam strich sie sich eine Haarsträhne aus der Stirn. Sie sprach leise und betont.

„Ich weiß, dass er lebt, aber er hat noch wichtige Aufgaben, bevor er wieder zu uns kommen kann. Ich kann euch nicht sagen, was es ist.“

Die ganze Nacht hindurch hatten sie gebetet und gesungen. Einige von ihnen waren eingeschlafen. Ihre Köpfe waren auf die verschränkten Arme gesunken. Simon hatte draußen gewacht. Er hatte die Aufgabe, das Gelände im Auge zu behalten und das Tor zu verschließen. Bei jedem Geräusch fuhr er zusammen. Alle hatten ihre Zuversicht und Hoffnung darauf gesetzt, ihren Meister bald wiederzusehen. Der Prokurator hatte ihnen die Augen geöffnet. Sie mussten verhindern, dass er in die Stadt zurückkehrte. Solange dies nicht geschah, konnten sie ihn nicht verhaften.

Spät in der Nacht war Pontius Pilatus aufgebrochen. Josef hatte ihn bis zum Tor begleitet. Niemand hätte es für möglich gehalten, dass ein Römer ihnen helfen würde, noch dazu der Statthalter. Jetzt, wo sie ihn kennen gelernt hatten, glaubten sie seinen Absichten, wenngleich ihm in diesem Fall die Hände gebunden waren.

Sie diskutierten noch eine Weile, ehe Stephanus einige Gesänge anstimmte, die sie immer zusammen gesungen hatten.

Es mochte schon bald Morgen sein, als alle eine seltsame Unruhe erfasste. Simon war auf seinem Wachtposten eingeschlafen. Jetzt, wo sie sich im Hof drängten, erwachte er. Was war geschehen?

Entsetzt sprang er auf. „Simon, hast du schlecht geträumt?“, rief jemand zu ihm herüber.

Er konnte sich nicht an seine Träume erinnern, aber er spürte, dass etwas in der Luft lag, etwas geschehen würde. Noch immer hatte er Angst, dass auch einige von ihnen verhaftet werden könnten. Schon um aus ihnen herauszupressen, wo der Meister sich versteckt halten könnte. Erschöpft ließ er sich wieder auf den Stein am Brunnen fallen.

Die Nacht war lau, Grillen zirpten und der würzige Duft der Kräuter erfüllte die Luft. Miriam brachte ihm einen Krug Wasser und einige Stücke Melone. Ihr Gesicht wirkte schmal und ihre Augen dunkler als sonst.

Mit einem Mal stand Josef im Hof. Er hatte den Kopf erhoben und wies zum Himmel. Eine große Anzahl von Sternschnuppen durchzog den Himmel mit leuchtend gelben Linien. Wann mochte er kommen?, so fragten sie sich.

Judas hatte sich die lederne Kappe der Zeloten aufgesetzt. Er wollte zurück in die Stadt, um nach Neuigkeiten Ausschau zu halten. Er war ruhelos und die lange Zeit des Betens hatte ihn noch nervöser gemacht, als er es sowieso schon war. Kaum war er durch das Portal getreten, als er sich irgendwie beobachtet fühlte. Unbehaglich drehte er sich um, doch niemand war zu sehen. Hastig griff er nach dem Strick, mit dem er den Esel an der Mauer befestigt hatte. Er fühlte Angst in sich aufsteigen und trieb den Esel zur Eile an. Als er die Anhöhe erreichte, wo ein dichter Wald den Weg dunkel und unübersichtlich machte, hieb er dem Esel in die Flanken, sodass dieser, so schnell er es vermochte, über das Geröll des Weges stolperte.

Eine panische Angst hatte ihn nun ergriffen. Er wusste nicht genau, was sie hervorrief, aber er spürte, dass er verfolgt wurde. Am Ende des Waldes erhellte der Vollmond den Weg, der sich nun entlang des Hügels im Tal schlängelte. Seine schweißnassen Hände umklammerten die Zügel. Er hörte die Stimme des Meisters, die ihn rief, aber die Stimme war nur in seinem Kopf. Der Weg war hier weniger steinig, und die Nadeln der Pinien dämpften die Geräusche trappelnder Hufe.

Judas setzte seinen Weg unbeirrt fort, obwohl die Angst ihm beinahe die Kehle zuschnürte. Immer wieder blickte er sich ängstlich um. Jeder Schatten konnte einen Angreifer verbergen. Mit ganzer Kraft rief er sich zur Ordnung.

Woher sollte jemand wissen, dass er hier war, diesen Weg wählte? Er würde bald bei seinen Freunden in der Stadt eintreffen. Allein dieser Gedanke hielt ihn aufrecht. Der Esel spürte seine Verfassung. Unruhig warf er den Kopf hin und her. Seinen Dolch hatte Judas unter seinem Gewand stets griffbereit. Schon einmal war er in eine derbe Prügelei geraten, als einige von ihnen öffentliche Diskussionen führten. Er war nicht zögerlich damit, seine Faust zu gebrauchen oder, wenn es sein musste, zum Dolch zu greifen.

Als es hell geworden war, erreichte er die Stadt, die noch ruhig vor ihm im trüben Sonnenlicht lag. Er hörte einige Hähne krähen, als er durch das nördliche Stadttor ritt. Immer wieder misstrauisch nach allen Seiten spähend, erreichte er das Haus seines Freundes Aaron.

Er war Handwerker wie er selbst und oft schon früh am Morgen in der Werkstatt, bevor die Hitze des Tages zu groß wurde. Er fand ihn über stinkende Bottiche gebeugt, wo das Leder mit scharfer Lauge vorbereitet wurde. Aaron fertigte aus Leder allerlei Gegenstände an, breite Gürtel, Kappen und Taschen, die seine Frau auf dem Markt verkaufte.

Überrascht hob er den Kopf, als er Judas im Dämmerlicht des niedrigen Raumes auftauchen sah.

„Nanu, du hier?“, entfuhr es ihm, statt ihn, wie es die Zeloten taten, mit einem Schulterschlag zu begrüßen.

Er mochte es in Judas Gesicht bemerken oder einfach nur seinem inneren Impuls folgen, jedenfalls umarmte er den Freund still und schob ihn zur Tür hinaus in Richtung seiner Behausung, wo schon ein frühes Mahl gerichtet wurde.

Sheila, seine Frau, stand am Feuer und briet Brotfladen, die den Raum mit einem köstlichen Duft füllten. Erleichtert ließ Judas sich auf einen Schemel fallen.

In kurzen abgehackten Sätzen erzählte er von der Versammlung, ohne jedoch zu erwähnen, wo sie zusammengetroffen waren. Seine Freunde hatten oft aufmerksam zugehört, wenn er von dem wundersamen Nazarener erzählte. Doch hatten sie nie so recht Zutrauen zu seinen Schilderungen. Zu seltsam waren seine Lehren und Heilungen. Aaron war ein Mann der Tat. Solange niemand kam, um handfest etwas gegen die römische Besatzung zu unternehmen, war er nicht bereit, einem dieser Wundertätigen zu folgen. Er hielt Judas insgeheim für zu gutgläubig. Er ließ sich schnell etwas vormachen, so lautete sein Urteil.

Sie speisten miteinander, und allmählich wich die Angst von Judas. Hier im Haus seines Freundes fühlte er sich geborgen. Seine Gedanken kreisten nur um den Meister und seine Wiederkehr.

Unruhig verließ er am Nachmittag das Haus seines Freundes. Er hatte Informanten, die auch für Herodes arbeiteten. Von ihnen erfuhr er stets eher als andere die neuesten Ereignisse.

Einer von ihnen saß oft am Brunnen in der Nähe des Essener-Tors. Heute war sein Platz jedoch leer. Judas durchstrich noch einige Gassen, ehe er zum Brunnen zurückkehrte. Seine Nervosität und Unruhe wuchsen zusehends, da niemand von den Spitzeln an seinem gewohnten Platz zu finden war.

Er beobachtete eine Weile gedankenverloren die Frauen, die Wasser schöpften, als ihm ein Mann auffiel, der mit langsamen Schritten näherkam. Er kniff die Augen zusammen, um im hellen Sonnenlicht besser sehen zu können. Von Ferne erinnerte ihn die Gestalt an seinen Meister. Groß, schlank, mit herabfallendem Haar und dunkelbraunem Gewand. Er rieb sich die Augen und war sich nun sicher: Es war der Meister.

Von unbändiger Freude erfüllt sprang er auf, um dem Meister entgegenzugehen. Er rannte los, ohne auf die Menschen zu achten, die ihm im Wege standen. Krüge krachten zu Boden, Frauengeschrei erhob sich, er fasste Arme von zu Boden Gefallenen, um ihnen aufzuhelfen, und hastete vorwärts in die Gasse, aus der er ihn hatte kommen sehen.

Doch als er die Stelle erreichte, wo der Meister eben noch gestanden hatte, lag die Gasse nun menschenleer. Nur eine Katze strich die Mauern entlang, in die schräg nur ein schmaler Streifen Sonnenlicht fiel.

Der Prokurator saß in seinem Amtszimmer. Vor ihm standen zwei Männer, die, von den Soldaten aufgegriffen, ihm nun vorgeführt wurden. Beide predigten und der eine von ihnen hatte Menschen im Jordan einer heiligen Zeremonie unterzogen.

Der Prokurator atmete schwer. Er war allmählich dieser verworrenen und bedrückenden Situation nicht mehr gewachsen. Er betrachtete die Männer genauer, die still und ernst blickend vor ihm standen. Der eine, groß mit dunklem Haar und dunklen Augen, blickte ihn tiefgründig an, ohne mit dem Blick abzuschweifen. Eine stolze Würde ging von ihm aus. Ähnlich wie bei Jeheshua umspielte ein leises Lächeln seinen Mund, wenngleich die Augen, tief im Schatten des üppigen Haares, ernst und angespannt wirkten.

Der andere, etwas kleiner und von hagerer Statur, hatte ein feines Wollgewand an und sein Haar war glatt und von hellerer Farbe. Seine Züge ähnelten denen einer Frau durch zarte Linien, strahlende Augen und einen geschwungenen Mund mit vollen Lippen.

Von beiden wurde behauptet, sie könnten Wunderdinge vollbringen wie Kranke heilen, Lahme gehend machen und Taube hörend.

Pontius Pilatus rieb sich den Kopf. Wie sollte er mit diesen Männern verfahren? Der eine von ihnen, der Größere, behauptete, der Auserwählte zu sein, von Gott berufen zu predigen. Der andere behauptete nicht der Auserwählte zu sein, aber er widersprach nicht, wenn man ihn fragte, ob er Gottes Sohn sei. Was mochte dieser jüdische Gott im Schilde führen, so viele Auserwählte auszusenden?, so fragte er sich.

Eine Weile standen die Männer wachsam blickend vor ihm. Welche Zauberkraft mochte ihnen innewohnen? Sollte er lieber die Wachen rufen oder sie einzeln vernehmen?

Durch ein lautes Pochen wurde er aus seinen Gedanken aufgeschreckt. Sein Freund Josef betrat den Raum. Er hatte ihn rufen lassen, um sich mit ihm zu beraten und zu erfahren, ob Jeheshua zu seinen Anhängern zurückgekehrt sei.

Josef wirkte erschöpft und angespannt. Neugierig blickte er auf die Männer, die er nicht kannte, die aber sein Interesse erregten. Der Größere von ihnen sah dem Meister zum Verwechseln ähnlich. Die Ausstrahlung und seine Haltung erinnerten ihn daran, wie der Meister oft so still dagestanden hatte, wenn wieder einmal alle durcheinanderredeten, bevor er mit seinen Unterweisungen fortfahren konnte. Er könnte ein Bruder sein, schoss es ihm durch den Kopf.

Pontius Pilatus gab dem wachhabenden Tribun ein Zeichen, die Männer abzuführen. Er hatte Anweisung gegeben, sie sorgsam zu behandeln und mit Nahrung zu versorgen. Hier in seinem Palast sollten sie vorerst untergebracht werden, denn schließlich hatten sie sich nach römischem Recht nichts zu Schulden kommen lassen.

Josef ließ sich erleichtert in einen Sessel fallen. Sie hatten bis zum Morgen gewacht und gebetet, aber der Meister war nicht erschienen. Maria Magdalena war später in ihr Haus zurückgekehrt, Simon und ihr Bruder Lazarus hatten sie begleitet. Karim, der Gewürzhändler, hatte alle seine Freunde und Verwandten ausgesandt, um zu erfahren, ob der Sanhedrin schon eine Spur von Jeheshua verfolgte. Jetzt, wo er selbst ausgeschlossen war und nicht mehr an den Versammlungen teilnahm, kannte er die internen Entscheidungen nicht. Er hoffte inständig, dass sie ihn nicht wieder ergreifen würden.

Neugierig beugte er sich vor, nachdem er geendet hatte: „Und was hast du mir zu berichten?“

Pontius Pilatus machte eine ausladende Geste: „Nun, im Grunde nichts Neues außer diesen zwei Männern, die man auf der Suche nach dem Entflohenen verhaftet hat. Beide behaupten, von Gott gesandt und dazu auserwählt zu sein zu predigen.

Der eine von ihnen taufte Menschen im Jordan. Man hat ihn angetroffen, als Hunderte am Ufer standen, um ebenfalls seinen Segen zu erhalten. Der andere hat in Samaria Kranke geheilt. Sag, kennst du die Männer, gehören sie zu eurem inneren Kreis?“

Josef schüttelte stumm den Kopf. Er hatte schon gehört, dass es zwei Männer gab, die predigten und herumwanderten, wie ihr Meister es tat, aber er hatte sie nie zu Gesicht bekommen.

Forschend blickte er den Prokurator an: „Was gedenkst du mit ihnen zu tun?“

Der ganze Palast erbebte für einen kurzen Augenblick. Die Männer warfen einander erschrockene Blicke zu. Eine Vase war polternd zu Boden gefallen. Es gab zuweilen leichte Erdbeben, doch dieser Erdstoß war sehr heftig gewesen, und mit bangen Blicken überflogen sie Decken und Wände, ob Risse oder Spalten in den Mauern zu sehen waren.

Josef umklammerte seinen Sessel. Schwäche befiel ihn. Die Sorge und Anspannung wurden ihm jetzt erst so richtig bewusst. Jeden Moment konnten sie den Meister ergreifen und verurteilen, bevor er auch nur die geringste Maßnahme zu seiner Rettung ergreifen konnte.

Die gesamte Situation musste schnell zu einem Ende geführt werden, bevor das Schlimmste geschah.

Sie blickten einander stumm an. Es war, als hätten sie die gleichen Gedanken, ohne es auszusprechen.

Josef begann als erster: „Wer sind die Männer, die du da festhältst? Wessen haben sie sich schuldig gemacht?“

Pontius Pilatus rieb sich die Hände. Es war ihm unangenehm, zugeben zu müssen, dass er sie längst auf freien Fuß hätte setzen müssen.

„Nun, sie sind Prediger, eher unbedeutend.“ Er erzählte das Wenige, was er wusste.

Es gab in diesen Tagen viele, die öffentlich predigten und diskutierten.

Josef beugte sich vor. „Was denkst du? Wird einer von ihnen bereit sein, die Prophezeiung zu erfüllen, nach der alle lechzen?“

Der Prokurator schüttelte den Kopf. Ungläubig blickte er Josef an: „Was willst du damit sagen, mein Freund?“

Josef vergrub die Stirn in seinen Händen. Zu absurd war sein Gedanke, ein anderer könne die Stelle des Meisters einnehmen. Es war eine kühne Idee, noch dazu, wo ein völlig Unschuldiger, Unbeteiligter, das schwere Los auf sich nehmen sollte. Nur ein vom Wahn Getriebener würde so etwas freiwillig auf sich nehmen.

Sie diskutierten noch eine Weile über diesen Gedanken, als es leise an der Tür pochte. Der Leibdiener des Prokurators meldete den jungen Tribun aus der Palastgarde, der die Männer noch vor kurzem abgeführt hatte. Er hatte den Auftrag, sie gut zu behandeln und ihnen zu essen zu geben. Wenn er nun melden musste, dass der eine von beiden beinahe zu Tode gekommen war, konnte ihn das seinen Kopf kosten. Doch er musste Bericht erstatten, ehe jemand anderes dies tat. Denn dann wäre noch größerer Zorn auf ihn gefallen.

Mit stockender Stimme berichtete er, dass einer der beiden Gefangenen versucht habe, seinem Leben ein Ende zu setzen. Er habe sich die Adern aufgeschnitten und sei blutüberströmt gefunden worden. Der Wundarzt habe die Wunden versorgt und die Blutung zum Stillstand gebracht, doch der Gefangene sei nicht bereit, zu trinken oder zu sprechen.

Der junge Tribun erwartete eine heftige Schimpfkanonade, vielleicht seine völlige Degradierung, doch der Prokurator nickte nur stumm. Nichts von alledem geschah. Nervös blickte der Tribun sich um. Was ging hier vor?, so fragte er sich. Gefangene, die wie Gäste behandelt wurden und Selbstmordversuche unternahmen? Da gab es andere in den Zellen, denen dies eher nahezuliegen schien.

Nach einer Weile des Schweigens richtete Pontius Pilatus seinen Blick auf den Tribun. „Bring ihn her! Zuvor gebt ihm neue Kleider und reinigt ihn. Ich will mit ihm sprechen.“

Josef hatte still am Fenster gestanden, den Blick auf den Vorplatz gerichtet. Tauben hatten sich auf den Simsen und Mauervorsprüngen niedergelassen. Was für eine seltsame Wendung, so dachte er.

Wenig später klopfte es erneut, und der Größere der beiden Männer wurde hereingeführt. In seinem Blick lagen nun Angst und Misstrauen. Was hatten sie mit ihm vor? Er wurde zu einem der Sessel geführt und der Prokurator bat ihn höflich, Platz zu nehmen.

Zögernd folgte der Mann dieser Aufforderung. Er war innerlich zutiefst aufgewühlt und zornig. Warum hatten sie ihn nicht sterben lassen? Es war sein tiefster Wunsch, seinem Leben ein Ende zu bereiten. Er hatte die Zeichen gesehen, die ihm den Auftrag dazu gaben. Warum ließ man ihn nicht einfach in Ruhe?

Mit entschlossenem Blick und versteinerter Miene blickte er auf den Prokurator. Ein spöttisches Lächeln glitt über seinen Mund. Er war bereit zu sterben, was sollte ihn da noch erschrecken? Siegesgewiss und unantastbar fühlte er sich. Er würde sich für seine Aufgabe opfern.

Pontius Pilatus blickte unruhig auf den Mann. Er war nicht zimperlich mit Gefangenen, wenn sie verhört wurden. Doch dieser Mann jagte ihm Angst ein. Er war so stolz und unbeugsam und ähnelte dem Meister auf eine so erstaunliche Weise.

„Wir haben dir nichts vorzuwerfen. Du kannst diesen Raum als freier Mann verlassen. Du bist nicht der, den wir suchen, doch möchten wir dir einen Plan unterbreiten, der zu den Kühnsten und Bedeutsamsten zählt, die ich je erlebt habe, und ich frage dich, ob du dabei helfen willst?“

Josef war von seinem Platz am Fenster zurückgekehrt. Er setzte sich zu den beiden und faltete die Hände vor der Brust, wie er es immer tat, wenn er sich besonders bei seinen Ausführungen konzentrierte.

„Willst du für einen anderen am Kreuz sterben?“

Der Mann blickte neugierig auf. „Sterben? Ja, das will ich! Warum lasst ihr mich nicht einfach gehen, damit ich meinem Leben ein Ende setze?“

Josef holte weit aus. Er berichtete von den Hohepriestern, der Prophezeiung, den Häschern, der Gefangennahme und der Befreiung. Als er geendet hatte, leuchtete das Gesicht des Fremden. Er wirkte wie von einer tiefen Freude erfüllt. Er wusste nun, wozu sein Tod nutze war, was seine wahre Mission war.

Er sprang plötzlich auf, kniete zu Boden und bat den Prokurator, die Aufgabe übernehmen zu dürfen. Er umklammerte die Füße des Prokurators, der sich unbehaglich umblickte. Er hatte nicht mit dieser Reaktion gerechnet. Vorsichtig fasste er die Hände des Mannes, um sie von seinen Fesseln zu lösen, und schob ihn zurück auf seinen Stuhl.

„Wir werden zuvor die einzelnen Etappen des Prozesses mit dir besprechen und du sollst eine Nacht darüber nachdenken, bevor du einwilligst. Es ist wichtig für uns, dass du dir der genauen Folgen bewusst bist. Es ist eine Verurteilung und eine Vollstreckung des Urteils, sehr wahrscheinlich eine Kreuzigung. Wenn du auch morgen noch bereit bist, dies auf dich zu nehmen, werden wir dir alle Einzelheiten erklären. Bis dahin sollst du Gast in meinem Hause sein. Man wird dir Decken, Speisen und eine Zelle zuweisen. Du sollst bekommen, was du begehrst.“

Mit diesen Worten erhob er sich und gab dem Diener Anweisung, das Nötige in die Wege zu leiten.

Josefs Hände zitterten. Dieser Mann war besessen von der Idee, sich opfern zu müssen. Er war über diese Wendung erleichtert und schockiert zugleich. Sollten sie wirklich einen Unschuldigen diesen Weg gehen lassen?

Machten sie sich nicht selbst schuldig am Tod dieses Mannes? Gewissensbisse plagten ihn, jetzt, wo ihr Plan tatsächlich gelingen konnte.

Pilatus reichte ihm einen Becher Wein. Erleichterung schwang in seiner Stimme. Für ihn war in diesem Moment klar: Sie hatten die Lösung. Und auch wenn der Meister nach diesem Geschehen tatsächlich wieder auftauchte, sie würden ihm nicht glauben.


1 Römischer Titel des obersten Herrschers einer Provinz

2 Hebräische Bezeichnung für Galiläa, Gebiet im Norden des heutigen Israels. Zur Zeit von Jesus lagen Nazareth und der See von Genezareth als Orte des Schaffens von Jesus in Galiläa.

3 Oberste jüdische, religiöse und politische Instanz und gleichzeitig oberstes Gericht.

4 Procula, Claudia (nach der Legende die Tochter des römischen Kaisers Tiberius), Ehefrau des Pontius Pilatus..

Der andere Jesus

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